Die Preissteigerungen sind gekommen, um zu bleiben
An den deutschen Tankstellen ist vom Rabatt nichts zu sehen. Die dreimonatige Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe trat am 1. Juni in Kraft – aber die Entlastung der Autofahrer und der Transportbranche blieb aus. Das parallel beschlossene 9-Euro-Ticket führt eher zu Fragen über die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Personennahverkehrs. Und nur für steuerpflichtige Erwerbstätige ist die Energiepreispauschale von 300 Euro vorgesehen – als ob Mini-Jobber*innen, Rentner*innen und Erwerbslose keine höheren Ausgaben hätten.
Doch der Tunnelblick auf die Preise an der Zapfsäule ist irreführend. Das ganze Jahr 2021 sind die deutschen Erzeugerpreise auf breiter Front gestiegen. Nur ein Teil davon ist schon bei den Verbrauchern angekommen (siehe Grafik). Und die weltweiten Preissteigerungen lassen sich sicher nicht mit dem russischen Angriff auf die Ukraine begründen. Die Preiserhöhungen begannen auch hier vor vielen Monaten.
Corona und die Preise
Im Zuge der Coronakrise wurden inflationäre Folgen befürchtet. Gemeint waren zumeist Preissteigerungen, die als Konsequenz einer vermehrten staatlichen Kreditaufnahme befürchtet wurden. Tatsächlich führte die Pandemie zu einem heftigen Nachfragerückgang sowohl beim Endverbrauch wie beim Einkauf von Vorleistungen und Vorleistungsgütern für die Produktion: Der private Konsum wie die Investitionen gaben nach und angesichts der Lockdowns oder stockender Lieferketten sank mit der Produktion auch der Bedarf an Zulieferungen. Für Preiserhöhungen war 2020 schlicht kein Platz, im Gegenteil ging das Preisniveau leicht zurück.
Die höheren Kosten aufgrund eines veränderten wirtschaftlichen Umfelds mussten sich früher oder später aber in den Preisen niederschlagen. Zwar können auch gestiegene Aufwendungen durch Produktivitätssteigerungen abgefangen werden. Der Erzeugerpreisindex gewerblicher Produkte stieg von 2000 bis Mitte 2008 von knapp 80 bis 100, gab in der Weltwirtschaftskrise wieder leicht nach und erreichte im Durchschnitt des Jahres 2015 wieder 100. Der Preis der deutschen Energiewende ist trotz allen Jammerns der Industrie bei weitgehend stabilem Preisniveau beglichen worden. Würde sich diese Entwicklung aber fortsetzen lassen?
Kosten der Deglobalisierung
Preislich gesehen hat der kapitalistische Konkurrenzkampf zwei Seiten: Zum einen senken Unternehmen ihre Kosten, um im Geschäft zu bleiben – zum anderen setzen sie ihre Preise so, dass die Spanne zwischen Preis und Kosten ihnen Profite einbringt. Teil der Kostensenkungen der letzten Jahrzehnte waren massive Verlagerungen nach Übersee. Insbesondere seit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation hat sich die Ausbeutung der dortigen Arbeiterklasse nicht nur in einer Akkumulation von Reichtum in China, sondern auch in niedrigen Preisen auf den Weltmärkten niedergeschlagen.
Die Unterbrechung der Lieferketten in der Pandemie hat diese Form der globalisierten Arbeitsteilung in Frage gestellt. Nicht nur die Wirtschaftspresse und die Regierungspolitik reden von einer nötigen Re-Industrialisierung Europas. Doch ohne massive Investitionen und höhere Preise wird eine solche Umstrukturierung der globalen Arbeit nicht zu realisieren sein. Eine Idee der damit verbundenen Veränderungen gab das Jahr 2021, als beim Wiederanlaufen der Konjunktur die Erzeugerpreise weltweit deutlich zunahmen. Der Rückstau unbefriedigter, aber zahlungskräftiger Nachfrage hat diese Entwicklung verschärft, aber nicht erzeugt.
