Baumwoll-Wirtschaft in Usbekistan

Nach der Überquerung des über 2000 Meter hohen Kamchik-Passes, der den Blick auf die dahinter liegenden Ketten des Pamirgebirges frei gibt, eröffnet sich das Fergana-Tal, eine fruchtbare Hochebene, die sich im angrenzenden Kirgistan und Tadschikistan fortsetzt. Es gibt Weizen- und Maisfelder, Gemüse, Obstplantagen und Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht. Dominierend ist allerdings der Baumwollstrauch, dessen weiße Kapseln sich im September zu öffnen beginnen und das Land in eine Wattelandschaft verwandeln. In der Nähe von Oltiariq, das bis vor kurzem noch den Namen Hamza nach dem ortsansässigen kommunistischen Schriftsteller trug, hat die Ernte schon begonnen.

Wir treffen ein Dutzend Frauen und einige ältere Männer an, die sich mit Schirmkappen und Tüchern vor der Sonne schützen und die Fruchtkapseln von Hand in große Stoffsäcke füllen, die sie auf den Schultern tragen. Je nach Leistung und Bedingungen kann eine Person 20-100 Kil ogramm Baumwolle am Tag ernten. In der Erntesaison 2019 beträgt der Lohn für 1 Kilogramm 800 Som. Bei durchschnittlich 50 kg ergibt das einen Tageslohn von umgerechnet 4 Euro. Dazu gibt es Naturalentgelte in Form von Lebensmitteln, unter anderem das in der usbekischen Küche verbreitete Baumwollöl, das aus den Samen gewonnen wird. Von diesem Lohn kann auch in Usbekistan niemand leben. Erntearbeit ist ein saisonaler Zuverdienst, der das Einkommen der Subsistenzbauern aufbessert. Um zu überleben, sind sie auf den Verkauf ihrer eigenen Produkte auf lokalen Märkten sowie auf verschiedene Jobs angewiesen. Der Mindestlohn liegt in Usbekistan 2019 bei monatlich 60 Euro, der Durchschnittslohn bei 200 Euro, die Rente bei 50-60 Euro.

Da sich viele Männer als Arbeitsmigranten in Russland oder Kasachstan verdingen, wird die Feld- und Gartenarbeit zunehmend von Frauen erledigt. Bis 2016 konnten die Baumwollbauern in alter sowjetischer Tradition auf Schülerinnen und Schüler und Studierende als (niedrigst bezahlte) Erntehelfer zurückgreifen. Dann allerdings stieg der Druck verschiedener westlicher NGOs auf die großen Textilunternehmen, usbekische Baumwolle aufgrund der „Zwangsarbeit“ zu boykottieren. Die Regierung lenkte ein, verbot den Ernteeinsatz und verpflichtete von diesem Zeitpunkt an sozial Bedürftige, Erntearbeiten zu verrichten. Ob es sich bei den kollektiven Arbeitseinsätzen tatsächlich um „Zwangsarbeit“ oder „Kinderarbeit“ handelte, ist fraglich, gehörte doch in der Sowjetunion die Erschließung von Neuland und die Erntehilfe ganz selbstverständlich zum Arbeitsjahr der Studierenden. Mein punktuelles Nachfragen bei verschiedenen Betroffenen ergab höch st unterschiedliche Einschätzungen der gemeinschaftlichen Arbeitserfahrung. Sie reichten von „erfreuliche Abwechslung“ bis hin zu „lästige Verpflichtung“. Obwohl die Arbeit nicht freiwillig war, galt sie den meisten auch nicht als „Zwang“.

Mit am Feld treffen wir den Bauern an, der bereitwillig Auskunft gibt. Es handelt sich um eine bäuerliche Familienwirtschaft, die sich keine ständigen Arbeitskräfte und auch nur in beschränktem Maß Maschinen leisten kann. Qualität und Ausbeute der Baumwolle sind aber beim Pflücken von Hand ohnehin besser als mit der Erntemaschine. Der Bauer holt die Helferinnen und Helfer frühmorgens mit dem Damas, einem unter Chevrolet-Lizenz im nahen Andijan erzeugten Kleinbus, ab und bringt sie am Abend wieder nach Hause zurück. Er und seine Frau arbeiten bei der Ernte mit den Hilfsarbeitskräften mit.

