Leipzig – nicht zu verkaufen

Demokratie muss gelebt werden

Vor ziemlich genau zehn Jahren fand in Leipzig ein Bürgerentscheid für den Erhalt kommunalen Eigentums statt. Vorausgegangen waren zahlreiche Debatten zur Privatisierung oder Teilprivatisierung verschiedener städtischer Unternehmen und Betriebe.

Das Leipziger Beispiel ist in den Auseinandersetzungen um die Privatisierung kommunaler Infrastruktur und Daseinsvorsorge nur eines von vielen. Im Grunde geht es um ein Mantra, welches seit den 1990er Jahren beständig wiederholt wird und das da lautet: Die Privaten können alles besser. Sie bringen Kapital für Investitionen mit und sorgen für den Wettbewerb, der wiederum die Effizienz erhöhe und die Preise sinken lasse. Politiker nahezu aller Parteien wiederholen diesen Argumentationsstrang, der längst widerlegt ist. Der zweite zentrale Argumentationsstrang, der in vielen Debatten angeführt wurde und wird, betrifft die Verschuldung: Die Stadt ist verschuldet, für laufende Ausgaben oder neue Investitionen benötige man aber dringend Geld. Dieses Geld bekomme man durch den Verkauf öffentlichen Eigentums. In diesem Kontext sind auch die sogenannten Schuldenbremsen zu sehen, mit denen Städte und Gemeinden Privatisierungen begründen, aufgrund des Verbots der Aufnahme neuer Kommunalkredite.

Anfang 2006 wurden die Leipziger Stadtwerke, die Wasserwerke, die Verkehrsbetriebe, die Stadtreinigung sowie die Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft und das städtische Klinikum St. Georg als mögliche Privatisierungskandidaten von Seiten der SPD, der CDU und der FDP ins Spiel gebracht. Nachdem im März 2006 die Stadt Dresden ihren kompletten kommunalen Wohnungsbestand von circa 48.000 Wohnungen an einen Hedgefonds veräußerte und die mediale Berichterstattung diesen Deal weitestgehend unkritisch beziehungsweise sogar als zukunftsweisend und vorbildhaft charakterisierte, witterte man auch in Leipzig die Chance auf schnelles Geld. Die Dresdner Entscheidung war in einem CDU/CSU-dominierten Stadtrat mit einer Mehrheit von 40 zu 29 Stimmen bei einer Enthaltung gefallen. Pikant: Neun Stimmen aus der Linksfraktion votierten für den Komplettverkauf.

Als daraufhin die Stimmen, die eine Privatisierung der kommunalen Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) fordern, auch in Leipzig lauter werden, organisieren sich auch diejenigen, die die Debatte bisher kritisch verfolgten. Mitglieder des Mietervereins, von Attac, der Gewerkschaft ver.di und einzelne Stadträte entscheiden sich, gegen die Verkaufspläne Widerstand zu organisieren. Im April 2006 wird die Anti-Privatisierungsinitiative Leipzig (APRIL-Netzwerk) gebildet.

Im Mai und im September organisiert das APRIL-Netzwerk breit angelegte öffentliche Diskussionsforen jeweils unter Beteiligung von Befürwortern und Gegnern der Privatisierungen. Aufgrund der fundierten Kritik und des massiven Widerstands gegen einen Komplettverkauf des kommunalen Wohnungsbauunternehmens ist die Privatisierung der LWB recht schnell vom Tisch. Stadtumbau, Quartiersmanagement und Einfluss auf den Wohnungsmarkt sind ohne kommunale Wohnungsbaugesellschaft nicht vorstellbar. Aus heutiger Sicht, vor allem auch mit den Erfahrungen aus der fatalen Dresdner Entwicklung, ist das doppelt zu unterstreichen. Denn Dresden ist seit einigen Jahren eine der Städte, in denen die Mieten am schnellsten steigen. Einer der zentralen Gründe dafür ist das Fehlen einer bestandsstarken kommunalen Wohnungsbaugesellschaft.

In den folgenden Monaten fokussiert sich die Debatte mehr und mehr auf die Leipziger Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (LVV), unter deren Dach die Stadtwerke, die Wasserwerke und die Verkehrsbetriebe firmierten. Im Sommer werden diese Pläne konkret. Nach Verhandlungen einigen sich SPD und CDU auf einen Vorschlag, der sowohl eine Teilprivatisierung der Stadtwerke zu 49,9 Prozent sowie – zu einem späteren Zeitpunkt – der LVV (ebenfalls anteilig, es gab verschiedene Optionen) und eine Reduzierung des Bürgschaftsrahmens der LWB vorsieht. Darüber hinaus soll für die Stadtreinigung die Möglichkeit einer Privatisierung geprüft werden. Der Antrag wird zur Stadtratssitzung am 15. November 2006 von Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) mit der CDU- und SPD-Fraktionsspitze eingebracht und in namentlicher Abstimmung der einzelnen Punkte mit jeweils knappen Mehrheiten angenommen. Begleitet wird die Stadtratssitzung vom lautstarken Protest Hunderter Bürgerinnen und Bürger in und vor dem Rathaus, darunter zahlreiche Beschäftigte von Stadtwerken, Stadtreinigung und anderen kommunalen Betrieben sowie Studierende.

