Die Corona-Krise wird zur Euro-Krise

Das neue 500-Milliarden-Euro-Hilfspaket reicht nicht als Kitt. Und es wird weiter eingedampft von den „geizigen Vier“

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht? Angesichts der jüngsten deutsch-französischen Initiative zur Schaffung eines EU-Krisenfonds geriet beiderseits des Rheingrabens das Attribut „historisch“ – mal wieder – in inflationären Gebrauch. Von der ewigen Kanzlernachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer bis zum französischen Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire war man sich einig, dass mit dem 500 Euro umfassenden „Corona-Hilfspaket“ (Süddeutsche Zeitung) in Europa eine neue Ära anbrechen werde. Auf einer gemeinsamen Videokonferenz von Angela Merkel und Emanuel Macron vorgestellt, sieht das Konzept faktisch eine massive Ausweitung des Brüsseler Haushalts vor.

Die EU-Kommission soll Anleihen im Umfang von rund 500 Milliarden Euro aufnehmen, um über den Zeitraum von drei Jahren europaweit neue Konjunkturprogramme zu finanzieren (die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen griff dieses Vorhaben wenige Tage später auf, um Ende Mai ein „Wiederaufbauprogramm“ von 750 Milliarden Euro zu fordern, bei dem 500 Milliarden als nicht rückzahlbare Zuwendungen anvisiert werden).

Zum Vergleich: Bislang stand ein EU-Haushalt in der Diskussion, der von 2021 an mit rund 150 Milliarden Euro jährlich ausgestatteten werden sollte. Die zusätzlichen Gelder würden diesen kurzzeitig mehr als verdoppeln. Ein Novum bildet hierbei die Finanzierung dieses Unterfangens über europäische, von der Kommission auszugebende Anleihen, da dies letztendlich auf Einführung europäischer Schuldtitel hinausläuft, die bislang von Berlin – etwa bei der Debatte um Eurobonds – als eine „Vergemeinschaftung von Schulden“ strikt abgelehnt wurden.

Den maßgebenden Anstoß zu diesem plötzlichen Sinneswandel Berlins, bei dem ein langjähriges europapolitisches Tabu gebrochen wurde, dürfte ein umstrittenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts geliefert haben. Karlsruhe entschied Anfang Mai de facto, dass die Anleihekäufe der EZB gegen das deutsche Grundgesetz verstießen. Die Verfassungsrichter forderten die Bundesbank auf, sich binnen dreier Monate aus dem entsprechenden Anleihekaufprogramm der EZB zurückzuziehen.

Berlin wiederum wurde dazu angehalten, künftig alle Anleihekäufe der EZB auf ihre, so wörtlich, „Verhältnismäßigkeit“ zu prüfen und letztendlich ein exklusives Vetorecht bei europäischer Geldpolitik auszuüben. Damit wurde eine Sprengladung an die instabile Eurozone gelegt, da hier der Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Recht gebrochen wurde.

Sprengstoff aus Karlsruhe

Der Rechte, national gesinnte Flügel der CDU sprang auf diesen Zug prompt auf, um das Karlsruher Urteil dahingehend zu interpretieren, dass „EU-Recht nicht immer und nicht uneingeschränkt“ gelte, wie es auf der Webpräsenz der „Werteunion“ heißt. Entscheidend ist aber die wirtschaftspolitische Sprengladung, die Karlsruhe platziert hat. Die exzessiven, in die Billionen gehenden Aufkäufe von Anleihen durch die europäische Notenbank bilden den einzigen Mechanismus, der die zunehmenden ökonomischen Ungleichgewichte in der Eurozone abmildert.

Zum Hintergrund: Die Eurozone wurde in Reaktion auf die Wiedervereinigung als ein neoliberales Projekt geformt, bei dem – vor allem auf Betreiben Berlins – keine Ausgleichsmechanismen für die Unterschiede bei der Produktivität, den Sozialstandards oder dem Lohnniveau der Euroländer eingebaut wurden. Folglich setzte sich die Konkurrenzdynamik, vermittels des üblichen „Wettlaufs nach unten“ bei Löhnen und Sozialleistungen, im Währungsraum ungehindert durch (Stichwort Agenda 2010), während die Ungleichgewichte bei den Handelsbilanzen extrem zunahmen. Die deutsche Exportindustrie profitierte nicht nur von dem strukturell unterbewerteten Euro, sondern auch von den Handelsüberschüssen gegenüber dem übrigen Euroraum, die sich seit dessen Gründung inzwischen auf rund 1,5 Billionen Euro summieren.

Der Aufstieg der Bundesrepublik zur dominanten politischen Macht in Europa fußt auf eben dieser ökonomischen Grundlage einer Beggar-thy-Neighbour-Politik, bei der den deutschen Überschüssen die damit korrespondierenden Schuldenberge der meisten anderen Euro-Zonen-Mitglieder gegenüberstehen.