Fermer und Dehkan

Fermer und Dehkan sind bäuerliche Sozialcharaktere, die aus der Privatisierung der Kolchosen und ihrer postkommunistischen Nachfolgeorganisationen, den sogenannten Shirkats, hervorgegangen sind. Dehkan ist die traditionelle Bezeichnung für Kleinbauern, die für die Nutzung von Land dem Großgrundbesitz einen Teil der Ernte abgaben (Anteilswirtschaft, englisch: Sharecropping). Mit dem Zusammenbruch der Kolchosen im Chaos der Wendezeit wurden landesweit auf rund 10 Prozent des Landes neue Kleinstbauernstellen geschaffen, um die Selbstversorgung zu stärken und den ehemaligen Kolchosarbeitskräften Verdienstmöglichkeiten für den Kleinverkauf zu eröffnen. Die Bauernmärkte sind eine zentrale Quelle der Versorgung in den Städten. Diese Kleinbauern, die über 0,1 bis 0,25 Hektar Land verfügten, werden als Dehkane bezeichnet. Sie knüpften an den Subsistenzgärten an, über die auch die Kolchosarbeitskräfte privat verfügt hatten.

Demgegenüber ist Fermer ein Typus von Bauer, für den es weder in der russischen noch in der usbekischen Sprache einen Begriff gab. Beide griffen zur Bezeichnung eines „freien Bauern“ auf das englische Farmer zurück. Fermer erhielten bei der Privatisierung der Kolchosen und aus diesen kurzfristig hervorgegangenen Gemeinschaftsgütern (Shirkats) Flächen zur individuellen Bewirtschaftung. Da es in Usbekistan heute kein Privateigentum an Grund und Boden gibt, wurden sie Pächter. Um bei der Auktion zum Zug zu kommen, mussten sie neben guten Beziehungen zur Staatsverwaltung Erfahrung und Kenntnisse in der Landwirtschaft aufweisen. Die Größe ihrer Grundstücke richtete sich nach Bodenqualität und Anbaufrüchten. Ein Baumwoll-Fermer benötigte mindestens 10 Hektar Land, in der Zwischenzeit sind die Betriebsgrößen durch Zusammenlegungen und außerlandwirtschaftliche Investoren stark gestiegen. Der Handlungsspielraum war am Beginn höchst ei ngeschränkt: Ein Fermer musste die vorgeschriebenen Anbauquoten einhalten und zu festgelegten Preisen an den Staat verkaufen, der die Entkörnung vornahm und den Vertrieb der Baumwolle besorgte. Verstöße bedeuteten die Aufkündigung der Pacht. Umgekehrt konnten Fermer vom Staat günstige Kredite als Starthilfe erhalten. 1992, als die ersten Fermer-Stellen geschaffen wurden, gingen 80 Prozent der Einnahmen an den Staat mit dem Argument, dass die Transformation nur so zu bewältigen sei. Mit der Verallgemeinerung und gesetzlichen Absicherung des Fermer-Strukturen vergrößerte sich der bäuerliche Ertragsanteil bis 2004 auf 80 Prozent. Die Unterstellung der Privatbauern unter staatliche Planung und Kontrolle blieb durch die verschiedenen Phasen der Transformation bis heute bestehen. Allerdings lockerten sich die Vorgaben und Beschränkungen: So stieg die Pachtdauer von 10 auf 49 und schließlich auf 98 Jahre. Außer für Baumwolle und teilweise für We izen wurden sämtliche Anbauquoten beseitigt, die Preise angehoben. Gleichzeitig verringerte die Konvertibilität des Som die Verluste aus Wechselkursschwankungen. Mit der – immer noch stark gelenkten – Liberalisierung seit dem Präsidentenwechsel im Jahr 2016, die auf Zuruf und unter Druck internationaler Organisationen und Geldgeber stattfand, stiegen nun auch Agrarunternehmer ins Geschäft ein, die keine Bauern sind, nicht mehr selbst mitarbeiten und oft gar nicht mehr vor Ort wohnen.

