Oder: Die Notwendigkeit des gewerkschaftlichen Kampfes zur Erhaltung der Gesundheit, für ein menschenwürdiges Leben während der Arbeit und danach – und zur Reduktion der Arbeitslosigkeit
Anton Kobel/Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 28
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. November fand sich ein bemerkenswerter ganzseitiger Artikel mit der Überschrift „Papa sein“. In dem Beitrag wird beschrieben, wie schwierig es ist, ein anstrengendes Berufsleben mit einer verantwortungsvollen Rolle als Vater zu vereinbaren. Dabei geht es nicht um irgendeinen Beruf und nicht um irgendeinen Menschen. Es geht um den Beruf des Top-Managers im Allgemeinen und um Mohamed El-Erian im Besonderen, einen Mann, der bis vor kurzem Vorstand bei Pimco, dem größten Rentenfonds der Welt, war. El-Erian verwaltete rund ein Jahrzehnt lang Anlagen im Wert von zwei Billionen US-Dollar – das entspricht fast der gesamten Staatsschuld Deutschlands.[1] Im Artikel wird am Beispiel von El-Erian das anstrengende Wechselschicht-Leben von Top-Managern beschrieben, die im Jahr 300000 Meilen als CEO, also als Vorstandsvorsitzende, um die Welt fliegen und zwischen den USA, Asien und London pendeln. Zwischendrin, so wird kundgetan, gönnten sie sich auch mal „Quality Time“, in der sie bei Frau und Kind sind, wobei dann diese wenigen Stunden „sinnvoll und bewusst genutzt“ würden.
Wechseln wir von dem großbürgerlichen Qualitätsprintmedium zum VORAUS, dem Qualitätsprintmedium der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, der GDL. In der Ausgabe dieses GDL-Mitgliedermagazins vom November 2014 findet sich ein Artikel, der ebenfalls mit „Papa sein“ hätte überschrieben sein können. Es handelt sich um den „Erfahrungsbericht eines Zugbegleiters“. Auch hier geht es um die Schwierigkeiten, wie die konkrete berufliche Arbeit mit einem Familienleben, mit den Aufgaben eines verantwortungsvollen Vaters und mit dem übrigen sozialen Leben zu vereinbaren sei. Dort heißt es: „Vom 5. bis zum 15. September war ich keinen Tag kürzer als zwölf Stunden unterwegs, in den Spitzenstunden 14, 15 und einmal sogar 16 Stunden. Die Tageszeiten reichten von 4 bis 15, 9 bis 21 oder 11 bis 1.30 Uhr. Vom 16. bis 21. September hatte ich Zeit für all das, was davor zu kurz gekommen ist, also Familie, Freunde, Reparaturen, Renovierung, Gartenarbeit und so weiter. Das Problem ist: Man kann in der Freizeit Energie nicht aufladen und sie dann passend zur Arbeit wieder abrufen. Das lässt der Biorhythmus nicht zu, der Akku ist dann einfach leer. Vom 22. bis zum 30. September hatte ich dann wieder Dienst, mit Schichten bis zu 15 Stunden und einer unfreiwilligen Übernachtung wegen verspätetem Dienstende.“
In der Schwäbischen Zeitung vom 23. Oktober 2014 fand sich ebenfalls ein Bericht zur Schichtarbeit des Zugbegleitpersonals. In diesem Fall um einen konkreten Wochendienstplan einer Zugbegleiterin mit Namen Alexandra Schleinitz. Er kann als Ergänzung zu dem Bericht im Magazin VORAUS gelesen werden. Die Arbeits- und Ruhezeiten der Kollegin – ebenfalls ein GDL-Mitglied – lesen sich wie folgt.
