Vom Schutz für Aufstieg zum Schutz im Niedergang

Die vielen Gesichter des Protektionismus

Protektionismus wird im Zuge der diskursiven Heraufbeschwörung der vier „Freiheiten“ des Kapitals (Waren, Kapital, Dienstleistungen, Arbeitskräfte) als Störung des kapitalistischen Wettbewerbs diffamiert. Protektionismus mache angeblich die Wachstums- und Beschäftigungseffekte zunichte und schade allen. Diese Position haben sich in den 1980er Jahren in den Zentren der Weltwirtschaft fast alle politischen Kräfte zu Eigen gemacht. Sie wischten Schutzforderungen von Arbeitern, Frauen oder Peripheriestaaten als chauvinistisch oder nationalistisch vom Tisch.

Vergessen wird, dass ohne Protektionismus keine Fabrikindustrie entstanden wäre. Und geflissentlich verdrängt wird, dass Freihandel niemals auf gleicher Augenhöhe, sondern höchst selektiv gehandhabt wurde und wird. Auch heute gehen mit der herrschenden Wirtschaftspolitik im Namen des Freihandels Quoten, Ursprungsregeln, Zölle und Embargos einher. Im Peripherie-Diskurs nachholender Entwicklung stand Dissoziation, die Forderung nach einer temporären Herauslösung von Entwicklungsländern aus dem Weltmarkt stets zur Debatte – manchmal im Wettstreit, manchmal in Kombination mit assoziativer Integration in den Weltmarkt.

Je nachdem, ob Protektionismus von Markt-führenden oder von diesen abhängigen Volkswirtschaften, im Zentrum oder in der Peripherie, im Auf- oder im Abschwungzyklus zur Anwendung kommt, nimmt er unterschiedliche Gestalt an. Protektionismus kann sich auf einzelne Schutzmaßnahmen für soziale Gruppen, entwicklungsschwache Regionen oder Branchen beziehen oder aber ein umfassendes Programm von Abwehr, Schutz und Isolation darstellen. Dies kann in einer defensiven Variante wie bei verschiedenen Abkoppelungsprojekten erfolgen, oder in einer aggressiven Variante in Verbindung mit Aus- und Angriffen auf Absatz- und Beschaffungsmärkte, wie im historischen Merkantilismus oder im aktuellen Neomerkantilismus der Regionalblöcke. Ein Blick in die Geschichte zeigt ein zyklisches Auf und Ab von Protektionismus und Freihandel, die von ihren Protagonisten höchst instrumentell eingesetzt werden.

US-Präsident Donald Trump hat durch seine vollmundigen Ankündigungen, internationale Handelsabkommen aufzukündigen und Industrieverlagerungen in Billiglohnländer durch Strafzölle auf Importe zu sanktionieren, die Möglichkeit einer protektionistischen Wende heraufbeschworen. Neu an der von ihm losgetretenen Debatte ist, dass die vom Abstieg betroffenen Zentren der Weltwirtschaft den Protektionismus als ihre Waffe ins Spiel bringen, während Protektionismus im Zentrum bisher eine Strategie war, die den Aufschwung absicherte. Im folgenden Überblick über Protektionismen wird nach der Stellung der Protagonisten im Weltsystem unterschieden.

