Wo banaler Neoliberalismus Trumpf ist

Schon seit Jahren bezeichnet die Wirtschaftspresse das Ehepaar Esther Duflo und Abijith Banerjee als die zwei „heißesten Wirtschaftswissenschaftler“. Nun haben sie es geschafft und werden am 10. Dezember zusammen mit ihrem Kollegen Michael Kremer mit dem sogenannten „Wirtschaftsnobelpreis“ ausgezeichnet (siehe Kasten). Sie werden „für ihren experimentellen Ansatz“ geehrt, „globale Armut zu lindern“, wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften bekanntgab. Sie sind „Mikro-Entwicklungsökonomen“, die angeblich die Wirtschaftswissenschaften revolutioniert haben.

Die beiden Wissenschaftler des renommierten Massachussetts Instituts of Technology (MIT) füllten in den vergangenen Jahren an Universitäten große Hörsäle. Sie haben schon zahlreiche Preise gewonnen. Esther Duflo hat im Beraterstab von Barak Obama mitgearbeitet. Für ihr Buch „Poor Economics – Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut“ erh ielt das französisch-amerikanisch-indische Ehepaar bereits 2011 den mit 40.000 Dollar dotierten Preis für das „Wirtschaftsbuch des Jahres“, ausgelobt von der Zeitung Financial Times und der US-Bank Goldman Sachs.

„Wenn man den Kampf gegen die Armut dauerhaft führen will, sind Versuch und Irrtum, Kreativität und Geduld unverzichtbar – nicht um ein Patentrezept zu finden, das es nicht gibt, sondern um eine Reihe kleiner Fortschritte zu erzielen, die schon heute das Leben der Ärmsten verbessern.“

Zitat aus „Kampf gegen die Armut“,

Esther Duflo, 2013, S.182

Dieser Ansatz klingt zunächst ganz pragmatisch und ergebnisoffen. Anhand mehrerer Vergleichsstudien untersuchte die Entwicklungsökonomin gemeinsam mit ihrem Mann das Verhalten der Armen exemplarisch in mehreren Ländern des globalen Südens. Vergleichende Studien, wie man sie aus der Medizin kennt, auf die Armutsforschung anzuwenden – das ist im Wesentlichen der Ansatz, den die beiden verfolgen. Nicht zuletzt diese Methode hat sie zu den meistzitierten Ökonominnen und Ökonomen der Gegenwart gemacht.

„Wir leben nicht mehr im Mittelalter, sondern im 21.Jahrhundert. Und schon im 20 Jahrhundert haben diese Vergleichsstudien die Medizin revolutioniert, indem sie uns ermöglicht haben, zwischen Arzneien zu unterscheiden, die wirken, und jenen, die nicht wirken“, erklärt Dulfo. Diese Studien könne man auch für auf die Sozialpolitik anwenden, „diese den gleichen, rigorosen wissenschaftlichen Tests unterziehen wie Arzneien“. Sozialpolitik beruhe, so behauptet Duflo, dann nicht mehr auf Mutmaßungen. Im Fokus der Wissenschaftler stehen die Bereiche Bildung, Gesundheit und Finanzdienstleistungen.

Wenn bürgerliche Ökonomen über Armut schreiben, ist Vorsicht angebracht. Lange Zeit waren die Armen vor allem statistisches Material, waren Gegenstand makroökonomischer Untersuchungen. Selbst befragt wurden sie selten. Die beiden Entwicklungsökonomen gehen einen anderen Weg. Sie konzentrieren sich auf die Mikroebene, reden nicht nur über, sondern auch mit den Armen – vor allem über ihr Kaufverhalten. Darüber reden und schreiben sie gerne: In einem abgelegenen Dorf in Marokko erzählte ihnen ein Kleinbauer, dass er gerne mehr und bessere Lebensmittel kaufen würde. „Wir hatten großes Mitleid mit ihm und seiner Familie“, schreiben sie in ihrem Buch „Poor Economics“. Bis sie einen Fernseher, einen DVD-Spieler und eine Satellitenantenne entdeckten. Sie fragten den Bauern, warum er all diese Dinge gekauft habe, wenn er glaube, seine Familie habe nicht genug zu essen. Er habe gelacht und geantwortet: „Ach, Fernsehen ist wichtiger als Essen!