Montag: Ruhe
Dienstag –
Dienstzeiten: 14.21 bis 0.33 Uhr
Mittwoch –
Dienstzeiten:11.19 bis 21.09 Uhr
Donnerstag –
Dienstzeiten: Ruhe
Freitag –
Dienstzeiten: 4.37 bis 12.52 Uhr
Samstag –
Dienstzeiten: 6.49 bis 15.33 Uhr
Sonntag –
Dienstzeiten: 7.51 bis 17.33 Uhr
Der im VORAUS berichtende Zugbegleiter verweist darauf, dass seine Frau Teilzeit arbeitet und dass beide sich aufgrund ihrer nicht untereinander abstimmbaren Arbeitszeiten ein zweites Auto zulegen mussten. Das dürfte unter Berücksichtigung des gesamten Pkw-Lebenszyklus mit zusätzlichen monatlichen Kosten in Höhe von 350 bis 500 Euro zu Buche schlagen, was wieder einen Teil des Haushaltseinkommens auffrisst. Weiter wird berichtet, dass beide Elternteile es oft nur mit äußerster Mühe schaffen würden, die Kinder von den jeweiligen Einrichtungen abzuholen bzw. sie dorthin zu bringen. Der Zugbegleiter bilanziert: „Meine Frau ist durch meine langen Abwesenheiten mehr belastet als es dauerhaft gut auszuhalten ist. Insbesondere, wenn der Nachtschlaf durch Krankheiten oder Albträume der Kinder immer wieder gestört wird. Wann soll ich mit meinen Kindern Hausaufgaben machen? […] Selbst wenn die Kraft vorhanden wäre, ich habe einfach keine Zeit mehr, um mich in die Gewerkschaftsarbeit, in die Aktivitäten der Schulklassen und der Kita einzubringen. Teilnahme am sozialen Leben sieht anders aus! Kurz gesagt: Die Entscheidungen in der Schichtplanung strahlen negativ bis weit in die sozialen Strukturen von uns Arbeitnehmern hinein. […] Damit keine Missverständnisse aufkommen: Eigentlich mag ich meine Arbeit. Ich schätze […] den Kontakt zu den Menschen. […] Doch Schichten, die sich nur an der Wirtschaftlichkeit und hart an den Grenzen des Arbeitsrechts orientieren, sagen mehr über soziale Standards aus, als alle öffentlichkeitsheischenden Parolen über Top-Arbeitgeber. […] Was würde wohl geschehen, wenn es diese juristischen Grenzen zum Schutz der Arbeitnehmer nicht gäbe?“
Ein gewisser Karl Marx hat sich dieser Frage aus GDL-Kreisen durchaus gewidmet. Er schrieb: „Die Verlängerung des Arbeitstags über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein, wirkt nur als Palliativ [Beruhigungsmittel], stillt nur annähernd den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut. Arbeit während aller 24 Stunden des Tags anzueignen ist daher der immanente Trieb kapitalistischer Produktion.“[2] Nur die Arbeit rund um die Uhr und dies an sieben Tagen in der Woche bildet die Grenze in diesem ausbeuterischen Prozess.
Forderungen der GDL im Arbeitskampf
Ausgangspunkt der GDL-Forderungen ist eine Erweiterung des Geltungsbereiches eines neuen Tarifvertrag, der nicht mehr nur für die bei der GDL organisierten Lokführerinnen und Lokführer, sondern für das gesamte Zugpersonal, insoweit dieses bei der GDL organisiert ist, gelten soll. Das sollen die Zugbegleiter, Bordgastronomen, Instruktoren/Trainer und Disponenten sein.
Das Paket der GDL enthält die Forderungen nach Erhöhung der Entgelte für alle um 5 Prozent. Für die langjährig Beschäftigten, die 30 bzw. 35 Jahre im Beruf arbeiten, soll es zwei neue „Erfahrungsstufen“ geben, die monatlich je 60 Euro zusätzliches Einkommen bringen sollen. Darüber hinaus wird eine Mitarbeiterbeteiligung bei den Konzern-Gewinnen gefordert.