Industrielle Revolution = Protektion der Industrie

Der Einführung der fabrikindustriellen Produktionsweise in England haftet der Mythos an, sie sei das Resultat von Erfindergeist, Industriepionieren und staatlichem Liberalismus. Das Gegenteil ist der Fall. Nicht dass es im 18. Jahrhundert keine erfinderischen Unternehmer in England gegeben hätte. Ihren Durchbruch gegenüber dem damals führenden indischen Textilgewerbe, dessen Produkte von europäischen Handelskompagnien in aller Welt vertrieben wurden, gelang ihnen nur, weil sie in England nicht nur durch Einfuhrstopps, sondern vorübergehend sogar durch Konsumverbote für die begehrten indischen Kalikos geschützt wurden. Unter diesem Schutzschild entwickelte sich die berühmte englische Textilindustrie, der Leitsektor für die Industrielle Revolution. Sobald die Fabriktextilien durch die Mechanisierung auch billiger wurden, schlugen sie die indischen Stoffe nicht nur auf ihren Exportmärkten, sondern auch am indischen Binnenmarkt. Die Einordnung ins britische Kolonialreich erleichterte es nicht zuletzt über Steuerdruck, Indien auf jene Cash Crops festzulegen, die für die Industrie des Mutterlandes – Indigo, Jute – und für den Export nach China – Opium – benötigt wurden. Britisch-Indien wurde im Gegenzug zum Absatzmarkt für britische Industriewaren. Die Baumwolle für die preislich unschlagbaren englischen Fabrikstoffe kam aus amerikanischen Plantagen. Auf den Verrat der Geheimnisse des Maschinenbaus an ausländische Konkurrenten stand die Todesstrafe.

Freihandel als Schutz des Starken

Wer sich erfolgreich als Marktführer etablieren konnte, verabschiedet sich in der Regel vom Schutzgedanken. Großbritanniens Handelspolitik im 19. Jahrhundert demonstriert die instrumentelle Haltung zum Protektionismus par excellence. Mitte des 19. Jahrhunderts fielen das Ausfuhrverbot für Maschinen sowie die Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel und Holz. So konnten sich Argentinien, Australien, Kanada oder Dänemark auf Agrarexporte spezialisieren und England für wertschöpfungsintensive Verarbeitungsindustrien freimachen. Mit seinen Kolonien und Dominien verfügte Großbritannien über sichere Absatzmärkte. Als globale Handels-, Finanz- und Kommunikationsdrehscheibe flossen die Einnahmen auch im Transport- und Dienstleistungssektor. Darüberhinaus öffnete die militärische Macht – entweder über Beistand oder über Aggression – die Märkte des Osmanischen Reiches, Chinas, Japans und Persiens. In sogenannten „ungleichen Verträgen“ (1840-1860) wurden Bezugs- und Exportmärkte, Investitionen und Monopolrechte in gewinnversprechenden Sektoren garantiert: Gewinnrückführungen kompensierten negative Handelsbilanzen. Anders als das Adjektiv suggeriert, wirkte der Freihandel also äußerst selektiv.

Nachholende Entwicklung in Europa und den USA

Der englische Vorsprung setzte west- und zentraleuropäische Staaten in ihren Industrialisierungsbemühungen unter Zugzwang. Der Marktschutz, mit dem die merkantilistischen Herrscher den Aufbau einer Fabrikindustrie in ihren Ländern förderten, richtete sich nicht nur gegen Importe aus Asien, sondern auch gegen europäische Konkurrenten, allen voran gegen Großbritannien. In Frankreich beflügelte die Konkurrenz mit Großbritannien nicht nur die Französische Revolution, sondern auch den Versuch Napoleons, die Briten durch die Kontinentalsperre von Bezugs- und Absatzmärkten abzuschneiden und davon unbehelligt eine französische Industrie aufzubauen. Die Isolierung Großbritanniens verschaffte nicht nur den europäischen Bemühungen zur nachholenden Industrialisierung einen Freiraum, sondern auch den Vereinigten Staaten. Die USA hatten sich zwar von der britischen Oberherrschaft, nicht jedoch von der Importabhängigkeit vom Mutterland befreit. Eine erste America first-Bewegung mit Importverboten und hohen Zollmauern verfügte Finanzminister Alexander Hamilton unter Präsident George Washington in den 1790er Jahren. Sein Konterfei prangt übrigens auf jedem Zehn-Dollar-Schein.

