20 Jahre Bahnreform. 20 Jahre verfehlte Bahnpolitik

Bernhard Knierim. Lunapark21 – Heft 24

Altkanzler Helmut Schmidt prägte die denkwürdige Aussage: „Deutschland kann sich immer nur eines von beiden leisten, entweder eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn.“ Dass dies in seiner Logik nicht auf eine Demilitarisierung hinauslaufen sollte, war klar. Aber auch bis zur formellen Privatisierung der Bahn dauerte es noch einmal mehr als ein Jahrzehnt.

Tatsächlich geriet die Bundesbahn spätestens in den 1980er Jahren in eine Schieflage: Sie erwirtschaftete ein jährliches Defizit von etwa 1,5 Milliarden Euro, während sie nur noch einen geringen Marktanteil von 6 Prozent im Personen- und 20 Prozent im Güterverkehr hatte. Das Defizit lag allerdings weitgehend auf dem Niveau der Zinsen, die die Bahn für die seit 1949 aufgelaufenen Schulden zu bezahlen hatte. Ihr Angebot wurde in der Öffentlichkeit als nicht sonderlich attraktiv eingeschätzt, der Straßenverkehr hatte ihr dank der massiven Straßen- und Autobahnbauprogramme bei gleichzeitigen Stilllegungen vieler Bahnstrecken in den Jahrzehnten davor längst den Rang abgelaufen.

1989 wurde daraufhin die Regierungskommission Bundesbahn ins Leben gerufen – ein Gremium überwiegend mit Aufsichtsratsmitgliedern aus bahnfremden Branchen besetzt, während man darin Vertreter der Fahrgast- oder Umweltverbände oder gar Eisenbahner vergeblich suchte. Im Laufe ihrer Arbeit musste die RKB auch noch die durch die Wiedervereinigung hinzugekommene Reichsbahn mit in ihre Analyse einbeziehen, die mit noch größeren Problemen zu kämpfen hatte als die Bundesbahn. Der Abschlussbericht der Kommission erschien 1991 und präsentierte nur eine einzige Lösungsmöglichkeit: die Überführung der beiden deutschen Bahnen in die privatwirtschaftliche Organisationsform der Aktiengesellschaft und die Öffnung des Schienennetzes für einen Wettbewerb verschiedener Bahnunternehmen. Auch sollte die Verantwortung für den Schienenpersonennahverkehr auf die Bundesländer übertragen werden, die diese Leistungen – finanziert durch die Regionalisierungsmittel des Bundes – fortan bei der DB AG oder zunehmend bei anderen Bahnunternehmen einkaufen sollten. Diese Vorschläge wurden eins zu eins in ein Gesetzespaket überführt, das im Dezember 1993 im Bundestag und im Bundesrat mit einer ganz großen Koalition von CDU/CSU, FDP, SPD und eines Teils von Bündnis 90/Die Grünen beschlossen wurde – noch gerade so rechtzeitig, dass die Reform zum 1. Januar 1994 in Kraft treten und am 5. Januar 1994 die Deutsche Bahn AG ins Handelsregister in Berlin Charlottenburg eingetragen werden konnte.

2014 wird die Bahnreform also 20 – höchste Eisenbahn für eine Analyse der Ergebnisse. Die DB AG selbst sieht die Reform gemäß Auftrag als Erfolg. Doch ein unabhängiger Blick auf die mit der Reform angestrebten Ziele ergibt ein anderes Bild: Oberstes Ziel der Reform war die Entlastung der öffentlichen Haushalte – was klar verfehlt wurde: Die Bahn erhält heute sogar höhere öffentliche Zuschüsse als vor der Reform, auch wenn sich diese in immer mehr unterschiedlichen Haushaltsposten verstecken (siehe Grafik Seite 59 oben). Das zweite wichtige Ziel war eine attraktive Bahn und eine Verlagerung von Verkehr auf diese. Auch hier: Fehlanzeige. Die Marktanteile der Bahn sind trotz einiger Schönrechnerei nicht angestiegen und stagnieren bei 7 Prozent im Personen- und 17 Prozent im Güterverkehr (siehe Grafiken Seite 59 Mitte und unten). Nur im Nahverkehr gab es tatsächlich deutliche Fahrgaststeigerungen, die vorwiegend durch die seit der Reform deutlich verbesserte und stabile Finanzierung, aber auch durch die oft besser am Bedarf orientierte regionale Bestellung der Verkehre zustande kam. Die Kundenzufriedenheit mit der Bahn – ganz besonders im Fernverkehr – ist hingegen gering, im europäischen Vergleich bekommt die Bahn in Deutschland eines der schlechtesten Urteile, und das nicht ohne Grund: Seit der Reform wurden zahlreiche Städte vom Fernverkehr abgekoppelt, mit dem InterRegio wurde gar eine ganze Zuggattung abgeschafft, deren Funktion zuvor die Anbindung insbesondere von Klein- und Mittelstädten gewesen war.