Während diese Forderungen in der Öffentlichkeit weitgehend bekannt sind (und teilweise demagogisch diskutiert werden), enthält das GDL-Forderungspaket auch qualitative Forderungen zur Länge und vor allem zur Lage der Arbeitszeiten. Diese lauten:
• Verkürzung der tariflichen Arbeitszeit von derzeit 39 Stunden auf 37 Stunden pro Woche
• Eine Stunde weniger maximale Fahrzeit auf Triebfahrzeugen
• Eine Begrenzung der bisher tariflich unbegrenzt möglichen Überstunden auf maximal 50 Stunden im Jahr
• Ein 50-prozentiger Zeitzuschlag bei Schichtverlängerungen
• Maximal fünf Schichten innerhalb von 120 Stunden (= 5 Tage) statt bisher sieben Schichten in 144 Stunden
• Freie Wochenenden müssen mindestens von Freitag 22 Uhr bis Montag 6 Uhr dauern.
• Dienstbeginn am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub nicht vor 6 Uhr.
Es fällt auf, dass insbesondere auch aus dem Kreis der DGB-Gewerkschaften diese Forderungen weitgehend unkommentiert bleiben. Fast muss man sagen: Man sieht verschämt weg. Handelt es sich doch eigentlich um Forderungen, wie sie traditionell ab Ende der 19070er Jahre in den Bereichen Stahl, Metall und Druckindustrie entwickelt, von den DGB-Gewerkschaften IG Metall, IG Druck und Papier (später IG Medien, dann verdi) aufgegriffen wurden. Was dann in harte Arbeitskämpfe mündete, die zunächst weitgehend erfolgreich zu deutlichen Arbeitszeitverkürzungen und zu einer Reduktion der Arbeitsbelastung geführt hatte. Seit der Niederlage der IG Metall im ostdeutschen Arbeitskampf im Jahr 2003 kam es auf diesem Gebiet zu einer deutlichen Gegenbewegung: Die real geleisteten Arbeitszeiten verlängerten sich wieder um mehr als 2 Stunden pro Woche. Die Arbeit selbst wurde enorm verdichtet. Auch bei der Deutschen Bahn AG wurde die Arbeitszeit im Jahr 2007 von 37 auf 39 Stunden verlängert – damals mit Zustimmung von EVG und GDL.
Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung im Bereich des besonders von Schichtarbeit betroffenen Zugpersonals heißt also einerseits, die jüngste Arbeitszeitverlängerung zurückzunehmen. Andererseits würde dies zum ersten Mal seit rund eineinhalb Jahrzehnten den Wiederbeginn beim Einstieg in eine deutliche Arbeitszeitverkürzung – gewissermaßen ein Neuanlauf zur 35-Stunden-Woche sein. Es ist tragisch, dass diese Chance von den DGB-Gewerkschaften nicht gesehen, ja dass bewusst weggeschaut wird.
Humanisierung der Arbeit
Mit den – in dem Kasten zusammengefassten – qualitativen Forderungen will die GDL per Tarifvertrag einen Beitrag zur Minderung und Milderung der hier beschriebenen Belastungen leisten. Sie knüpft damit – bewusst oder unbewusst – an eine lange, schon einige Jahrzehnten zurückliegende und inzwischen fast schon vergessene Debatte in allen DGB-Gewerkschaften, in der damaligen SPD und bei den später hinzu kommenden Grünen an. Damals, in den 1970er Jahren, ging es vor allem um die Belastungen durch Bandarbeit und Zeitvorgaben in den industriellen Arbeitsprozessen. Die IG Metall führte deshalb im Herbst 1973 in Nordwürttemberg/Nordbaden mit dem Bezirksleiter Franz Steinkühler einen heftigen Arbeitskampf (Steinkühler war auf den legendären IG-Metaller Willi Bleicher gefolgt). Dieser Kampf brachte im Ergebnis Verbesserungen bei den Erhol- und Taktzeiten. Noch heute gibt es die „Steinkühler-Pause“. Zehn Jahre später, 1984, führten IG Metall und IG Medien (ehemals Druck und Papier) einen knapp siebenwöchigen Arbeitskampf für die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 35 Stunden. Hier war die Begründung „Verkürzung wegen der zunehmenden Belastungen“ deutlich erweitert worden. Ausdrücklich ging es nun auch um familiäre, emanzipatorische und gesellschaftliche Argumente wie familienfreundliche Arbeitszeiten, mehr Zeit für gesellschaftliches Leben und Engagement sowie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Schaffung neuer Arbeitsplätze infolge der Arbeitszeitverkürzung.