Banerjee und Duflo wollten ihren Protagonisten verstehen. Nach einigen Tagen im Dorf kam ihnen die Erkenntnis: Das Leben dort ist zu langweilig, deshalb ziehen Arme es vor, fernzusehen statt ausreichend zu essen. Oder in Indien: In dem von ihnen untersuchten Dorf gaben selbst die Ärmsten 14 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für geistliche oder weltliche Feiern aus. „Das menschliche Grundbedürfnis nach ein paar Vergnügungen könnte erklären, warum die Ausgaben für Nahrungsmittel in Indien zurückgegangen sind“, schlussfolgern Banerjee und Duflo.

Eine Binsenweisheit: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Aber heißt das, wie von den Entwicklungsökonomen nahegelegt, dass viele der knapp eine Milliarde Hungernden auf der Welt eigentlich gar keinen Hunger leiden müssten, wenn sie nur andere Prioritäten setzten? Oder hat – Beispiel Indien – vielmehr der neue Reichtum der indischen Ober- und Mittelschicht zur weiteren Verarmung der Bevölkerungsmehrheit geführt? Darauf geben die Entwicklungsökonomen, die sich an vielen Stellen des Buches in psychologischen Deutungen über die Entscheidungsfindungen der Armen versuchen, keine Antwort. Sie beschäftigen sich zwar ausführlich mit der Mikroebene, haben aber die Makroebene fast gänzlich aus dem Blick verloren. Privatisierungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, Globalisierung und Exportorientierung, Finanzmarktspekulationen, Ausbeutung der Arbeit, Vertreibung und Verschuldung finden bei Banerjee und Duflo als strukturelle Ursachen der A rmut keine Erwähnung. Stattdessen bemühen sie die umstrittene These von der Überbevölkerung.

Die beiden Entwicklungsökonomen schwören auf Mikrokredite, denen sie sich ausführlich in ihrem Buch widmen. Mit Hilfe einer langfristigen Vergleichsstudie in mehreren Slums der indischen Megacity Hyderabad haben sie die sozialen Auswirkungen dieser Darlehen untersucht. Ihr Fazit: „Mikrokredite haben ihren Platz unter den Schlüsselinstrumenten im Kampf gegen die Armut redlich verdient.“

Den empirischen Beweis für ihre These bleiben sie allerdings schuldig: Die soziale Wirksamkeit der Mikrokredite, das sagt ihre Vergleichsstudie, sei nicht messbar, weder bei der Gesundheitsversorgung noch bei der Bildung. Im Gegenteil: Die Familien der Kreditnehmer üben sogar Konsumverzicht, um die wöchentlichen Raten bezahlen zu können. Wie kommen Banerjee und Duflo dann zur positiven Bewertung ihrer Studienergebnisse? Ganz einfach: Mit Hilfe der Mikrokredite ist es gelungen, die Armen in die Finanzwelt einzubinden. Für die beiden Entwicklungsökonomen ist die Teilnahme der Armen am Marktgeschehen reiner Selbstzweck, dem offensichtlich alle anderen Indikatoren untergeordnet sind.

Dabei stilisieren sie sogar den Konsumverzicht zur Tugend. Banerjee und Duflo loben ausdrücklich die disziplinierende Wirkung der Mikrofinanz auf die Armen. Die Mikrokreditempfänger in Hyderabad hätten auf Snacks – in Indien salzige Teigwaren, die als Zwischenmahlzeit während eines harten Arbeitstages dienen – und süßen Tee verzichtet, um ihre Kreditraten zahlen zu können.