Im Zuge der Privatisierung kristallisierte sich in den Dörfern ein Zweiklassensystem heraus: Die Fermer als bäuerliche Agrarunternehmer, die von der Landwirtschaft leben können und auf die kleinbäuerlichen Dehkane als Saisonarbeitskräfte zurückgreifen können. Trotz Verbot geben Fermer gegen Ernteanteile Land an andere Bauern weiter, sodass weitere Unternehmensformen und Arbeitsverhältnisse entstehen. Dehkane entsenden zunehmend männliche Familienangehörige in die Arbeitsmigration. Allerorts kann man in den Kleinstädten die Reisebüros (Aviakassa) bewundern, die Tickets für alle möglichen Destinationen in Russland und Kasachstan anbieten. Neben den ortsansässigen Fermern kristallisiert sich eine weitere Sorte von Agrarbusiness heraus, mit dem Druck in Richtung einer weiteren Liberalisierung gemacht wird.

Die Baumwoll-Frontier

Im 19. Jahrhundert erfolgte der zaristische Vormarsch nach Zentralasien aus militärstrategischen und geopolitischen Motiven. So entstanden in den 1860er Jahren die Generalgouvernements „Turkestan“ und „Steppe“. Die fruchtbaren Flusstäler und Oasen versprachen jenen Rohstoff, der für die Textilindustrie des Mutterlandes unerlässlich war: Baumwolle. Zwischen 1890 und 1910 verzehnfachte sich der Baumwollanbau; im Fergana-Tal erreichte er fast die Hälfte der Nutzfläche. Das heutige Usbekistan gehörte teilweise dem Gouvernement Turkestan an; im Süden hielten sich die Khanante Buchara und Khiva als Protektorate Russlands. In der UdSSR gaben 1924 ethnisch-sprachliche Kriterien den Ausschlag für die Bildung von fünf nationalen Territorien, die 1936 den Status von Unionsrepubliken erhielten. Die Landwirtschaft wurde in Sowchosen und Kolchosen umorganisiert. Zentrales Augenmerk lag auf der Ausweitung der bebaubaren Fläche. Im Steppen- und Wüste ngebiet bedeutete das, die großen Ströme des Sirdarya und des Amudarya mit ihren Nebenflüssen, die im Hochgebirge entsprangen, durch ein System von Kanälen für die Bewässerung nutzbar zu machen. Möglich war dies durch eine großräumige Arbeitsteilung: Die an den Oberläufen gelegenen Republiken Kirgistan und Tadschikistan sahen von der Wasserentnahme ab und erhielten im Gegenzug Kohle, Öl und Gas zur Energieerzeugung. So blieb genug Wasser, um die Baumwollfelder in der usbekischen, kasachischen und turkmenischen Ebene zu speisen. Der Karakum-Kanal durch die „Schwarze Wüste“ dient als mächtiger Zubringer. Steppenflüsse haben von Natur aus die Eigenart, langsam zu versickern, ohne je zu münden. Durch die intensive Wasserentnahme trat dieser Zustand hier früher ein, sodass Amudarya und Sirdarya den im Nordwesten Usbekistans gelegenen Aralsee nicht mehr erreichten. Dies wurde von den Planungsbehörden bewusst als Preis für die Aus weitung der Baumwoll-Frontier in Kauf genommen. Keineswegs überraschend büßte der Aralsee in der Folge vier Fünftel seiner Oberfläche ein. Von fast 70.000 Quadratkilometern Wasserfläche im Jahr 1960 sind fast 90 Prozent verschwunden. Die ehemaligen Seeböden vertrockneten und versalzten.