An diese Arbeitskämpfe in der Tradition der DGB-Gewerkschaften schließt sich die GDL-Forderung im Arbeitskampf 2014/2015 inhaltlich nahtlos an. Inzwischen wissen viele, wie belastend die Arbeit und vor allem auch die Arbeitszeiten des Zugpersonals sind. Letztere finden, wie beschrieben, meist nicht im „normalen Schichtdienst“ statt. Die „normale Schichtarbeit“ ist bereits stressig genug. In dieser wechseln sich wöchentlich Früh-, Mittags- und ggf. Nachtschicht ab. Üblich sind bei der Bahn allerdings Arbeitszeiten in „Wechselschicht“, in der sich, wie an den beiden Beispielen beschrieben, unterschiedlich lange Früh-, Mittags- und Nacht-Schichten von Tag zu Tag und im Verlauf einer Woche abwechseln.
Diese Arbeitszeiten in Wechselschicht sind physisch und psychisch noch belastender als es die „normale Schichtarbeit“ bereits ist. Die Gestaltung der Schichtpläne – Wann gibt es zusammenhängende, freie Tage? Wann, d.h. an welchen Tagen zu welchen Uhrzeiten, beginnen Schichtpläne? – können die Belastungen mindern oder verschärfen.
Teilnahme am familiären und gesellschaftlichen Leben
Arbeitszeiten in Schicht- und Wechselschicht haben unmittelbar Folgen für das familiäre Leben, für das Verhältnis der (Ehe-)Partner untereinander, für deren Verhältnis zu ihren Kindern und deren Erziehung. Die Pflege von Freundschaften, die Teilnahme an Vereins- und Parteileben, an Kultur und Elternabenden in Kitas und Schulen – all dies wird von diesen Arbeitszeiten geprägt. Im Klartext: Familienbande werden zerschnitten. Freundschaften gehen in die Brüche. Die Kinder werden entfremdet. Ein kulturvolles Leben ist kaum möglich. Nervöse, gestresste, immer wieder durch ihre Arbeit bei der Bahn erkrankte Elternteile sind Ergebnisse dieser Arbeitsbedingungen.
Auch deshalb sind kritische bis unsolidarische Kommentare aus DGB-Gewerkschaftsvorständen zu diesem GDL-Arbeitskampf unverständlich und falsch. Die qualitativen Forderungsteile zur Länge und Lage der Arbeitszeiten sind angesichts aller Erfahrungen der Arbeitenden und ihrer Familien, der sich häufenden Berichte aller Krankenkassen, der Rentenversicherungsträger und sozialmedizinischen Forschungsergebnissen sowie der Gründe für die so oft vorgezogenen Eintritte in die Rente bzw. Pension auch aus gewerkschaftlicher Sicht überzeugend. Hilfreich wäre es, wenn die GDL hierzu spezielle Zahlen, auch über Berufsunfähigkeiten, öffentlich bekannt machen würde. Zu hören ist, dass besonders viele DB-Beschäftigte im Alter von 55-58 Jahre aus dem Beruf „aussteigen“ müssen.
Ein Beitrag gegen Arbeitslosigkeit und Lehrstellenknappheit
In den 1980er und 1990er Jahren wurden die Forderungen der DGB-Gewerkschaften nach Verkürzung von Arbeitszeiten, nach Begrenzung der Überstunden sowie nach einer menschenwürdigen Anordnung der Arbeitszeiten zu Recht mit der dadurch notwendigen Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen begründet. So wurde in der Öffentlichkeit argumentiert, aber auch gegenüber den Mitgliedern und den Belegschaften.
