Das Beispiel der Ölkrise 1973 ist lehrreich
Die Klimakonferenz in Madrid unterstreicht ein weiteres Mal: Die Klimaerwärmung ist in ein entscheidendes Stadium gelangt. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat das Wort längst durch den Begriff „Klima-Notfall“ ersetzt. Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, spricht davon, dass wir uns in einem „Irrsinnstempo auf eine unberechenbare globale Situation zubewegen.“
Trotz dieser Dramatik gibt es die weltweite Politik des „Weiter so“. Die Ölnachfrage steigt. Die Massenmotorisierung wächst. Mehr als 1000 neue Kohlekraftwerke sind konkret geplant; viele davon in Bau befindlich. Man kann nun auf China zeigen, wo aktuell neue Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 220 Gigawatt geplant und ein Dutzend solcher Kraftwerke im Stadium der Fertigung sind. Zum Vergleich: Das ist mehr als die gesamte installierte Kraftwerksleistung über alle Erzeugungsarten in Deutschland. Man muss gleichwohl vor allem vor der eigenen Tür kehren. Das neue Kohlekraftwerk in Moorburg bei Hamburg wurde von einer grünen Umweltsenatorin genehmigt und 2015 unter einem rot-grünen Senat in Betrieb genommen. Das in Bau befindliche neue Kohlekraftwerk in Datteln, NRW, wird mit einem Trick in Bälde doch noch ans Netz gehen, wobei ein gutes Drittel seiner Kapazität ausgerechnet die Deutsche Bahn mit Strom versorgen wird.1
Die Regierenden und die Mainstream-Medien produzieren weiterhin Tag für Tag die Ideologie, um die Situation zu bagatellisieren und die Klimaschützer, insbesondere die Fridays-for-Future-Bewegung, als naiv, lächerlich und auf Panikmache gebürstet zu präsentieren. Angela Merkel äußerte, Greta Thunberg habe nicht ausreichend zur Sprache gebracht, „in welcher Weise Technologie und Innovation […] uns Möglichkeiten eröffnen, die [Klimaschutz-] Ziele zu erreichen.“ Tatsächlich hat die Bundesregierung unter Angela Merkel die Solar- und Windbranche in Deutschland ausgebremst und dabei rund hunderttausend Arbeitsplätze vernichtet. Donald Trump twitterte über Greta Thunberg nach deren Rede in New York: „Sie wirkt wie ein sehr fröhliches junges Mädchen, das sich auf eine glänzende und wundervolle Zukunft freut. So schön zu sehen“. In einem Leitartikel in der Tageszeitung Die Welt vom 28. September war zu lesen: „Greta Thunberg [.. ] führt sich als Zuchtmeisterin auf […] und setzt erklärtermaßen auf das Anschwellen von Panik.“ Und der ehemals als seriöser Mahner auftretende Klimaforscher Hans von Storch wird heutzutage prominent zitiert, wenn er den Stammtisch mit Sätzen wie dem folgenden bedient: „In Schanghai hört keiner auf, Auto zu fahren, nur weil es in Deutschland jemand tut.“2
Der wesentliche Treiber der fatalen Entwicklung ist, wie in diesem Heft ausgeführt, der dem Kapital innewohnende Verwertungs- und Wachstumszwang. Aber auch konkret das stofflich massiv im fossilen Bereich angelegte Kapital. In diesen Tagen wird der bislang größte Börsengang geplant. Saudi Aramco, der weltweit größte Ölkonzern (er fördert zehn Prozent der globalen Rohölproduktion), will lediglich 1,5 Prozent des Unternehmens an die Börse bringen. Er wird dafür die Rekordsumme von 25 Milliarden US-Dollar erlösen. Der Gesamtwert des Ölriesens wird mit 1700 bis 2000 Milliarden US-Dollar angegeben – das Dreißigfache des Börsenwerts von Daimler.
Die Menschheit steht in wenigen Jahren vor dem Scheideweg. Entweder es kommt zu einer weltweiten Revolte, in der die dem Kapital innewohnenden Dynamik gestoppt, idealerweise das kapitalistische System überwunden und in diesem Zusammenhang auf demokratischer Basis radikale Maßnahmen zur Reduktion der CO2-Emissionen ergriffen werde. Oder es kommt zur Errichtung von kapitalistischen Öko-Diktaturen – begleitet von Ressourcenkriegen, militärischer „Abwehr“ gegen Flüchtlingsströme und einem Hightech-Einsatz zur Überwachung der zivilen Bevölkerung, wie er aktuell von Geheimdiensten wie der NSA geprobt und in China zunehmend flächendeckend angewendet wird. Denn die zu erwartenden Kipppunkte im Prozess der Klimaerwärmung werden kaum kontrollierbare Panikreaktionen und große Fluchtbewegungen auslösen. Darauf werden die Reichen und die selbst ernannten Eliten, unterstützt von den Herren in den Konzern- und Finanzzentralen, unter d em Verweis auf „Notstand“ mit der Errichtung offen totalitärer und faschistischer Systeme antworten.