Massive Sparmaßnahmen des DB-Managements haben zu der enormen Zunahme von Verspätungen und Zugausfällen bis hin zum mehrmaligen Zusammenbruch des Verkehrs geführt („Sauna-ICE“ im Sommer; zweimaliges „Winterchaos“ und Dauerkrise der Berliner S-Bahn). Gleichzeitig sind die Ticket-Preise etwa doppelt so schnell angestiegen wie die allgemeine Inflation, und ein unübersichtliches Flickenteppich-Preissystem mit diversen nicht kombinierbaren Sondertarifen macht das Bahnfahren zunehmend komplizierter. Das gilt besonders im Regionalverkehr, wo jeder Verkehrsverbund seine eigenen Regelungen macht – ein Rückfall in die Kleinstaaterei, der abschreckend auf die Kundschaft wirkt. Der Ausschreibungswettbewerb zwischen den Bahnunternehmen hat zudem zu einer Untergrabung von Lohn- und Sozialstandards geführt.

Auch im Güterverkehr hat die DB AG massiv eingespart, sich aus dem regionalen Verkehr und dem Stückgutverkehr komplett zurückgezogen und zahlreiche Unternehmen vom Gleisnetz abgekoppelt. Das Bahnnetz wurde seit 1994 um 7000 Kilometer gekappt, (= minus 17 Prozent; siehe Grafik auf Seite 60). Im gleichen Zeitraum wurde das Autobahnnetz um weitere knapp 2000 Kilometer erweitert. Es wurden zwar auch mehrere Hochgeschwindigkeits-strecken neu gebaut. Diese gehen jedoch meist am Bedarf der Fahrgäste vorbei, die zum überwiegenden Teil eben nicht von Beschleunigungen im Minutenbereich zwischen den Metropolen profitieren, sondern in den Regionen abseits der schnellen Achsen unterwegs sind, aus denen sich die Bahn immer mehr zurückzieht.

Die DB AG konzentriert sich derweil zunehmend auf andere Branchen, die nichts mit Bahnverkehr zu tun haben: Durch Aufkäufe zahlreicher Unternehmen ist sie zum größten Lkw-Transporteur und zum größten Busbetreiber in Europa geworden. Sie ist auch der zweitgrößten Luftfracht- und der drittgrößte Seefrachttransporteur der Welt. Die zahlreichen Umstrukturierungen haben die DB AG dabei zu einem Moloch aus vielen hundert Unternehmen mit parallelen Wasserköpfen gemacht, während der Bundesbahn immer ihr angeblich viel zu großer, „träger Beamtenapparat“ vorgeworfen wurde. Die DB AG sieht sich immer mehr als Global Player und vernachlässigt dabei ihr eigentliches Kerngeschäft – kaum verwunderlich bei einer Unternehmensführung, die sich von Beginn des Unternehmens an fast ausschließlich aus Auto- und Luftfahrtmanagern zusammensetzt (siehe LP21 Extra 05).

Die Bilanz der Bahnreform sieht also alles andere als rosig aus: Alle wesentlichen Ziele wurden rundweg verfehlt. Doch anstatt dieses Scheitern einzugestehen und über notwendige Verbesserungen der Reform nachzudenken, sollte diese zum Anfang des Jahrtausends im Sinne der neoliberalen Agenda vervollständigt werden: Zu der formellen sollte auch die materielle Privatisierung kommen, sprich der Börsengang der DB AG. Das hätte die privatwirtschaftliche Organisationsform für lange Zeit unumstößlich festgelegt und viele weitere Milliarden an öffentlichen Mitteln in die Kassen von Privatunternehmen gespült. Bekanntlich wurde nichts aus dem Projekt; es geriet in den Sog der Finanzkrise. Kurz zuvor offenbarte der Bruch einer ICE-Achse in Köln im Juli 2008 die massiven Sicherheitsprobleme durch die Sparmaßnahmen bei der Instandhaltung in Vorbereitung auf den Börsengang. Eine erhebliche Rolle bei der Absage des Börsengangs spielte auch die herannahende Bundestagswahl 2009; schließlich lehnte inzwischen eine überwältigende Mehrheit in der Bevölkerung die Bahnprivatisierung ab. Wer den Koalitionsvertrag der geplanten Großen Koalition aufmerksam liest, mag sich jedoch nicht beruhigt zurücklehnen: Eine Hintertür für dieses Vorhaben bleibt auch weiter offen.[1]