Nach Einschätzung der GDL würden durch eine zweistündige Arbeitszeitverkürzung rund 1000 zusätzliche Lokführer benötigt. Eine Humanisierung der Schichtpläne und Begrenzung der Überstunden erhöhten diese arbeitsplatzschaffende Wirkung. Zusammen mit der Besetzung von derzeit schon fehlenden rund 1000 Lokführerstellen hätte die Realisierung dieser Forderungen eine erfreuliche Wirkung für die Gesellschaft und den Arbeits- und Lehrstellenmarkt. Bedenkt man, dass eine Arbeitszeitverkürzung in einem Bereich der Bahn auf den gesamten Bereich der DB AG, ja den Schienenverkehr in Deutschland – und darüber hinaus! – ausstrahlen würde, dann kann die Bedeutung einer solchen Forderung gar nicht überschätzt werden. Allein bei der DB AG würde eine Arbeitszeitverkürzung um zwei Stunden rund 12000 neue Arbeitsplätze schaffen. Wobei, auch dies muss mitbedacht werden, die Zahl der Arbeitsplätze im Schienenverkehr im Zeitraum 1994 bis 2014 schlicht halbiert wurde – von 350000 auf aktuell rund 180000.
Fazit: Es gibt viele gute Gründe für die GDL, diese Forderungen zu erheben und zu vertreten. Und es gibt für Aktive und Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften viele gute Gründe, die GDL-Forderungen solidarisch zu unterstützen!
Drei Argumente pro & contra GDL-Solidarität
Im Wesentlichen gibt es drei Behauptungen, die von Linken in den DGB-Gewerkschaften gegen eine Solidarität mit der GDL vorgebracht werden.
Erstens. Die GDL ist im Sinne einer wirksamen Interessenvertretung der Beschäftigten nicht besser als die EVG.
Unbestritten ist, dass es bei den Lokführern und bei einem erheblichen Teil von Bahnbeschäftigten seit Ende der 1990er Jahren und bis 2007 einen erheblichen Reallohnabbau gab. Das war die Zeit, in der sich die GDL in einer Tarifgemeinschaft mit der EVG befand. Seit 2008 gab es bei den Lokführern erhebliche Erhöhungen des nominalen Lohns und angestiegene Realeinkommen. Zwischen diesen beiden Perioden gab es die massiven Streiks der GDL ab Sommer 2007. Es waren konkrete Kämpfe, die die Periode des Reallohnabbaus beendeten und Reallohngewinne brachten.
Zweitens. Politisch steht die GDL nicht links. So ist sie nicht gegen die Bahnprivatisierung.
Richtig ist, dass die GDL keine klassenkämpferische und linke Gewerkschaft ist. So etwas gibt es hierzulande auch nicht. 2005-2008 sagte die GDL zur Bahnprivatisierung: „So nicht“. Wenn es eine materielle Bahnprivatisierung geben würde, dann müsse jedoch das Netz beim Bund bleiben. So unzureichend das sein mag – die GDL-Position stand in scharfen Kontrast zu dem, was Transnet (heute EVG) machte. Die Transnet-Spitze setzte sich massiv für die jeweils konkrete Form der Bahnprivatisierung ein. 2007 entschied sich der DGB, nach hartem, internen Ringen gegen jede Form einer Bahnprivatisierung. Die einzige Gewerkschaft, die gegen diese DGB-Entscheidung gestimmt hatte, war Transnet.
Drittens. Der GDL geht es allein um Machtausdehnung. Linke kämpfen jedoch für die Einheit der Eisenbahnbeschäftigten.