Damit mag die Messlatte für eine wirksame Fünf-vor-zwölf-Politik zum Ausstieg aus dem Weg in die „unberechenbare globale Situation“ fast unerreichbar hoch liegen. Ein Sturz des Kapitalismus erscheint derzeit zumindest in den Zentren des Kapitalismus im Bereich der Utopie. Allerdings könnten aufgeklärte Regierungen – dann unter dem Druck von Massenbewegungen für Klimaschutz – durchaus radikale Maßnahmen zur Begrenzung der Klimaerwärmung beschließen. Sie könnten dabei auch auf eine Zustimmung in der Bevölkerung stoßen. Das Beispiel 1973 ist hier weiterhin erhellend.
Damals gab es – in Folge eines neuen Nahostkrieges und einer von den arabischen Ölförderländern in diesem Zusammenhang beschlossenen Ölverknappung – einen Anstieg des Rohölpreises um das Fünffache binnen eines Jahres.3 Dies löste eine weltweite „Ölkrise“ aus. In Westdeutschland wurde als direkte Reaktion auf die Krise unter einer SPD-FDP-Regierung mit Willy Brandt als Bundeskanzler binnen weniger Wochen ein Energiesicherungsgesetz beschlossen. Teil des Maßnahmenkatalogs war die Verordnung von vier autofreien Sonntagen. Konkret: Es gab ein allgemeines Fahrverbot an Sonntagen, beginnend mit dem 25. November 1973. Gleichzeitig wurde ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen eingeführt. Auch in der Schweiz und in den Niederlanden gab es autofreie Sonntage. In Österreich wurde „unbefristet“ ein Tempolimit von 100 km/h beschlossen.
Das Verblüffende war: Diese Maßnahmen stießen auf eine breite Zustimmung. Laut repräsentativen Umfragen begrüßten in der Bundesrepublik Deutschland bis zu 70 Prozent der Befragten die Maßnahmen. Der von vielen Medien zuvor herbeigeschriebene Massenprotest gegen den „Angriff auf des Deutschen liebstes Kind, das Auto“, blieb aus. Wobei die Beschlüsse keineswegs nur als Notmaßnahmen empfunden wurden. Sie wurden vielfach als Beitrag gegen Umweltzerstörung und als Zugewinn von Lebensqualität verstanden.
Es war eine kleine radikale Minderheit in der Gesellschaft, es waren die Ölwirtschaft und die Autoindustrie, die erfolgreich darauf drangen, dass diese Maßnahmen dann schnellstmöglich wieder rückgängig gemacht wurden. Seither hat sich die Ölförderung weltweit fast verdoppelt.4
In den aktuellen Debatten und bei Veranstaltungen über Klimaschutz gibt es seitens älterer Bürgerinnen und Bürgern immer wieder positive Verweise auf die „autofreien Sonntage“.
Das neue Entstehen einer Klimadebatte und die mit Fridays for Future vorhandenen Ansätze einer Massenbewegung gegen die Klimaerwärmung müssen weiterentwickelt und mit den Erfahrungen aus der Ölkrise 1973 bereichert werden. Aktuell fehlen der neuen Bewegung wenige vereinheitlichende Losungen, die ihr den notwendigen neuen Antrieb verleihen könnten. Autofreie Tage, ein Tempolimit bzw. nochmals deutlich reduzierte Geschwindigkeitsbegrenzungen im Autoverkehr und ein Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr könnten solche Losungen sein.
Anmerkungen:
1 In das neue „Kohleausstiegsgesetz“ wurde die folgende – auf das Kohlekraftwerk Datteln zielende – Passage eingefügt. Dort heißt es einerseits: „Es ist verboten, neue Stein- und Braunkohleanlagen in Betrieb zu nehmen“. Andererseits gibt es dann den fatalen Zusatz: „… es sei denn, für die Kohleanlage wurde bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung erteilt.“ Diese Passage könnte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens im Bundestag noch aus dem Gesetz gestrichen werden.
2 Zitiert in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Dezember 2019.
3 Im September 1973 lag der Preis für ein Barrel Rohöl (159 Liter) bei drei US-Dollar. Wenige Wochen später waren es 5 US-Dollar. Ende 1974 waren es zwölf US-Dollar. Der Ölpreisanstieg im Herbst 1973 betrug 70 Prozent. Er reichte aus, um die im Folgenden beschriebenen weitreichenden Maßnahmen zu beschließen.
4 Von 2360 Millionen Tonnen Anfang der 1970er Jahre auf 4450 Millionen Tonnen 2018. Siehe die Quartalslüge in Lunapark21, Heft 46.