Mexikanische Energiereform gibt industrieller Ressourcenausbeutung absoluten Vorrang vor landwirtschaftlicher Bodennutzung
Gerold Schmidt. Lunapark21 – Heft 27
Das Jahr 2014 wurde von der Welternährungsorganisation FAO zum Internationalen Jahr der familienbetriebenen Landwirtschaft ernannt. In Mexiko dagegen könnte 2014 als Jahr in Erinnerung bleiben, in dem für weite Teile der kleinbäuerlichen und indigenen Landwirtschaft das endgültige Ende eingeläutet wurde. Grund sind die verschiedenen Ausführungsgesetze der mexikanischen Energiereform. Ihr Initiator, Präsident Enrique Peña Nieto, verkündete sie am 11. August. Die Gesetze bedeuten mit der endgültigen und umfassenden Öffnung des Energiesektors für die nationale und vor allem internationale Privatwirtschaft nicht nur eine Zäsur der mexikanischen Energiepolitik seit 1938, als die Ölindustrie verstaatlicht wurde. Sie geben zudem der industriellen Ressourcenausbeutung im Bergbau, im Bereich der Gas- und Erdölförderung, der Stromproduktion sowie beim Transport der Energieträger absoluten Vorrang vor der landwirtschaftlichen Nutzung der Böden. Das wird schwerwiegende Auswirkungen auf die fast 32000 Agrargemeinden in Mexiko und die etwa 28 Millionen Menschen zählende Landbevölkerung haben.
Wie eine Dampfwalze ging die Parlamentsmehrheit im mexikanischen Senat und Abgeordnetenhaus in den vergangenen Wochen über alle Einwände vieler Bauernorganisationen und oppositioneller Abgeordneter hinweg. Ein Bestandteil der neuen Gesetzgebung ist es, praktisch jegliche Art von Extraktivismus (Bodenausbeutung) als von „öffentlichem Nutzen” und „gesellschaftlichem Interesse“ zu erklären. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Förderung von – oftmals ausländischen – Privatkonzernen durchgeführt wird, wie dies bereits jetzt im Bergbau der Fall ist.
Dazu kommt das in verschiedene Ausführungsgesetze aufgenommene Konzept der „Dienstbarkeit“, historisch abgeleitet vom Wegerecht. In der Praxis bedeutet dies: Ejidos (gemeinschaftlicher Grundbesitz), indigene Landgemeinden sowie Privateigentümer müssen ihr Land nicht nur dann zur Verfügung stellen, wenn sich unter ihrem Boden fossile Brennstoffe oder wertvolle Minerale befinden. Auch für den Bau von Anlagen, Pipelines und Stromtrassen gilt diese „Dienstbarkeit“. Die bohrenden und fördernden Unternehmen sollen zudem bevorzugten Zugang zu den in weiten Teilen Mexikos immer knapper werdenden Wasserreserven haben. Das ist besonders wichtig, weil diese Gesetze auch dem Fracking mit seinem enormen Wasserverbrauch den Weg ebnen. Auf Empfehlung des Energieministeriums kann der mexikanische Präsident sogenannte Schutzzonen bestimmen. Dabei handelt es sich nicht um den Schutz der Natur, sondern um Zonen, in denen der Förderung von fossilen Brennstoffen, Erdwärme, Wasser, Mineralen oder Gas ganz besondere Priorität gilt. Der Präsident kann auch Gebiete zu Schutzzonen erklären, in denen Elektrizitätswerke, Gasleitungen, Schaltstationen und sonstige Infrastruktur vorgesehen sind.