Einheit für gemeinsame Ziele ist eine gute Sache. Doch diese Einheit gibt es in immer weniger Bereichen. Das hängt wesentlich mit der Politik der DGB-Gewerkschaften zusammen. Es ist kein Zufall, dass immer mehr Personal auf Loks und im Zugbegleitdienst den Weg zur GDL gingen. Sie erhoffen sich dort eine bessere Interessenvertretung. Es stellt sich die Frage: Wieso können Linke nicht gleichzeitig den GDL-Streik unterstützen und ihre inhaltliche Kritik an der GDL-Politik bei der Bahn formulieren und konstruktive Vorschläge für eine Einheit im Kampf machen?
Grundsätzlich gilt: Bei einem Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital stehen fortschrittliche Gewerkschaftsmitglieder auf der Seite der Kämpfenden. Wo steht die EVG? In einer EVG-Mitteilung nach dem letzten Streik hieß es: „Wir haben unsere Kolleginnen und Kollegen, die in den vergangenen Tagen den Unmut vieler Reisenden zu spüren bekommen haben, nicht allein gelassen. Während streikende GDL-Mitglieder an den Bahnhöfen kaum zu sehen waren, waren […] in vielen Bahnhöfen Deutschlands EVG-Mitglieder unterwegs, um denen, die arbeiten mussten, mit ein wenig ´Nervennahrung´ [gemeint waren Tee & Kaffee; d. Red.] und persönlicher Solidarität zur Seite zu stehen.“
So etwas ist STREIKBRUCH, ist NO-GO
Siehe umfassend StrikeBlog11, Offener Brief an die EVG, auf: www.pro-gdl-streik14.de
Papa Millionär: „Bin dann mal weg“
Wie wir sahen, leiden Malocher und Millionäre gleichermaßen unter der Wechselschichtarbeit – jedenfalls wenn man dem Bericht im großbürgerlichen Qualitätsmedium Glauben schenken darf. Wenden wir uns nochmals dem eingangs skizzierten Wechselschichtler zu. Was macht in einer solchen Situation Papa El-Erian? Nun, so wie der Comedian Hape Kerkeling „ich bin dann mal weg!“ sagte und sich auf den Jakobsweg begab, so sagte El-Erian „Familie find ich gut!“, hängte seinen Job an bei Pimco an den Nagel, wobei er, wie er betont, vor allem auf seine 11-jährigen Tochter hörte: „Schließlich habe ich begriffen, dass es nur noch ein kleines Zeitfenster gab, in dem meine Tochter tatsächlich Zeit mit mir verbringen will und dass sich dieses Fenster langsam zu schließen begann.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung feiert diesen kühnen Schritt. Und sie nennt gleich ein halbes Dutzend anderer Top-Manager, alles Männer, die ebenso „verantwortungsvoll“ irgendwann die Reißleine zogen und einfach mal „Papa sein“ wollten.
Da fragen wir uns doch: Warum machen die Zugbegleiter und die Zugbegleiterinnen nicht auch mal einen solch kühnen Schritt? Warum werfen die nicht einfach mal die Brocken hin? Naja, das tun sie derzeit ja ab und an, wenn auch in Form der Streiks. Also: Gemeint ist: Warum steigen die nicht „einfach mal so“ aus dem Job und aus dem Zug aus, um sich den Kids und der Familie zu widmen? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung würde in einem solchen Fall sicher auch eine komplette Seite zur Verfügung stellen, um über solche zutiefst verantwortungsbewusste Ex-GDL-Zugbegleiter-Väter-und-Mütter zu berichten.
Oder sollte eine solch hehre Jobaufgabe und die Pflege des Familienlebens und das Engagement zum Wohle der Kinder daran scheitern, dass es gewisse Unterschiede in den Einkommen von Zugbegleitern und Top-Managern gibt?