Die Kombination aus billiger Baumwolle, die auf den von den Indigenen geräumten Böden mit Sklavenarbeit erzeugt wurde, mit dem Nachschub bereitwilliger migrantischer Arbeitskraft aus Europa begründete den Aufstieg der USA zur führenden Industriemacht. Eine Konkurrenz erwuchs den Seemächten durch die deutschen Staaten, die ihre industriellen Gehversuche durch „Erziehungszölle“ im Sinne der österreichischen Merkantilisten oder der Theorie produktiver Kräfte des deutschen Nationalökonomen Friedrich List weltmarktfit machten. Die industriellen Erfolge der europäischen Industriestaaten legten gleichzeitig den Keim für die Konkurrenz um Rohstoff- und Absatzmärkte. Lehnten sie sich bei den „ungleichen Verträgen“ mit den außereuropäischen Reichen zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch an Großbritannien an, entbrannte in den beiden Weltkriegen der innerimperialistische Konflikt.

Entwicklung durch Delinking

Auch die Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg aus den Kontinentalimperien der europäischen Großmächte hervorgingen – wie z.B. die CSR, Polen oder Jugoslawien – strebten nach wirtschaftspolitischer Eigenständigkeit. Da es sich bei den inneren Peripherien der Reiche meist um Agrar- und Rohstoffproduzenten handelte, ging es dabei vor allem um nachholende Industrialisierung. Die Devise lautete: Vom Mutterland abnabeln, metropolitanes Kapital durch einheimisches ersetzen und eine Volkswirtschaft aufbauen, die auf möglichst breit gefächerten eigenständigen Beinen steht. Die Weltwirtschaftskrise 1929/31 und der deutsche Vormarsch machte den Hoffnungen der ost- und südosteuropäischen Staaten auf endogene Entwicklung einen Strich durch die Rechnung. In den bevölkerungsreichen Entwicklungsländern von Brasilien bis Mexiko, der Türkei bis zur Sowjetunion hingegen begünstigte die Krise im Zentrum die nachholende Industrialisierung.

Die große Welle der Entkolonisierung in den 1960er Jahren erhob in der Peripherie die Importsubstitution zur Devise autozentrierter Entwicklung. Kapital-, Technologie- und Know how-Mangel, Abhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht sowie die Schwankungen der Weltmarktpreise für Agroexporte begrenzten die Erfolge. Es war dann die Weltwirtschaftskrise 1973/74, mit der das Ende des Delinking eingeleitet wurde.

Sowohl der reale Sozialismus, die bescheidenen Erfolge der Entwicklungsländer zum industriellen Aufbau und zur Stabilisierung der Exporterlöse im Rahmen der UNCTAD-Konferenzen als auch diverse arabische, afrikanische und lateinamerikanische Sozialismen hielten dem Druck der „Neuen Internationalen Arbeitsteilung“ nicht stand. Diese bestand aus einer Reorganisation der Güterketten im Weltmaßstab: Während Forschung, Entwicklung und Know how in den alten Industrieländern blieben und dort die wissensbasierte Ökonomie begründeten, wurde arbeitsintensive Fertigung in Entwicklungsländer verlagert. Es handelte sich um abhängige Kontraktfertigung an den Low ends der Güterketten, die der angestrebten Autozentrierung diametral entgegen stand. Möglich war die Verlagerung nur dann, wenn die Industriestaaten dem Kapitalexport zustimmten und die Newly Industrializing Countries (NIC) ein investitionsfreundliches Klima bereitstellten, das heißt Sonderwirtschaftszonen ohne soziale und ökologische Auflagen, mit Zollfreiheit und freiem Gewinntransfer u.v.a.m. Statt Delinking vorordnete die Welthandelsorganisation WTO die vollständige Öffnung auch der peripheren Märkte für multinationales Kapital.