In der Folge des Ratsbeschlusses wird von der Rathausspitze die Ausschreibung eingeleitet, und im Laufe des Jahres 2007 findet das Bieterverfahren statt. Im Sommer gibt der Oberbürgermeister den Fahrplan für die Verkäufe bekannt, wonach bereits im Herbst, spätestens aber im Frühjahr des Folgejahres die Privatisierungen abgeschlossen sein sollten. Die einzige Möglichkeit, die dem APRIL-Netzwerk daraufhin noch bleibt, die Privatisierungen zu verhindern, ist ein Bürgerentscheid, der den Ratsbeschluss wieder kassiert.

Auf Initiative des APRIL-Netzwerks bildet sich daraufhin die Bürgerinitiative „Stoppt den Ausverkauf unserer Stadt“, welche sich breit und parteiübergreifend aufstellt und in der sich verschiedene Gruppen und Einzelpersonen engagieren. Vorausgegangen waren in den zurückliegenden Monaten mehrere praktische und auch juristische Abwägungen hinsichtlich der Durchführbarkeit des Anliegens. Außerdem hatten sich die Mitstreiterinnen und Mitstreiter ausgiebig mit Initiativen aus anderen Städten, in denen in der letzten Zeit erfolgreiche Bürgerentscheide gegen Privatisierungen durchgesetzt wurden, vernetzt und ausgetauscht, um von deren Erfahrungen zu profitieren.

Anfang September startet die Bürgerinitiative mit einer Auftaktveranstaltung auf dem Nikolaikirchhof und beginnt mit der Unterschriftensammlung für das Bürgerbegehren. Die BI wählt die Fragestellung aufgrund der vorangegangenen Debatte möglichst umfassend, um alle Bereiche der Daseinsvorsorge einzuschließen, damit sie nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Während der Sammlung konkretisiert sich im Oktober das Verkaufsvorhaben: Auf einer Pressekonferenz präsentiert der Oberbürgermeister seinen Vorschlag an den Stadtrat. Demnach sollen 49,9 Prozent der Stadtwerke für 520 Millionen Euro an den französischen Konzern Gaz de France verkauft werden. Zu den weiteren Bietern, die noch in der letzten Runde des Auswahlverfahrens präsent sind, gehören Electrabel, EnBW und Veolia. (GdF fusionierte im Juli desselben Jahres mit Suez zu GDF Suez. Seit 2015 heißt der Konzern Engie.)

Aufgrund des Engagements der vielen Mitstreiterinnen und Mitstreiter sammelt die BI innerhalb kurzer Zeit mehr als die doppelte Anzahl der notwendigen Unterstützerunterschriften für das Bürgerbegehren. Im November kann „Stoppt den Ausverkauf unserer Stadt“ dem Oberbürgermeister circa 42.000 Unterschriften übergeben, die die Durchführung eines Bürgerentscheids fordern. In seiner letzten Sitzung vor Weihnachten legt daraufhin der Stadtrat den Termin des Entscheids auf den frühestmöglichen Termin im neuen Jahr. Damit ist die Zeit für die Mobilisierung gering, und die Feiertage liegen noch dazwischen.

Die BI darf keine Zeit verlieren und funktioniert noch vor den Weihnachtsfeiertagen einen leerstehenden Supermarkt zur Werkstatt um. Zwischen Weihnachten und Silvester beginnt sie unter anderem mit dem Aufziehen von Plakaten, erstellt Flugblätter und eine Zeitung, mit der allen Bürgerinnen und Bürgern Informationen an die Hand geben werden sollen, um sachkundig mitentscheiden zu können. Ohne die tatkräftige Hilfe vieler Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund wäre das nicht möglich gewesen.

Zum ersten Mal hatten die Leipzigerinnen und Leipziger nun die Möglichkeit, in einer wichtigen Frage direkt zu entscheiden und damit die Kommunalpolitik für die nächsten Jahre mitzugestalten. Demokratie muss gelebt werden und lebt vom Interesse und Engagement der Bevölkerung – davon waren wir überzeugt. Das Thema, um das es beim Bürgerentscheid ging, stellt einen Kern unseres demokratischen Gemeinwesens dar: die kommunale Daseinsvorsorge, von der Wasser- und Energieversorgung, über Krankenhäuser, den öffentlichen Personennahverkehr, Abfallwirtschaft, Wohnen et cetera. Alles dies sind daseinsnotwendige Funktionen, die eine Stadt wie Leipzig vorhalten und sicherstellen muss. Beim Bürgerentscheid ging es um mehr als den Anteilsverkauf der Stadtwerke, so wie es oft in Berichten genannt wird. Es ging darum, dass sich die Bürgerinnen und Bürger dafür entscheiden, die kommunale Daseinsvorsorge in eigener Regie zu behalten und zu gestalten. Und das umfasste die komplette Palette der kommunalen Daseinsvorsorge. Die Fragestellung des Entscheids lautete damals: „Sind Sie dafür, dass die kommunalen Unternehmen und Betriebe der Stadt Leipzig, die der Daseinsvorsorge dienen, weiterhin zu 100 Prozent in kommunalem Eigentum verbleiben?“ Darunter wurden die großen Betriebe und Unternehmen namentlich aufgelistet.