„Europa“ war somit für die exportorientierte Bundesrepublik ein Erfolgsmodell, was man in Italien, Spanien oder Hellas nicht gerade behaupten würde. Die Kulminationspunkte dieses sozioökonomischen Auseinanderdriftens zwischen dem Norden und Süden der Eurozone bilden die immer heftigeren Krisen, die das kapitalistische Weltsystem erschüttern – wie etwa den Krisenschub 2008. Dabei formulierte Brüssel gerade keine konsistente Krisenpolitik. Die Reaktion „Europas“ auf die Krise war Ausdruck der im Währungsraum bestehenden politischen Machtverhältnisse. Aufgrund der dominanten ökonomischen Stellung der Bundesrepublik konnte der damalige Finanzminister Schäuble den europäischen Krisenstaaten ein verheerendes Spardiktat oktroyieren, von dem sich Länder wie Griechenland nie mehr erholten konnten. Die EZB, damals unter Kontrolle Mario Draghis, ging wiederum daran, durch umfassende Anleihekäufe die Zinslast des krisengebeutelten Südens abzusenken. Die europäischen Währungshüter halten beispielsweise italienische Anleihen im Wert von 370 Milliarden Euro, was in etwa 18 Prozent des Gesamtvolumens italienischer Bonds entspricht. Aus dieser nationalen Machtkonstellationen innerhalb der Eurozone ergibt sich somit die merkwürdige europäische Krisenpolitik nach 2008, bei der ein knallhartes Spardiktat und extreme Gelddruckerei Hand-in Hand gehen.

Austerität und Geldschwemme

Der Norden blockt Konjunkturpolitik, der Süden lässt Geld drucken, um über die Runden zu kommen – diese Konstellation schien sich auch bei dem jetzigen Krisenschub zu wiederholen, als es Merkel Mitte April fertigbrachte, alle Forderungen des Südens nach Eurobonds – diesmal in „Corona-Bonds“ umgetauft – abzuschmettern, während bei der EZB unter Lagarde die Geldschleusen geöffnet wurden, um die Zinsen niedrig zu halten angesichts der krisenbedingt zunehmenden Schuldenaufnahme. Das Urteil des Verfassungsgerichts droht nun, diesen geldpolitischen Ausgleichsmechanismus, von dem die südliche Peripherie der Eurozone profitiert, zu kappen, was angesichts der ungeheuren Krisendynamik den Währungsraum sprengen würde: Während die Bundesregierung das größte Konjunkturpaket aller Zeiten auflegte und alle europäischen Konjunkturmaßnahmen abblockte, griff Karlsruhe die Gelddruckerei der EZB frontal an.

Diese Politik ist somit in diesem Fall nicht nur Ausdruck der nationalstaatlichen Machtkonstellation innerhalb der EU, sondern auch der entsprechenden Auseinandersetzungen innerhalb der Funktionseliten der Bundesrepublik, wo die alten, neoliberalen Kräfte sich mit „neo-nationalen“ Strömungen konfrontiert sehen, für die das Projekt EU keine Priorität mehr darstellt. Gerade in Reaktion auf den Richterspruch von Karlsruhe starteten Merkel und Macron ihre Integrationsoffensive.

Letztendlich ist es ein Kosten-Nutzen-Kalkül, das den europapolitischen Auseinandersetzungen in allen Eurostaaten zugrunde liegt. Die nun anstehenden Kosten der Krisenbewältigung in der EU werden dem Nutzen gegenübergestellt. Für die südlichen Euroländer besteht dieser Nutzen einzig in dem vom Wirtschaftspotenzial der BRD gedeckten Euro, der dank der EZB ihnen in der Krise – noch! – eben jene günstige Kreditaufnahme ermöglicht, die vielen am Rand der Staatspleite taumelnden Schwellenländern nicht gegeben ist. Für die Bundesrepublik geht es um die Abwägung zwischen einerseits den Kosten, die zur Aufrechterhaltung der Eurozone aufzubringen sind, gegen andererseits die Vorteile des Euro, die mit diesem als Exporttreiber, Investitionsraum und Absatzmarkt verbunden sind. Hinzu kommen auch globale Ambitionen, bei denen die EU als ein großer Machtblock neben den USA und China etabliert würde.

Der Verweis auf China, das zunehmend als Konkurrent Berlins – etwa in Südosteuropa – wahrgenommen wird, fehlt in den Debatten um die europäischen Corona-Programme ebenso wenig, wie die Mahnungen zur Aufrechterhaltung der globalen Handlungsfähigkeit der EU, mit der meistens der Aufbau eines militärischen Interventionsapparates gemeint ist. Dahingehend ist auch Angela Merkels Bemerkung zu interpretieren, der Euro müsse international „mehr Gewicht“ haben. Mit der Krise tritt somit der grundlegende Widerspruch in der EU offen zutage: Die Krise lässt die Konkurrenz zwischen den Staaten als „Wirtschaftsstandorte“ eskalieren und bedroht somit akut den Fortbestand der Eurozone. Krise wird immer auch als „Chance“ gesehen, um in der kapitalistischen Staatenkonkurrenz Boden gutzumachen.