Dank der Wasserinfrastruktur vergrößerte sich die Baumwollanbaufläche nach dem Zweiten Weltkrieg sprunghaft. Neuland wurde erschlossen. Die Bevölkerungsdichte in der agrarischen Intensivzone des Fergana-Tals stieg auf heute mehr als 400 Bewohner pro Quadratkilometer an. Während die feudalen und die religiösen Eliten durch die Sowjetherrschaft entmachtet und eliminiert wurden, nahm die Kollektivwirtschaft auf die traditionellen Strukturen der ländlichen Bevölkerung erstaunlicherweise große Rücksicht. Zwar wurden mit der Abschaffung der islamischen Rechtsordnung Verschleierung, Geschlechtersegregation und Polygamie verboten. Die großfamiliären Familienverbände mit dem Patriarchen an der Spitze, die das Zusammenleben und die Aufgabenbereiche der einzelnen Mitglieder regelten, blieben jedoch erhalten. In den Kolchosen setzten sich die Familienverbände nicht nur in der Wohnform, sondern auch in den Arbeitskollektiven fort. Sie bildeten z.B. a ls Gektarchi eine Brigade, die für einen Gektar (Hektar) Land verantwortlich war. Daneben betrieben sie ihre Subsistenzparzellen. Gleichzeitig konnten Frauen aufgrund der Beseitigung der religiösen Autoritäten durch Bildung und beruflichen Aufstieg die Großfamilie und auch das Dorf verlassen, wie es z.B. Egon Erwin Kisch in seinen Reportagen aus Zentralasien in den 1930er Jahren eindrucksvoll beschreibt.

Entwicklungsstaat oder Patrimonialstaat?

Die Einbindung traditioneller Verhältnisse in die kommunistische Welt erfolgte über die Formalisierung der Sozialbeziehungen durch staatliche Verwaltung. Staatsorgane und Partei bildeten gleichzeitig den Rahmen, in dem sich regionale Anführer zu bewegen lernten und diesen als Aushandlungsort für ihre Interessen nutzten. Planwirtschaft und Klientelismus bildeten eine Symbiose. Den ideologisch aufrechten Kommunisten an der Staatsspitze war der zentral-asiatische Hybridkommunismus stets ein Dorn im Auge. So entfachten sie Anfang der 1980er Jahre eine Kampagne, die die seit über 20 Jahren im Amt befindlichen Zentralsekretäre der zentralasiatischen Republiken der Korruption und der Verfälschung des Plans bezichtigten. Der 24 Jahre lang gediente Zentralsekretär Usbekistans, Sharif Raschidov, wurde 1983 bezichtigt, die Ergebnisse der Baumwollernte geschönt zu haben. Er überlebte die „Usbekische Affaire“ nicht. Nach der Wende wurden die damals Verurteilten rehabilitiert und heute ziert eine Rashidov-Statue einen Park unmittelbar gegenüber vom Unabhängigkeitsplatz in der Hauptstadt Taschkent.

Die Sowjetepoche wird im unabhängigen Usbekistan sehr ambivalent dargestellt. Zwar distanziert man sich von Ideologie und Zwang, verweist aber in der Öffentlichkeit stolz auf die Errungenschaften der Modernisierung. Die staatliche Unabhängigkeit hat niemand gewollt. Nun muss die neue Staatsführung sie feiern und dem Volk nahebringen. An Stelle der kommunistischen Idole verkörpern nun zwei Männer das neue Usbekistan. Erstens der allgegenwärtige Amir Timur, jener Fürst, der im 15. Jahrhundert aus Samarkand ein Reich vom Mittelmeer über Nordindien bis zur chinesischen Grenze errichtet hatte. Und zweitens Ismail Karimov, der erste Präsident, der die Geschicke des Landes – ganz in der Tradition der Generalsekretäre der patrimonialen Ära – von 1991 bis zu seinem Tod 2016 lenkte.

Unbestreitbar ist Usbekistan ein autoritäres Regime. Eine politische Opposition gibt es ebenso wenig wie eine Zivilgesellschaft im westlichen Verständnis. Der Interessensausgleich läuft über Seilschaften, die mit bestimmten Regionen, Wirtschaftssektoren, Ministerien und deren Patronage-Netzwerken verbunden sind. Der Islam ist quasi offizielle Staatsreligion. Imame werden in staatlich kontrollierten theologischen Lehranstalten ausgebildet und vermitteln die Staatsideologie an die Bevölkerung. Jede andere Lesart des Islam – insbesondere diejenige, die eine islamische Rechtsordnung befürwortet – wird massiv unterdrückt und im Keim erstickt.