Laut sächsischer Gemeindeordnung ist bei einem Bürgerentscheid der zur Abstimmung gestellte Entscheidungsvorschlag angenommen, wenn er die Mehrheit der gültigen Stimmen erhält und diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt.

Die Befürworter-Fraktionen der Privatisierung, SPD und CDU, hofften darauf, dass der Entscheid am Beteiligungs-Quorum scheitert, und machten deshalb so gut wie keine Werbung. Anders die FDP. Sie nahm offensichtlich viel Geld in die Hand, um mit einer Plakatkampagne für die Privatisierung zu werben. Auf den Plakaten prangte der Slogan: „Schulen sanieren – Stadtwerke verkaufen!“ Massiv schalteten sich auch die Industrie- und Handelskammer sowie die Handwerkskammer in die öffentliche Debatte ein. Beide warben für die Privatisierung. Ebenso mischte sich die Kommunalaufsicht in Person des Regierungspräsidenten mehrfach öffentlich in die Debatte ein und warb für weitere Privatisierungen. Auch die Geschäftsführung der kommunalen Holding LVV selbst warb für die Privatisierung der Stadtwerke. Sie ließ allen Haushalten einen Tag vor der Abstimmung eine Hochglanzbroschüre zustellen und veröffentlichte eine als Artikel getarnte Anzeige in der Leipziger Volkszeitung.

Doch die Einwohner ließen sich nicht so einfach hinters Licht führen. Am 27. Januar 2008 sprachen sie sich für ein umfassendes Privatisierungsverbot für Bereiche der Daseinsvorsorge aus. 170.621 Leipzigerinnen und Leipziger nahmen an der Abstimmung teil und vereitelten so die Privatisierungspläne. Die Wahlbeteiligung lag fast zehn Prozent über der der letzten Oberbürgermeisterwahl. Das eindeutige Votum von 88 Prozent Zustimmung zum Erhalt machte deutlich, dass Gemeinwohlorientierung Vorrang vor privater Gewinnerzielung haben muss.

Auch in anderen Städten fanden ähnliche Abstimmungen gegen die Privatisierung von Bereichen der Daseinsvorsorge oder auch für Rekommunalisierung vormals verkaufter Bereiche statt.

Bis heute ist der Bürgerentscheid von 2008 aber leider der einzige erfolgreiche Bürgerentscheid in der Messestadt. Die Durchführung eines weiteren Bürgerentscheids zur Einführung einer „Privatisierungsbremse“ wurde 2013 durch die Stadtratsmehrheit von CDU, SPD, Grünen und FDP verhindert, trotz der Sammlung der erforderlichen Unterschriften. Dieser zweite Entscheid war damals nötig geworden, weil in Sachsen die für den Stadtrat bindende Wirkung eines Entscheids auf drei Jahre begrenzt ist und bereits neue Privatisierungsvorhaben umgesetzt werden sollten. Niemand bringt zwar seither offen wieder den Vorschlag ein, eines der großen Unternehmen verkaufen zu wollen, was aber stattfindet, ist eine Art „Salamitaktik“, bei der Teilbereiche herausgelöst und verkauft werden. So wurden in den vergangenen Jahren unter anderem zwei Tochterunternehmen der Stadtwerke komplett privatisiert und der Wohnungsbestand der LWB weiter dezimiert. Immer wieder wurden Öffentlich-Private Partnerschaften ins Spiel gebracht, bei denen die Schulden letztlich nur in die Zukunft verlagert werden.

Was auf kommunaler Ebene gilt, lässt sich auch auf die übergeordneten Ebenen übertragen: Land, Bund, Europa. Gerade in den letzten zehn Jahren ist das in Europa anschaulich geworden. Das System, welches dazu führt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, kann dauerhaft nur überwunden werden, wenn der Boden sowie die zur Daseinsvorsorge notwendigen Unternehmen und Betriebe in gesellschaftliches Eigentum überführt und unter demokratische Kontrolle gestellt werden. Nur so lassen sich die profitorientierten Grundlagen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigen. Wirkliche Demokratie ist erst dann möglich. Deshalb sind Abwehrkämpfe, wie sie in Leipzig, aber auch in vielen anderen Städten stattgefunden haben und stattfinden, wichtig. Aber wir müssen Ansätze entwickeln, die darüber hinausgehen, und uns damit beschäftigen, wie wir in die Offensive kommen, um Privates wieder in Gemeineigentum zu überführen. Die Eigentumsfrage wird unweigerlich wieder gestellt werden müssen.

Mike Nagler (39) ist Diplom-Ingenieur (Architektur/Bauingenieurwesen) und engagiert sich unter anderem im Leipziger APRIL-Netzwerk und bei Attac. 2007 hatte er in seiner Abschlussarbeit im Bauwesen den Verkauf der Dresdner WOBA, dessen Ursachen und die Folgen für die Stadtentwicklung der kommenden Jahre ausführlich analysiert.

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