Als der derzeitige US-Präsident Barack Obama im Januar 2009 sein Amt antrat stand die offizielle Arbeitslosenquote bei 7,8 Prozent. Das Land steckte in einer tiefen Krise. Die wurde quasi-offizieller Weise inzwischen vom „Business Cycle Dating Committee“ für beendet erklärt. Nach gründlicher Abwägung aller Umstände kamen die Wirtschaftswissenschaftler im September 2010 zu dem Ergebnis, bereits mit dem Juni 2009 hätte das Land den Tiefpunkt der aktuellen Wirtschaftsentwicklung hinter sich gelassen (www.nber.org/cycles/sept2010.html).
Doch die Beschäftigung zeigt sich wie immer als nachlaufender Indikator. Die offizielle Arbeitslosenquote erreichte mit 10 Prozent ihren Höhepunkt erst Ende 2009. Und bis heute ist das Beschäftigungsniveau des Jahres 2008 noch nicht wieder erreicht. Für den Monat Juli 2012 gibt das damit beauftragte Bureau of Labor Statistics (www.bls.gov) die Arbeitslosenquote mit 8,3 Prozent an. In der US-Presse finden sich daher Überlegungen, wie oft in der Geschichte des Landes ein Präsident bei solch hoher Arbeitslosigkeit wiedergewählt worden ist. Wie der Rückblick zeigt, eher selten.
Und wie die Umfragen Ende August ausweisen, ist das Rennen noch nicht entschieden (http://elections.nytimes.com/2012/electoral-map). Die teils heftigen innenpolitischen Konflikte der letzten Jahre haben dennoch dazu beigetragen, dass viele Wählerinnen und Wähler heute schon wissen, wie sie sich entscheiden werden.
Die klaren Ansagen des republikanischen Kandidaten dürften Obama auch Stimmen vieler Menschen sichern, die er in seiner bisherigen Amtszeit systematisch enttäuscht hat. Noch ist aber nicht sicher, dass er damit auch in den unsicheren, den „Swing States“ ausreichende Unterstützung gewinnen kann.
Sinkende Realeinkommen
Ein zentrales Thema ist nicht nur dort die wirtschaftliche Lage. Gerade im Verarbeitenden Gewerbe (manufacturing) arbeiten noch immer überproportional viele weiße Männer – die wichtigste Gruppe, in der der Republikaner Mitt Romney stärkere Unterstützung findet als Obama. So werben beide Kandidaten mit ihrem Einsatz für die US-Industrie. Obama hält seinem Konkurrenten vor, nichts vom harten Arbeitsleben der US-Mittelklasse zu wissen, der Finanzinvestor Bain Capital (Romneys Ex-Firma) Arbeitsplätze zerstört hat. Zudem habe er während seiner Amtszeit als Gouverneur von Massachusetts den Niedergang der Industrie im Bundesstaat nicht gestoppt. Romney wirbt dagegen mit seinem Erfolg als Geschäftsmann und surft auf der „privat vor Katastrophe“-Welle, die in den USA nicht wenige Anhänger hat. Wenn nur die vielen überflüssigen staatlichen Beschränkungen des Gewerbefleißes der US-Bürger aufgehoben würden, ginge rasch alles besser voran.
Besser für wen? Zweifellos ist die Beschäftigung in den USA in den letzten Jahrzehnten langfristig gestiegen. 1969 zählte das US-Wirtschaftsministerium 79,9 Millionen Beschäftigte in der US-Wirtschaft. Dreißig Jahre später waren es 134,9 Millionen. 2007, am Vorabend der letzten Krise, waren es gar 143,8 Millionen. Doch mit diesem Wachstum war kein allgemeiner Wohlstand verbunden. Im Gegenteil: Für die Hälfte aller US-Haushalte stagnierten die Realeinkommen, bei den Ärmsten sanken sie sogar. Das Wachstum der Beschäftigung ging mit massiven Strukturbrüchen einher, die den alten Industriegebieten im Nordwesten einen neuen Namen einbrachten: „Rust belt“ – Rostgürtel. Dort fanden die schlichten statistischen Daten zum sozialen Niedergang einen direkt sichtbaren Ausdruck.
Dabei blieb die Beschäftigung im Verarbeitenden Gewerbe insgesamt in den siebziger und achtziger Jahren fast stabil. Von 20,3 Millionen Industriebeschäftigten 1969 ging es im konjunkturellen Auf und Ab bis 1979 auf 21,2 Millionen hinauf. 1989 gab es 19,5 Millionen, 1999 noch 18,6 Millionen Beschäftigte in der US-Industrie. Da parallel zu diesem überschaubaren Rückgang in der Industrie die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich massiv zunahm, verbindet sich mit diesen Zahlen ein deutlicher Bedeutungsrückgang.
Weniger brauchbare Waren
Schon damals gab es Zweifel an der Nachhaltigkeit eines Wachstumsmodells, das sich auf zunehmende Importe, ein beständiges Außenhandelsdefizit und eine entsprechend wachsende Verschuldung im Ausland stützte. Doch die Freunde der “Finanzindustrie” hielten damals US-Schuldscheine für ein ebenso seriöses Exportgut wie Maschinen und Computer: Wenn der Rest der Welt so gern US-Wertpapiere kaufe, sei dies der ultimative Beweis für die Stabilität der heimischen Wirtschaft.