Seitdem dümpelt die DB AG mit einer Struktur umher, die für ihren eigentlichen Zweck, einen zuverlässigen Bahnverkehr im ganzen Land, kontraproduktiv ist und deren Probleme nur gelegentlich öffentlich sichtbar werden – wie im letzten Sommer mit der zeitweisen Stilllegung ganzer Bahnhöfe aufgrund des eingesparten Personals in den Stellwerken oder den gerade immer deutlicher werdenden Instandhaltungsmängeln im gesamten Bahnnetz. In der Politik traut sich niemand, das heiße Eisen wieder anzufassen und offen über die Notwendigkeit einer anderen Struktur der Bahn zu debattieren. Die Bahn ist kein Profilierungsthema, und so lässt man Rüdiger Grube weiter wursteln.

Wo also lag der Fehler, warum ist diese Bahnreform so spektakulär gescheitert? Die Regierungskommission Bundesbahn ging von einer höchst fragwürdigen These aus, nämlich dass die wirtschaftlichen Probleme der beiden deutschen Bahnen vor der Reform lediglich auf die Organisationsstrukturen zurückzuführen seien. Das passte perfekt in den Geist der Zeit, dem Staat nicht die Spur von wirtschaftlichem Handeln zuzutrauen und stattdessen in der privatwirtschaftlichen Organisation den generellen Problemlöser für alles zu sehen. Vergessen waren alle Erkenntnisse der Jahrzehnte davor über natürliche Monopole, aus denen bei einer Privatisierung gezwungenermaßen private Monopole werden mussten. Auch die Regierungskommission wies zwar am Rande darauf hin, dass die Strukturreform der Bahn in eine Reform des Verkehrsmarktes eingebunden sein müsse, davon war jedoch später keine Rede mehr. So blieb der eigentliche Elefant im Raum doch unbeachtet: Weder die jahrzehntelange Fokussierung der Verkehrspolitik auf Straßen- und Luftverkehr noch die Verzerrungen des Verkehrsmarktes, die diesen beiden Verkehrsarten massive Kostenvorteile gegenüber der umwelt- und klimafreundlicheren Bahn verschaffen, wurden diskutiert. So subventioniert der Staat den Straßen- und Luftverkehr noch immer in sehr viel größerem Umfang als die Bahn, obwohl die Folgen für Gesellschaft, Klima und Umwelt schon längst bestens bekannt sind.

Eine zweite Bahnreform ist überfällig; nötig ist eine einheitliche Bahn in öffentlichem Eigentum, die bereits durch die Unternehmensform einen inhaltlichen Auftrag hat: für optimalen Schienenverkehr im Land und für einen wachsenden Anteil der Schiene im Verkehrsmarkt zu sorgen. Dazu eignet sich die Form einer AG nicht; die Unternehmensform einer Anstalt des öffentlichen Rechts ist hierfür deutlich besser geeignet. Darüberhinaus ist eine grundlegende Verkehrsmarktreform erforderlich, die endlich die tatsächlichen Kosten der unterschiedlichen Verkehrsträger abbildet. Nur dann hat die Bahn eine wirkliche Chance, auch wieder größere Marktanteile zu gewinnen.

Bernhard Knierim ist aktiv bei Bahn für Alle. Er verfasste zusammen mit Winfried Wolf seit 2008 fünf Alternative Geschäftsberichte Deutsche Bahn (einer erschien als Lunapark21 Extra05). Er ist Autor von Essen im Tank – Warum Biosprit und Elektroantrieb den Klimawandel nicht aufhalten (Wien 2013).

Zum Thema erscheint im Februar 2014 das Buch Umsteigen bitte! – 20 Jahre Bahnreform von Bernhard Knierim und Winfried Wolf (Schmetterling Verlag Stuttgart; ca. 250 Seiten, ca. 20 Euro).

Anmerkung:

[1] Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir stehen zum integrierten Konzern DB AG. Die Eisenbahninfrastruktur ist Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und bleibt in der Hand des Bundes.“ Da Infrastruktur (Netz und Bahnhöfe) vom Bahnbetrieb, den Transportsparten DB Regio, DB Fernverkehr, DB Schenker Railion und Schenker Logistik, getrennt sind und da alle diese Transportsparten seit Anfang 2008 in der Subholding DB AG zusammengefasst sind, bleibt mit exakt dieser ausgetüftelten Formulierung die Teilprivatisierung der DB AG – genau wie 2008 ursprünglich geplant.

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