Corona in Mexiko

Lockerungen auf dem Höhepunkt der Pandemie

Seit Anfang Juni versucht Mexiko, den Weg in die „neue Normalität“, wie es offiziell heißt. Die Lockerungsmaßnahmen nach zweieinhalb Monaten Lockdown sind nach einem rot-orange-gelb-grünen Ampelsystem organisiert. Vor allem die Privatwirtschaft drängt. Doch noch am 31. Mai stand die Ampel landesweit auf Rot. In einigen Regionen wird der Höhepunkt der Covid-19-Pandemie für Juli oder Anfang August erwartet. Ein Kollaps von Gesundheitssystem und Wirtschaft ist, von lokalen Ausnahmen abgesehen, ausgeblieben. Ausgeschlossen ist er nicht. Am 1. Juni gab es mehr als 10.000 eingestandene Covid-Todesfälle. Bei offiziell etwa 95.000 Infizierten wäre das eine extrem hohe Letalitätsrate. Getestet wird praktisch nur bei begründeten Verdachtsfällen. Selbst das mexikanische Gesundheitsministerium multipliziert mit mindestens dem Faktor 8, um die tatsächlich Infizierten zu schätzen.

Mexikos öffentliches Gesundheitssystem verfiel jahrelang und weist bei Ärzteschaft und Pflegepersonal eine massive personelle Unterbesetzung von etwa 200 000 Stellen auf. Die medizinische Versorgung ist von einer Zweiklassen-Gesellschaft geprägt. Die Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador (Amlo) hatte umfangreiche Reformen zur Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems geplant. Nun zwingt das Corona-Virus zu einem Wettlauf gegen die Zeit: ständige Ausweitung der Intensivbettenkapazitäten, Kauf von international knappen Beatmungsgeräten sowie Schutzkleidung und allgemeiner medizinischer Ausstattung. Neueinstellung Tausender Ärztinnen, Ärzte und Pflegepersonal, Bau zusätzlicher provisorischer Krankenhäuser. Eine Auswirkung der Defizite: Ungefähr 20 Prozent aller Infizierten gehören dem Gesundheitssektor an. Zu allem Überfluss ist es in einer Mischung aus Ignoranz und Panik mehrfach zu Attacken (z.B. mit Reinigungsmitteln wie Chlor) und Diskriminierungen (Hausverbote) gegen Gesundheitspersonal gekommen.

Von Anfang an stand die mexikanische Regierung vor einem Dilemma: Die Schulschließungen im März konnten einfach verfügt werden. Aber die Empfehlungen zur sozialen Distanzierung, zum „Bleib zu Hause“, zeigten angesichts der ökonomischen Situation der Bevölkerung sehr unterschiedliche Wirkung. Zwangsmaßnahmen, das erkannte die Regierung, machen wenig Sinn. Nahezu 60 Prozent der mexikanischen Erwerbsbevölkerung arbeiten im informellen Sektor. Viele leben von der Hand in den Mund. Betriebe, die eigentlich geschlossen sein sollten, arbeiten zum Teil illegal weiter. Hinweise darauf kommen oft von Beschäftigten, die vor die Wahl gestellt werden, am Arbeitsplatz zu erscheinen oder entlassen zu werden.

Während in reichen Stadtteilen wie dem Viertel Coyoacán in Mexiko-Stadt die Straßen wie leergefegt waren, herrschte in Vorstädten wie Chalco oder Nezahualcoyotl reges Treiben. Die Wochenzeitschrift proceso veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 5. April das Foto eines Plakates an einem Orangenstand: „Geschätzter Kunde. Wir informieren Sie, dass wir solange arbeiten werden, bis der Corona-Virus uns umbringt.“

Präsident López Obrador sprach im Mai von 1 Million verloren gegangener Arbeitsplätze im Zuge der Pandemie. Eine optimistische Schätzung. Arbeitslosengeld gibt es nicht. Immer mehr Menschen machen von der Möglichkeit Gebrauch, vorzeitig Geld von ihren Rentenkonten abzuziehen. Das Bruttoinlandsprodukt wird 2020 um 7 bis 10 Prozent schrumpfen. Für die prekäre Situation ist die aktuelle Regierung nur sehr bedingt verantwortlich. Aber Amlo begann spät und in ganz kleinen Schritten, von seinem Fetisch Austeritätspolitik und schwarze Haushaltsnull abzurücken. Bei dieser Linie bleibt er. Er weigert sich zu Recht, Rettungspakete für Großunternehmen zu schnüren. Doch auch bei der Unterstützung der vielen kleinen und mittleren Unternehmen mit Krediten erweist er sich als recht knausrig. Statt mehr auszugeben, ordnet der Präsident seinen Ministerien an, noch mehr zu sparen. Seine „republikanische Austerität“, wie er sie gegenüber den neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen gerne abgrenzt, wird Spöttern zufolge immer mehr zur „franziskanischen Austerität“. Nur die Sozialprogramme tastet er nicht an. Eine strukturelle Umverteilung gibt es nicht. Gleichzeitig besteht López Obrador auf einigen wenigen Großprojekten wie dem Bau einer Ölraffinerie im Bundesstaat Tabasco, dem Infrastrukturprogramm für den Isthmus von Tehuantepec und dem sogenannten Maya-Zug auf der Halbinsel Yucatán, eine 1525 Kilometer langes Eisenbahnprojekt, primär für touristische Zwecke.

Entgegen allen Prognosen sind die Rücküberweisungen der in den USA lebenden Mexikanerinnen und Mexikaner noch nicht eingebrochen. Im März stiegen sie sogar auf über 4 Milliarden US-Dollar sprunghaft. Wegen der Abwertung des mexikanischen Peso um zeitweise 25 Prozent konnten viele Familien damit fehlendes Einkommen ausgleichen. Ein härteres Vorgehen der Steuerbehörden gegen Steuerrückstände und Steuervermeidung der internationalen und nationalen Konzerne verhalf der Regierung in den ersten Monaten 2020 zu unerwarteten milliardenschweren Mehreinnahmen. Doch dies sind möglicherweise Ein-
maleffekte. Das mexikanische Großkapital liegt angesichts sinkender Popularitätswerte des Präsidenten politisch in Lauerstellung. In Abwesenheit einer ernsthaften Parteienopposition hält sich Gustavo de Hoyos, Vorsitzender des Unternehmerdachverbandes Coparmex, für zunehmend befugt, dieses Vakuum auszufüllen. Diese Konfrontation wird in den folgenden Monaten eine spannende Angelegenheit werden.

Gerold Schmidt lebt in Mexiko Stadt. Er ist seit Lunapark21-Gründung 2008 Teil des Projekt-Teams.

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