Hier nochmals zur Kenntnis: Das Einstiegsgehalt eines Zugbegleiters liegt bei brutto 2153 Euro. Die in der Schwäbischen Zeitung vorgestellte DB-AG- und GDL-Kollegin Schleinitz brachte es auf 3010 Euro brutto – nach 25 Dienstjahren. Der Wechselschichtler El-Erian wiederum verdiente in seinem angestammten Job nach Medien-Angaben um die 100 Millionen US-Dollar – oder 75 Millionen Euro – pro Jahr oder 6,25 Millionen Euro im Monat oder gut 200000 Euro am Tag.[3]
Sollte eine Zugbegleiterin und sollte ein Zugbegleiter unter den gegebenen Bedingungen davon Abstand nehmen, aus Liebe zu Familie und Kindern einfach mal so ein paar Jährchen zu pausieren, dann dürften die Forderungen der GDL in diesem Arbeitskampf just in diesem Bereich von erheblicher Bedeutung sein, beispielsweise die Forderung „zur Belastungssenkung mit […] nur noch 50 Überstunden im Jahr (Überschreitung nur mit Einverständnis des Beschäftigten)“ oder diejenige, wonach „maximal fünf Schichten in 120 Stunden (fünf Tagen) verplant werden [dürfen]“, wonach „freie Wochenende mindestens von Freitag 22 bis Montag 6 Uhr dauern“ müssen, wonach „der Dienst nach dem Urlaub nicht vor 6 Uhr beginnen“ darf. Heißt es doch ausdrücklich, dass dies gefordert werde „zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf“.
Anton Kobel war Gewerkschaftsekretär von HBV und verdi in Heidelberg und Mannheim. Er ist Mitherausgeber der „STREIKZEITUNG – JA zum GDL-Arbeitskampf – NEIN zum Tarifeinheitsgesetz“. Kobel wuchs 1951 bis 1968 in einer Eisenbahner-Siedlung auf. Sein Vater war Eisenbahner in Wechselschicht.
Winfried Wolf ist Autor von Büchern zu Eisenbahn und Verkehr (Verkehr. Umwelt. Klima und – zusammen mit Bernhard Knierim Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform).
Anmerkungen:
[1] Dies als Hinweis darauf, wie absurd feudalistisch das aktuelle kapitalistische Regime ist. Unter solchen Umständen darf man sich nicht wundern, wenn einzelne Händler in den Finanzinstituten mal so nebenher ein paar Milliarden Euro in den Sand setzen, wobei es sich ja immer um Geld handelt, das durch Menschen erwirtschaftet wurde und dass damit durch die Handlung Einzelner vernichtet wird.
[2] Karl Marx, Das Kapital Band 1, MEW 24, S. 271. Interessanterweise verweist Marx genau im Anschluss an die hier zitierte Passage auf das System der Schichtarbeit. Er schreibt: „Da dies [die Ausweitung der Arbeitszeit auf 24 Stunden] aber physisch unmöglich, würden dieselben Arbeitskräfte Tag und Nacht ausgesaugt, so bedarf es, zur Überwindung des physischen Hindernisses, der Abwechslung zwischen den bei Tag und Nacht verspeisten Arbeitskräften, eine Abwechslung, die verschiedene Methoden zulässt, z.B. so geordnet sein kann, dass ein Teil des Arbeitspersonals eine Woche Tagdienst, Nachtdienst die andere Woche vorsieht usw. Man weiß, dass dies Ablösungssystem, diese Wechselwirtschaft […] als System eines 24-stündigen Produktionsprozesses heute noch in vielen ´freien´ Industriezweigen Großbritanniens, u.a. in den Hochöfen, Schmieden, Walzwerken […] (existiert).“
[3] Anzumerken ist, dass El-Erian nach seinem Abgang bei Pimco weiter als Chef-Wirtschaftsberater für die Allianz arbeitet, dass er den US-Präsidenten berät und dass er „auf hochkarätigen Veranstaltungen Vorträge“ hält, womit der „arbeitslose“ El-Erian summa summarum noch auf 5 Millionen US-Dollar oder 4 Millionen Euro im Jahr oder gut 350000 Euro im Monat kommt.