Lautete vor gut einem Jahrhundert der Wahlspruch des berühmten mexikanischen Revolutionshelden Emiliano Zapata „Das Land gehört dem, der es bearbeitet“ gelte nun, „Das Land gehört dem, der es durchlöchert“, bilanziert der ehemalige Politiker und Agrarexperte Victor Quintana bitter. Den Landbesitzern und Agrargemeinden bleiben angesichts des Vorranges für die Energieunternehmen nur begrenzte Möglichkeiten: der Verkauf, die Pacht oder eine andere Art der Vergütung. Die kann gemäß der neuen Gesetze zum Beispiel in Sachleistungen, Beschäftigungsverträgen oder einem Infrastrukturprojekt für die Gemeinde bestehen. Bisherige Erfahrungen mit Bergbau- und Windkraftkonzernen lassen nichts Gutes ahnen.
Wer sich dem Ansinnen der Unternehmen verweigert und in Verhandlungen mit ihnen zu keinem Ergebnis kommt, der muss im Namen des „öffentlichen Nutzens“ mit der „vorübergehenden Inbesitznahme“ seiner Böden rechnen. Ursprünglich gaben die neuen Gesetzesentwürfe bei fehlender Einigung dem Energieministerium sogar die Kompetenz, Land innerhalb von zehn Tagen gegen eine offiziell festgelegte Entschädigung zu enteignen. Hier machte die Parlamentsmehrheit einen kleinen Rückzieher, der de facto kaum einen Unterschied ausmacht. Die vorübergehende Inbesitznahme ist zeitlich nicht begrenzt. Das gibt die Möglichkeit, die Bodenschätze so lange auszubeuten, bis eine Förderung nicht mehr gewinnträchtig ist. Am Ende erhalten die formalen Besitzer möglicherweise eine zerstörte Landschaft mit kontaminierten Böden zurück, auf denen Nahrungsmittelanbau nicht mehr praktikabel ist.
Kritische Juristen sehen im Konzept der Inbesitznahme eine faktische Enteignung und damit eine mögliche Verletzung des Verfassungsartikels 27, der in seiner aktuellen Fassung die Ejidos noch besonders schützt. Im Namen des gesellschaftlichen und öffentlichen Interesses müssten sie nun ihre Böden für ein Interesse zur Verfügung stellen, das in der Realität ein rein unternehmerisches und durch und durch privates sei. Da muten Erklärungen wie die von David Penchyna, dem Vorsitzenden der Energiekommission des Senates, eher zynisch an: Es werde kein Eigentumsrecht verletzt, denn die Energieressourcen im Untergrund gehörten allen Mexikanern.
Die indigenen Gemeinden haben nach internationaler und nationaler Rechtsprechung ein Anrecht auf eine vorherige Befragung, wenn ihr Territorium durch externe Maßnahmen beeinträchtigt wird. Doch sollten sie mit einem Nein die Nutzungsänderung ihrer Böden ablehnen, ist das nicht verbindlich. Der frühere UN-Sonderberichterstatter für die Rechte der indigenen Völker, der Mexikaner Rodolfo Stavenhagen, kommentiert bezüglich der Reformen: „Mexiko zeigt den internationalen Abkommen mit der Energiereform die kalte Schulter.“ Das Ansinnen von Privatinteressen, die Kontrolle über die Ressourcen der indigenen Gemeinden zu bekommen, sei „eine Neokolonisierung des Territoriums der Ursprungsvölker“.
Grundsätzlich gelten die Bedingungen der Energiereform für alle kollektiven und privaten Landbesitzer gleichermaßen. Doch die Machtverhältnisse sind asymmetrisch. So schlossen sich beispielsweise im Norden mehrere große Viehzüchterverbände zusammen und beauftragten eine Anwaltskanzlei, sich auf Verhandlungen mit den Konzernen über Pacht, Entschädigungszahlungen und Gewinnbeteiligungen vorzubereiten. Sie sehen die vermuteten Gasvorkommen unter ihren Böden als eine Geschäftschance. Doch die Millionen Kleinbauern, die in Ejidos oder in indigenen Gemeinden leben, die oft durch massive Migration bereits geschwächt sind, können kaum eine nennenswerte Verhandlungsmacht an den Tisch bringen. Wenn die vorübergehende Inbesitznahme ihres Landes eine weitere landwirtschaftliche Nutzung unmöglich macht, haben sie wenige Optionen. Von Kleinbauern zu Knechten, so die düstere Vision. In den Regionen, in denen das Fracking enorme Wassermengen verbrauchen wird, müssen selbst die größeren landwirtschaftlichen Produzenten mit Bewässerungsfeldbau um ihre Zukunft fürchten.