Auf Italien kommt es an

Krisenzeiten sind Umbruchszeiten; dies wurde bereits bei der Krise 2008 deutlich, als Berlin den Widerstand gegen das Schäublerische Austeritätsregime, etwa durch die Linksregierung in Hellas, im Sommer 2015 brechen konnte. Die Eurozone befindet sich im aktuellen Krisenschub abermals am Scheideweg. Dieses Mal geht es nicht nur um den Fortbestand einzelner Eurostaaten im Währungsraum, sondern um den Fortbestand dieses Währungsraumes als Ganzes. Offen bleibt die Frage, ob „Europa“ der sich entfaltenden Krise noch mit einem abermaligen Integrationsschub entgegenstemmt, oder ob die zunehmenden innereuropäischen Widersprüche angesichts der ungeheuren, historisch beispiellosen Wucht des Krisenschubs den Währungsraum endgültig sprengen.

Die reaktionären, nationalen Kräfte in der EU könnten sich bei einem besonders harten Krisenverlauf durchsetzen und einen katastrophalen Desintegrationsprozess auslösen, der durchaus Parallelen zum Zerfall der Sowjetunion aufweisen könnte. Entscheidend wird das Verhältnis zwischen der Tiefe des einsetzenden konjunkturellen Falls und den wirtschaftspolitischen Gegenmaßnahmen, auf die sich die EU im ewigen nationalen Machtpoker verständigen wird, sein. Prognosen gehen von einem Konjunktureinbruch von 7,4 Prozent in diesem Jahr aus, wobei die von der Pandemie besonders getroffenen südlichen Eurostaaten sich in einer dramatischen sozioökonomischen Lage befinden. Italien, das in der Dekade seit der ersten Eurokrise in Stagnation verharrte, gilt als der größte potenzielle Brandherd Europas. Das Land ist bereits mit rund 130 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet, während die Wirtschaft südlich der Alpen heuer um rund 11 Prozent einbrechen soll. Schätzungen zufolge würde die Verschuldung infolge dessen auf mehr als 150 Prozent des BIP anschwellen. Das wären dann griechische Verhältnisse. Bei Italien handelt es sich aber um die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, die nicht mehr einer Schäublerischen Sonderbehandlung unterzogen werden kann, wie einstmals das kleine Griechenland.

Abgekartet: Die geizigen Vier

Der Umfang des Europäischen „Wiederaufbauplans“ von Merkel und Macron dürfte somit kaum ausreichen, um dieser dramatischen Krisendynamik wirkungsvoll zu begegnen – er ist niedriger angesetzt als die Krisenmaßnahmen, die Berlin beschloss (156 Milliarden Neuverschuldung für direkte Konjunkturmaßnahmen und 600 Milliarden an Garantien für die Wirtschaft). Ursprünglich forderten südeuropäische Staaten und Frankreich einen weitaus höheren Betrag für den Wiederaufbaufonds, der rund 1,5 Billionen Euro umfassen sollte. Tatsache ist jedoch auch, dass nach dem üblichen europäischen Machtpoker nur noch ein Teil dieser Summe tatsächlich für Konjunkturpolitik mobilisiert werden wird. Kurz nach der öffentlichen Vorstellung des Macron-Merkel-Plans meldeten sich Staaten des nordeuropäischen Zentrums zu Wort, die ihre Opposition zu dem Vorhaben ankündigten. Diese „sparsamen Vier“ aus Österreich, Schweden, Dänemark und den Niederlanden – auch zu Recht als die „geizigen Vier“ tituliert – treiben dabei das übliche taktische Spielchen mit Berlin, bei dem der Widerstand dieser Staaten genutzt wird, um die Gelder zusammenzustreichen, wie es etwa die Springer-Zeitung Die Welt offen ausplauderte. Merkel unterstütze zwar öffentlich die Forderungen nach Zuschüssen durch die südliche Peripherie der Eurozone, doch hoffe sie auf heimliche Hilfe der „Sparsamen Vier“ bei der Reduzierung der Summe. Berlin möchte die Eurozone schon nach Möglichkeit halten, doch soll dies möglichst günstig vonstattengehen – gut möglich, dass sich Merkel diesmal aufgrund der Krisendynamik verkalkuliert.

Fazit: Die kommenden Wochen und Monate werden Gelegenheit bieten, die Chancen eines reanimierten Integrationsprozesses der EU zu quantifizieren: Sie werden sich aus der Differenz zwischen den ursprünglichen geplanten und dem tatsächlich realisierten Umfang des „Wiederaufbauplans“ ergeben.

Tomasz Konicz ist seit rund 15 Jahren als vogelfreier linker Journalist und Buchautor publizistisch tätig mit dem Arbeitsschwerpunkt Krisenanalyse. Er schreibt auch für Telepolis und Konkret. Jüngste Veröffentlichung: Klimakiller Kapital. Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört. (Mandelbaum Verlag)