Dann kam die Krise ab 2001 und mit ihr setzte der Strukturbruch und massive Beschäftigungsabbau im Verarbeitenden Gewerbe ein: Von 2000 bis 2004 gingen drei Millionen Industriejobs verloren, die auch nach dem Ende der Rezession nicht wiederkamen. In der Krise ab 2007 verschwanden nochmals 2,6 Millionen Jobs in der US-Industrie. Nachdem über Jahrzehnte hinweg andere Investitionsfelder der Industrie den Rang abgelaufen hatten, sind nun die Probleme der verbliebenen Weltmacht mit ihrer sinkenden Konkurrenzfähigkeit nicht mehr zu übersehen.
Dies zeigt sich auch im internationalen Kräfteverhältnis. So problematisch weltweite ökonomische Vergleiche aufgrund der nötigen Umrechnungen in eine Währung sind, die Zahlen der Vereinten Nationen (http://unstats.un. org) zeigen sehr klar, was sich in den letzten Jahren geändert hat: Der Anteil der USA an der Weltindustrieproduktion sank 2008 erstmals unter 20 Prozent. Neben dem Rückgang des japanischen Anteils und dem Aufstieg des (staats)kapitalistischen Chinas ist das die markanteste Entwicklung des letzten Jahrzehnts.
Angesichts dieser Veränderung sind alte Siege – etwa der Niedergang und Zerfall der Sowjetunion – nichts mehr als schöne Erinnerungen an einen einst erfolgreicheren Imperialismus. Die Auseinandersetzung um die Zukunft der US-Industrie ist mehr als eine wahltaktische Rangelei. Mögen die Freunde der Wall Street noch so sehr von der „Finanzindustrie“ und ihren „modernen Produkten“ schwärmen, trotzdem ist noch kein Ökonom auf die Idee gekommen, die Banken deshalb ins Verarbeitende Gewerbe aufzunehmen. Auch mit gedeckten Schecks kann man weder in den Urlaub fliegen, noch zum Geschäftsessen fahren, heizen oder einen der neuen Kolonialkriege gewinnen. Zum Kaufen braucht es nicht nur Geld, sondern auch brauchbare Waren. Ein profitabler Dienstleistungssektor kann ohne Verflechtung mit der Industrie nicht bestehen. So sehr die beiden Konkurrenten um das Weiße Haus einander auch öffentlich madig machen: Die Rückgewinnung der Konkurrenzfähigkeit der US-Industrie ist sicher beiden Kandidaten ein echtes Anliegen.
Weiter Weltmacht sein
Wenn man den Verlautbarungen im Wahlkampf glauben will, so werden die angepeilten wirtschaftspolitischen Pfade sehr verschieden ausfallen. Romney kündigt an, die Politik der Chinesischen Zentralbank und den Wechselkurs des Renminbi untersuchen zu wollen. Der Amtsinhaber lässt sich dagegen bei der Neueröffnung von hochmodernen Produktionsstätten filmen, spricht von der Förderung von Forschung und Entwicklung und der damit beförderten Tendenz des „Insourcing“ – der „Rückverlagerung von Jobs in die USA“. Obama kann sich in seiner wirtschaftspolitischen Argumentation auf die Gewerkschaften und den Konjunkturverlauf stützen: Denn während die Konsumgüterproduktion und das Bauwesen noch immer stagnieren, ist mit der Nachfrage nach Maschinen und Anlagen auch die Auslastung in diesen Bereichen gestiegen (www.federalreserve.gov/releases/g17/current/) Bis zum Wahltermin wird diese Belebung der Wirtschaftslage aber den Arbeitsmarkt noch nicht erreicht haben. Das ist Obamas Risiko.
Wenn aber erst die Wahlen vorbei sind, könnten die Unterschiede in der tatsächlichen Wirtschaftspolitik geringer ausfallen. Schon jetzt gibt es Themen, bei denen die Wirtschaftsbosse Republikaner wie Demokraten gleichermaßen zum Handeln drängen. So ist Russland nach 18 Jahren der Verhandlungen und Ränkespiele am 22. August 2012 der WTO beigetreten. Aus gutem Grund machen sich russische Ökonomen Sorgen um die Reste der Industrie, die in weiten Teilen der internationalen Konkurrenz schwerlich gewachsen ist. In der USA gibt es andere Probleme. Dort bestehen noch aus Zeiten des Kalten Krieges verschiedene Handelshemmnisse. So verweigert der Kongress Russland bis heute die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel. Im Gegenzug – so befürchten die Anwälte des Kapitals – könnte Russland US-Firmen den Zutritt auf den russischen Markt erschweren. Also werden die Lobbyisten vorstellig, um die Abgeordneten in Washington an ihre Pflichten zur Förderung des nationalen Geschäfts zu erinnern, parteiübergreifend. Sie wissen, dass der Job als Weltmacht auch eine Last ist, die nur mit einer eigenen wirtschaftlichen Grundlage weiterhin getragen werden kann.
Sebastian Gerhardt arbeitet in Berlin in der „Topographie des Terrors“ und im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst. Aktuelle Kommentare, Materialien, Archiv unter http://planwirtschaft.wordpress.com