Bauernorganisationen gehen davon aus, dass mindestens die Hälfte der mexikanischen Agrargemeinden von der Energiereform direkt betroffen sein wird. Am Ende könnte es eine neue Großgrundbesitzerklasse geben, fürchten sie: die nationalen und internationalen Energiekonzerne. Mexikos Präsident Peña Nieto verkauft die Energiereform dagegen als historische Chance. Schon vor einem Jahr versprach er bei ihrer Verwirklichung eine höhere Lebensqualität für alle Mexikaner und mehr Geld in den Taschen der Familien. Allerdings: Es sei schwer, die Dimension seiner Reform zu verstehen, so Peña Nieto vor wenigen Wochen. Die ganze Dimension wird sich tatsächlich erst noch zeigen. Ausgerechnet Kaliforniens Gouverneur Jerry Brown riet den mexikanischen Parlamentariern kurz vor Schluss und ungehört zu strengen Regeln für die Großkonzerne. Diese würden Mexiko sonst nach allen Regeln der Kunst ausnehmen. Doch genau dafür haben ihnen Präsident und Abgeordnete buchstäblich den Boden bereitet.
Gerold Schmidt ist nun seit 21 Jahren ein Wanderer zwischen mexikanischen und deutschen Welten. Er arbeitet mit dem Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (Ceccam) in Mexiko-Stadt zusammen und wird vielleicht nochmal zum Kleinbauern zwischen Ölfeldern, Stromtrassen und durchlöcherter Erde – trotz alledem.
Ejidos und indigene Agrargemeinden: Kollektiveigentum in Mexiko
Nach der mexikanischen Revolution von 1910 wurde 1917 eine völlig neue Verfassung verabschiedet. Für die Landbevölkerung war der Artikel 27 der Verfassung entscheidend. Er bestimmte die Aufteilung des Großgrundbesitzes und die Zuteilung von Boden an vertriebene oder landlose Bauern innerhalb neu zu schaffender Agrargemeinschaften, den sogenannten Ejidos. Außerdem sollten die kollektiven Landrechte der indigenen Agrargemeinden respektiert beziehungsweise wiederhergestellt werden. Der Prozess der Land(um)verteilung zog sich über Jahrzehnte hin. 1992 wurde er für abgeschlossen erklärt. Nach offiziellen Angaben existierten 2013 genau 31893 Agrargemeinschaften, davon 29533 Ejidos und 2360 Agrargemeinden. Sie verfügen über einen kollektiven Landbesitz von mehr als 100 Millionen Hektar – mehr als die Hälfte des mexikanischen Territoriums von 196 Millionen Hektar. Innerhalb des Ejidos sind 65 Prozent des Bodens für die gemeinsame Nutzung bestimmt, 32 Prozent des Landes ist in individuell genutzte Parzellen aufgeteilt, die restlichen 3 Prozent stehen für Wohnbebauung zur Verfügung. Der überwiegenden Mehrheit der heute etwa fünf Millionen Ejido-Bauern ist eine Parzelle von weniger als 5 Hektar zugeteilt. Drei wichtige Schutzprinzipien galten bis 1992 für das Ejido-Land: unveräußerbar, unverpfändbar, unübertragbar. Sie wurden durch die Reform des Verfassungsartikels 27 stark aufgeweicht. Die Privatisierung von Ejido-Land ist seitdem unter bestimmten Bedingungen möglich. Anders als von der Regierung erwartet, hält die große Mehrheit der Kleinbauern an ihren Ejidos fest.