Rollentausch: Schutz gegen Abstieg

Die Globalisierung der Güterketten und die Öffnung der weltweiten Märkte hatten die westlichen Konzerne seit den 1990er Jahren wieder in die Gewinnzone gebracht. Die alten Industrieländer hingegen erlebten den Niedergang ganzer Industrieregionen, weil Fertigungen in die Peripherie verlagert wurden. Deregulierung der Arbeitsmärkte, Aufweichung der sozialen Sicherheit und Flexibilitätsanforderungen, die in den NICs gang und gäbe sind, stellten in den alten Industrieländern die Weichen von Wohlfahrt auf Austerität. Die Gesellschaft erlebt seither eine längst überwunden geglaubte regionale und soziale Polarisierung. Umgekehrt gelang es einigen Schwellenländern, allen voran China, Indien und Brasilien, die Position am unteren Ende der Güterketten zu überwinden und selbst Leitungs- und Kontrollfunktionen zu übernehmen. Dass dies – ganz nach dem Vorbild westlicher Industrialisierung – auf Kosten der Peripherisierung des Landesinneren oder schwächerer Entwicklungsländer geht, soll im kapitalistischen Wettbewerb nicht überraschen. Die aufstrebenden Mittelschichten sind zwar immer noch ärmer als die Mittelschichten im Westen. Im Gegensatz zu diesen befinden sie sich jedoch im Aufstieg, und nicht im Abstieg, was Motivation und Identifikation erheblich steigert.

Vor diesem Hintergrund erleben wir eine neue Spielart des Protektionismus, den Abwehrprotektionismus der Reichen. Er begann bereits 1974, als mit dem Multifaserabkommen den Entwicklungsländern zwar Quoten für Textilexporte zugestanden wurden, die auch im Interesse westlicher Multis lagen, die dort produzieren ließen. Gleichzeitig sorgte das Abkommen jedoch dafür, dass diese Exporte lediglich einzelne (maximal zwei) Vorgänge im Verarbeitungsprozess beinhalteten, niemals aber den gesamten Produktionsfluss, geschweige denn das Finalprodukt. Nachdem die meisten Textilbetriebe im Norden der Globalisierung gewichen waren, endete das Abkommen. Dies war für China der Startschuss zur Übernahme kompletter Güterketten. Es dauerte nicht lange, bis seitens EU und USA – ebenso wie in anderen Branchen – mit Dumping-Argumenten erneut Zollschranken hochgezogen wurden.

Seit die alten Zentren sich neuer semiperipherer Konkurrenz ausgesetzt sehen, die Protektionismus und Freihandel pragmatisch kombinieren, wird Protektionismus im Norden wieder spruchreif. Mit Donald Trump hat die Kritik an den Industrieverlagerungen in den globalen Süden eine ungewohnte Verstärkung erfahren. Sie kann als Ausdruck gelesen werden, dass zumindest für gewisse Branchen, Regionen und soziale Gruppen der ungehinderte Kapitalverkehr seine Nützlichkeit verloren hat.

Ein Protektionismus im emanzipatorischen Sinne ist mit diesen Abwehrmaßnahmen keineswegs geplant: im Gegenteil, die Herausforderung der globalen Billiglohnkonkurrenz wird mit Verve in den alten Industrieländern aufgegriffen und der Arbeiterschaft das Lohn- und Sozialdumping als notwendige Gegenreaktion verkauft, um Standorte zu retten. Der gemeinsame Nenner zwischen Kapital und Arbeit besteht in der Aufrechterhaltung alter, auf Kolonialismus und globaler Hegemonie fußender Privilegien. Das Plädoyer für Freihandel hat sich auf die Seite der neuen Schwellenländer verschoben, die damit ihren Anteil am globalen Kuchen zu vergrößern trachten.

Somit bleibt es globalisierungskritischen Bewegungen in Nord und Süd überlassen, die Notwendigkeit eines „progressiven“ Protektionismus in die Debatte einzubringen. Ein solcher verlangt Schutz und Vorrang für regionale Wirtschaftskreisläufe, nicht um Vorherrschaft gegenüber anderen zu erlangen, sondern um allerorts regionale Versorgung, Diversität, Prosperität und soziale Gerechtigkeit zu stärken. Er versteht sich nicht als Ausnahme, Notfallmaßnahme oder Gegensteuerung zur ungleichen und ungleichzeitigen Entwicklung, sondern als systemische Alternative und Grundprinzip solidarischen Wirtschaftens.

Von Andrea Komlosy erscheint im Frühjahr 2018 „Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf“ (Wien, Promedia Verlag).

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