Den schwierigen Weg von der Unionsrepublik in die staatliche Unabhängigkeit hat das Regime insofern gemeistert, als es die Strukturen aus der Sowjetzeit weitgehend bestehen ließ. Die sozio-ökonomische Transformation des 32-Millionen-Einwohner-Staates in Richtung einer Nationalökonomie wurde dosiert, schrittweise und mit festen staatlichen Zügeln in Angriff genommen. Reformfeindlich – kritisieren die einen, während andere die Vermeidung sozialer Härten und politischer Sprengkraft loben, die in Usbekistan immer auch eine ethnische und religiöse Komponente hat. Wirtschaftspolitisch steht das Regime Karimov – auch in Person seines Nachfolgers – für eine Stärkung der usbekischen Eigenständigkeit. Der Präsident repräsentiert die Nation. Nachdem keine großräumige Einbindung mehr existiert, soll Usbekistan durch Diversifizierung der Wirtschaftssektoren, Importsubstitution, die Verringerung der Abhängigkeit von Nahrungsmittel- und Energ ieimporten und den Ausbau einheimischer Verarbeitungskapazitäten möglichst unangreifbar gemacht werden. Die aufzubauende Automobilindustrie mit Chevrolet, eine Tochter des GM-Konzerns, soll ein Flaggschiff werden. Der hohe Einfuhrzoll für ausländische Kraftfahrzeuge bewirkt, dass außer ein paar sowjetischen Restbeständen alle Fahrzeuge usbekische Chevrolets sind. Sie fahren großteils mit Gas aus heimischen Lagerstätten, die mit russischen Partnern ausgebaut werden. Im Textilbereich gehören die einheimischen Kapazitäten chinesischen und koreanischen Konzernen.

Im Agrarbereich gelang es, die alles dominierende Baumwolle zugunsten von Weizen zurückzudrängen. Zwischen 1988 und 2004 ging die Baumwollanbaufläche von 20.000 Quadratkilometern auf 13.000 Quadratkilometer zurück; die Weizenanbaufläche stieg in dem Zeitraum auf 12.000 Quadratkilometer. Mit 5,2 Millionen Tonnen im Jahr 2004 deckt das Land seinen Weizenbedarf nun zur Gänze aus eigener Produktion.

Trotzdem bleibt Baumwolle nach wie vor das wichtigste Anbau- und Exportprodukt. 2004 sorgte sie für 30 Prozent des Sozialprodukts, 40 Prozent der Beschäftigung und 25 Prozent der Exporteinnahmen. Sie bildet das Rückgrat der usbekischen Landwirtschaft. Auf Baumwolle zu verzichten, wird der Regierung zwar von allen möglichen internationalen Rat- und Geldgebern nahegelegt. Das „weiße Gold“ ist in Usbekistan jedoch in einem so hohen Ausmaß als Cashcrop und Einkommensquelle eingewachsen, dass ein rasches Ende ganz und gar unrealistisch ist.

Durch die Vergabe der Subsistenzparzellen wurde auf soziale Verträglichkeit der Privatisierung geachtet. Die Selbstversorgungsbasis der Familien blieb gewährleistet und half ihnen, den Schock des Systemwechsels abzufedern. Gleichzeitig entstand damit eine Art von landgestütztem Semi-Proletariat, das den Fermern als flexible billige Arbeitskraft zur Verfügung steht, zumal die kollektiven Ernteeinsätze der menschenrechtlichen Skandalisierung nicht standhielten. Das usbekische Dorf weist mit dieser Ergänzung von Fermern, Kontraktbauern und kleinstbäuerlichen Hauswirtschaften zwar keine soziale Gleichheit, jedoch eine hohe soziale Kohärenz auf. Es wurde durch die Aufwertung der Nachbarschaftsgemeinde (Mahallah) zur selbständigen Regelungsinstanz kommunaler Angelegenheiten auch politisch gestärkt.