Die Lösungsstrategien der Mikro-Entwicklungsökonomie setzen am vermeintlich individuellen Fehlverhalten der Armen an: Als innovativ betrachtet Duflo etwa auch einen Vertrag, den ein philippinisches Mikrokreditinstitut mit Raucherinnen und Rauchern abschließt. Dabei verpflichten die sich, das Rauchen aufzugeben und regelmäßig auf ein zinsloses Sparkonto den Betrag einzuzahlen, den sie sonst für Zigaretten ausgeben. Gelockt werden sie mit 50 Pesos Startguthaben – umgerechnet weniger als ein Dollar. Nach sechs Monaten wird getestet. 89 Prozent der von Duflo erfassten Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten doch geraucht und verloren ihre gesamten Ersparnisse. Das riecht nach Abzocke – dennoch hält die Wissenschaftlerin das Programm für erfolgversprechend: In der Kontrollgruppe, so schreibt sie, hätten von den Rauchern, die keinen Vertrag abgeschlossen hatten – statt elf nur acht Prozent aufgehört.

Hohe Fehlzeiten von Schullehrern in Kenia, die wegen ihrer schlechten Bezahlung nebenher in anderen Jobs arbeiten müssen, will Duflo nicht etwa durch eine Lohnerhöhung bekämpfen. Vielmehr setzt sie auf befristete Arbeitsverträge, um die „Motivation der Lehrer zu steigern“.

Die als „Pragmatiker“ gelobten Wissenschaftler haben klare ideologische Wurzeln. Geschickt verbinden sie die Ziele des UN-Index’ für menschliche Entwicklung mit dem Konzept des sogenannten Humankapitals aus der neoklassischen Chicagoer Schule: Investitionen in Bildung und Gesundheit müssen Rendite generieren. „Die […] Lösung besteht darin, jede dieser Politiken gründlich zu testen und dabei sowohl den Preis als auch die Wirkung zu vergleichen“, so das Credo von Duflo.

Bildung und Gesundheit sind für sie „Motor eines ununterbrochenen Wachstums“. In beiden Sektoren setzt sie „auf die Dynamik der freien Marktkräfte“, die von Fall zu Fall mit staatlichen Mitteln subventioniert werden sollen und öffentlichen Einrichtungen in der Regel vorzuziehen seien.

Nie gab es so viel Reichtum auf der Welt und niemals zuvor so viele Arme, die nicht daran teilhaben können. Doch Duflo will nicht die gesellschaftlichen Ressourcen zu Gunsten der Armen umverteilen, sondern diese als Humankapital möglichst „kosteneffizient“ verwerten.

Wer den Armen in der Welt schon immer sagen wollte, wie sie sich am besten helfen können, kann sicherlich auch die Begeisterung der beiden Autoren über die „Gute Nachricht“ im Schlusskapitel von „Poor Economics“ teilen: Veränderungen ließen sich herbeiführen, „ohne die vorhandenen politischen und sozialen Strukturen über den Haufen zu werfen“, freuen sich Banerjee und Duflo.

Da sie die strukturellen Ursachen der Armut konsequent ausblenden, vermitteln sie kein „neues“, sondern vielmehr ein beschränktes Verständnis von Armut.

Gerhard Klas lebt und arbeitet als freier Journalist und Buchautor in Köln. Schwerpunktthemen: Armut, Reichtum, Entwicklungspolitik, Mikrofinanz, Weltwirtschaft, Ressourcen, Klimawandel und die Zusammenhänge zwischen all dem. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Philip Mader) Rendite machen und Gutes tun? Mikrokredite und die Folgen neoliberaler Entwicklungspolitik, Campus, 19,90 Euro

Literatur:

Poor Economics – Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut, Banerjee/Duflo 2012

Kampf gegen die Armut, Duflo 2013


Der sogenannte Nobelpreis für Ökonomie ist kein „echter“ Nobelpreis. Vielmehr wurde er erstmals 1969 von der schwedischen Reichsbank verliehen (siehe Seite 58). Bisher diente er vor allem dazu, neoliberale Theorien wissenschaftlich aufzuwerten.

Esther Duflo ist nach Elinor Ostrom 2009 erst die zweite Frau, die mit dem Preis ausgezeichnet wird. Offiziell heißt die Auszeichnung „Preis der schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften zum Andenken an Alfred Nobel“. Ausgezeichnet werden die Preisträger mit neun Millionen Kronen (etwa 830.000 Euro), einer Goldmedaille und einem Diplom.


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