Zerbröselnde Mittelschicht

Der sozioökonomische Kollaps der USA

Irgendwann gelangen gesellschaftliche Prozesse an Kipppunkte, bei deren Überschreiten eine quantitative Entwicklung in eine neue Qualität umschlägt. Eine solche Umbruchsituation könnte in den Vereinigten Staaten Ende Mai erreicht worden sein, als der mutmaßliche Polizistenmord an dem Afroamerikaner George Floyd in Minneapolis einen weite Teile des Landes erfasseden Aufstand zur Folge hatte. Der allgegenwärtige Rassismus in der Trump-Ära, die ausartende Willkür des mit immer neuen Machtmitteln ausgestatteten Polizeiapparates, die zunehmende Verelendung einer ohnehin verarmenden Gesellschaft – diese Faktoren führten zur gesellschaftlichen Explosion. Der Tod von George Floyd bildete nur den berühmten letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Die blanke Verzweiflung, die in vielen US-Bundessaaten bei den gewalttätigen Protesten zum Ausdruck kommt, wird vor dem Hintergrund der aktuellen, durch die Corona-Pandemie initiierte Wirtschaftskrise verständlich. Viele US-Bürger haben buchstäblich nichts mehr zu verlieren. Das Elend, das mit dem Ausbruch des jüngsten globalen Krisenschubs in den Vereinigten Staaten um sich greift, lässt sich am raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit zwischen New York und Los Angeles zumindest erahnen. Im Zeitraum zwischen Mitte März und Ende Mai verloren rund 40 Millionen Lohnabhängige in den USA ihre Arbeit. Dies ist ein Anstieg der Erwerbslosenzahl, der keine Parallele hat seit der Einführung der entsprechenden Statistik in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Parallelen zum großen Verelendungsschub während Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre sind deutlich.

Die offizielle Arbeitslosenquote ist von 4,4 Prozent im März auf 14,7 Prozent im April hochgeschnellt, wobei diese Zahlen in den USA – wie auch in anderen Industrieländern – ohnehin stark geschönt sind. Das alternative statistische Portal shadowstats schätzt, dass die reelle Arbeitslosenquote bei rund einem Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt. Selbst die als U6 bezeichnete, breite Erfassungsmethode der Erwerbslosigkeit kommt auf eine Arbeitslosenrate von rund 22,8 Prozent im April. Schon jetzt sind die Höchstwerte während der Wirtschaftskrise nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblasen von 2008 überschritten. 2010 stieg die U6-Rate der Erwerbslosen auf rund 16 Prozent, die massenmedial immer wieder kolportierte, „enge“ Definition von Arbeitslosigkeit (U3) pendelte damals bei rund 10 Zählern.

Von diesem Krisenschub sind besonders stark eben diejenigen ökonomisch ohnehin benachteiligten Minderheiten betroffen, die immer wieder Ziel rassistischer Übergriffe und Repressalien der Polizeikräfte werden. Bei einer durchschnittlichen US-Arbeitslosenrate von 14,7 Prozent sind 16,7 Prozent aller Afroamerikaner und sogar 18,9 Prozent der Latinos in den Vereinigten Staaten als arbeitslos gemeldet. Rassismus hat immer ein ökonomisches Fundament. Es sind gerade die schlecht bezahlten, prekären Arbeitsverhältnisse, in die diskriminierte Minderheiten abgedrängt werden – und gerade die mies bezahlten Jobs verschwinden im Rekordtempo während der „Corona-Rezession“. Frauen sind überdurchschnittlich oft von Entlassungen betroffen. Rund 55 Prozent der seit März entlassenen Lohnabhängigen waren Frauen.

Diejenigen Lohnabhängigen, die am untersten Ende der amerikanischen Einkommenspyramide ums Überleben kämpfen, wurden in diesem Krisenschub am härtesten getroffen. Allein im März haben 40 Prozent der Haushalte, die weniger als 40.000 US-Dollar jährlich verdienen, einen Job verloren. Inzwischen sind immer mehr Menschen nicht mehr in der Lage, selbst essenzielle Bedürfnisse wie Nahrung zu befriedigen – und 20 Prozent aller Haushalte in den Vereinigten Staaten leiden unter sogenannter Nahrungsmittelunsicherheit. Die Lebensmittelbanken des Landes brachen im April und Mai wochenlang unter einem regelrechten Ansturm neuer Hilfe suchender Menschen zusammen, die mitunter tage- und nächtelang zu Zehntausenden auf ihre Lebensmittelpakete warten mussten. Gleichzeitig wurde in der US-amerikanischen Agrarindustrie eine gigantische Lebensmittelvernichtung gestartet, um dem infolge der Rezession einsetzenden Nachfragekollaps zu begegnen und einen allzu großen Preisverfall zu verhindern.

Es ist, als ob die Fundamente der ohnehin morschen, kapitalistischen Arbeitsgesellschaft in den Vereinigten Staaten binnen kürzester Zeit kollabieren würden. Hinzu kommt, dass auch in den gegenwärtigen Zeiten der Pandemie rund 28 Millionen US-Bürger über keinerlei Krankenversicherung verfügen. Die Republikaner und auch die neoliberale Fraktion der Demokraten um den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden lehnen weiterhin die Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung vehement ab. Zugleich verschärft sich die Spaltung der Gesellschaft; der Reichtum der US-Oligarchie wächst ins Unermessliche, Absurde. Seit dem Beginn des „Lockdown“ Mitte März vermehrten Amerikas Milliardäre ihren Reichtum um 434 Milliarden US-Dollar.

Die Deindustrialisierung der USA in den vergangenen Dekaden ließ eine prekäre, von Elendslöhnen dominierte Dienstleistungswirtschaft einstehen, die immer labiler erscheint – wenn sie denn nicht nun schlicht zusammenbricht. Somit hat sich schon vor dem gegenwärtigen Krisenschub die Sozialstruktur der amerikanischen Lohnabhängigen grundlegend gewandelt. Die einstmals breite US-Mittelschicht wird gerade zu einer gesellschaftlichen Minderheit, die von der Unterschicht als der wahren, neuen elendigen „Mitte“ der Gesellschaft verdrängt wird. Erst aus längerfristiger Perspektive wird dieser sozialökonomische Umbruch vollauf evident. Laut Studien ging der Anteil der US-Bürger, die sich als Teil der Mittelklasse ansahen, von 53 Prozent im Jahr 2008 auf nur noch 44 Prozent anno 2014 zurück. Die Selbsteinschätzung als Unterklasse nahm im selben Zeitraum von 25 Prozent auf rund 40 Prozent zu. Der gegenwärtige Wirtschaftseinbruch dürfte diese Pauperisierung der USA noch deutlich verstärken, da die gegenwärtige „Corona-Krise“ auf eine verarmende Gesellschaft trifft.

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