Kann der usbekische Staat tatsächlich als Garant eigenständiger nationaler Entwicklung und sozialer Verträglichkeit der Marktmechanismen angesehen werden? Jeder Akt der Regulierung, wie etwa die Vergabe von Pachtverträgen, die Festlegung der Erzeugerpreise, der Export der Baumwolle oder die Lizenz für einen Investor stellt einen Moment der Umverteilung von den Produzenten zu den Inhabern der staatlichen Pfründe dar. Dies ist ein gängiger und wohl auch zutreffender Vorwurf liberaler Kritiker des staatlich gezügelten usbekischen Kapitalismus. Ohne Aufhebung der Quoten, die Freigabe der Preise und des Verkaufs sei eine Erhöhung der Flächenerträge und der Effizienz nicht möglich. Doch kann daraus ein Plädoyer für marktliberale Reformen abgeleitet werden?

Die ökologische Frage

Das ökologische Desaster des Aralsees ist eine unumkehrbare Tatsache, die der historischen Ausweitung des Baumwoll-Anbaus geschuldet war. Der Umgang mit Wasser und Boden betrifft jedoch die Zukunft des ganzen Landes. Während die Bodennutzung durch die Privatisierung eine neue Rechtsgrundlage erhielt, ist die Wasserfrage ein offener Konfliktfall.

Die unionsweiten Institutionen, die in der UdSSR für die Instandhaltung der Bewässerungsinfrastruktur gesorgt haben, sind zerfallen, die Anlagen veraltet, der Zugang der einzelnen Nutzer ungeregelt. Der Konflikt um das Wasser beginnt in den Dörfern, wo die Kleinbauern gegenüber den Fermern benachteiligt werden, und endet in zwischenstaatlichen Konflikten über die Entnahme des sprudelnden Nass. Da es keine Wasserrechte gibt, gilt das Recht des Stärkeren.

Die Beilegung der Ressourcenkonflikte harrt einer übergreifenden Lösung, die neuer Institutionen der Aushandlung zwischen den beteiligten Staaten und den verschiedenen Akteuren bedarf. An die Stelle der planwirtschaftlichen Wasserzuteilung an die Kolchosen sind in den Dörfern in den letzten Jahren Wasser-Genossenschaften getreten, die die Zuteilung regeln. Ohne Wasserrechte ist es vorteilhaft, gute Beziehungen zum Wassermeister zu pflegen. Für die Instandsetzung der maroden Infrastruktur fehlt es indes an Geld. So geht weiterhin viel Wasser verloren.

Auf überregionaler Ebene soll ein wasserwirtschaftliches Gesamtmanagement die Verteilung koordinieren. Auch hier herrscht aus Angst, vom lebensspendenden Wasser abgeschnitten zu werden, gelegentlich das Faustrecht. Im April 2018 schlugen in der von kirgisischem Staatsgebiet umgebenen usbekischen Enklave Soch Bewohner einen Mitarbeiter der kirgisischen Wasserpumpstation Schiretsch krankenhausreif. Nozilakhon Mukhamedova, Agrarökonomin am Irrigation Institute der Taschkenter Landwirtschaftsuniversität, kommt in ihrer Studie über die lokalen Wasserverbände dennoch zu einer optimistischen Schlussfolgerung: Die Abwesenheit der Männer durch die Arbeitsmigration eröffne den daheim gebliebenen Frauen die Möglichkeit, die Aufgabe der Wassermeisterin zu übernehmen – eine Position, die bisher stets Männern vorbehalten war.

Andrea Komlosy ist Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien

Quellen:
Die Autorin hat auf einer Usbekistan-Reise im September 2019
Einblicke in die Baumwollwirtschaft gewonnen. Daten und
Hintergrundinformationen stammen aus: The Cotton Sector in Central
Asia, hg. Deniz Kandiyoti (London SOAS 2007), v.a. die Beiträge von
M. Spoor, I. Abdullaev und T. Trevisani · Zentralasien 13. bis 20.
Jahrhundert, hg. Bert Fragner/Andreas Kappeler (Wien 2006), v.a. die
Beiträge von A. Kappeler und P. G. Geiss · Tommaso Trevisani, Land
and Power in Khorezm. Farmers, Communities, and the State in
Usbekistan’s Decollectivisation (Münster 2008) · Nozilakhon
Mukhamedova, Frauen als Wassermeister? Arbeitsmigration und
Feminisierung der Landwirtschaft in Tadschikistan und Usbekistan, in:
Zentralasien-Analysen Nr. 124 (27.4.2018).

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