Keine Lohn-Preis-Spirale
Kaum stiegen die Preise, da entstieg auch schon die Legende über Preissteigerungen ihrer Mottenkiste: Die vermeintliche Lohn-Preis-Spirale. Tatsächlich sind die Arbeitseinkommen etwa in Deutschland oder den USA 2021 nicht hinreichend gestiegen, um die Verteilungsverhältnisse konstant zu halten. Die Deutsche Bundesbank resümierte im Monatsbericht Dezember 2021: „Die Inflationsrate steigt gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex im laufenden Jahr kräftig auf etwa 3¼ Prozent an. Dies geht nicht nur auf Sondereffekte wie die ausgelaufene Umsatzsteuersatzsenkung oder die Einführung von CO2-Emissionszertifikaten zurück. Vielmehr verstärkte sich der Preisauftrieb auch deshalb, weil die Energiepreise auf den internationalen Märkten kräftig anzogen. Außerdem wurden Kostensteigerungen aufgrund der Liefer- und Transportengpässe auf die Verbraucherinnen und Verbraucher überwälzt und zusätzlich bei starker Nachfrage die Gewinnmargen ausge weitet.“
Besonderer Sympathien für gewerkschaftliche Forderungen ist die deutsche Abteilung der EZB gewiss unverdächtig. Aber Anerkennung für ausbleibende Forderungen kann man von ihr erwarten. Bezogen auf die mittelfristigen Ausblicke der deutschen Preisentwicklung führte sie aus: „Die zunächst gedämpften Zuwächse der Lohnstückkosten eröffnen Raum für eine kräftige Erholung der gesamtwirtschaftlichen Gewinnmargen. Das Umfeld mit hoher Nachfrage aus dem In- und Ausland bei gleichzeitigen Angebotsengpässen hilft nicht nur, steigende Kostenbelastungen an die Kunden weiterzugeben, sondern auch die Profitabilität wieder zu erhöhen.“
Sorgen um die deutsche Wirtschaft
Das war im Dezember. Der Ukrainekrieg und die drohenden Sanktionen gegen russische Lieferungen von Energieträgern haben auch die Bundesbank nachdenklich gemacht. Ein hartes Embargo könnte, laut Monatsbericht April, die deutsche Wirtschaft im Jahr 2022 in eine Rezession zwingen: Ein Minus von zwei Prozent beim Bruttoinlandsprodukt könnte bei einem verschärften Krisenszenario eintreten.
Die Analyse beschränkt sich allerdings nicht auf solche plakativen Angaben. Sie hat die Anpassungsprozesse im Blick, die in einer Kriegswirtschaft, aber auch einer Kriegsnachbarschaftswirtschaft eintreten. Krisenzeiten sind Zeiten von Veränderungen. Und die Bundesbanker wissen, dass die großen, globalen Linien der wirtschaftlichen Entwicklung nicht durch einen Krieg in der Ukraine geändert werden können. Deshalb ist der Blick auf die Entwicklung der Eurozone wichtiger. Die Ankündigung von Zinserhöhungen der EZB erinnert daran, wer in Euroland währungspolitisch die Grenzen setzt: Nicht die EZB, nicht eine italienische oder französische Regierung, sondern die Finanzmärkte, die klar an den Bundeswertpapieren orientiert sind.
Mittel für den Wiederaufbau
Die Opfer des Krieges sind andere. Der IWF geht inzwischen von einem Rückgang der ukrainischen Wirtschaftsleistung um etwa die Hälfte aus. Und ein großer Teil wird für die Landesverteidigung wortwörtlich verpulvert. Wie eines Tages das Land wieder aufgebaut und die Verarmung aufgefangen werden könnte, ist ungewiss. Fest steht: Aus eigener Kraft kann es die ukrainische Wirtschaft nicht schaffen. Deshalb finden die Forderungen nach einer EU-Beitrittsperspektive in der Ukraine Beifall.
Das gefällt manchen Linken nicht. Sie haben gelernt, dass die EU ein imperialistisches Projekt ist und finden es deshalb falsch, wenn noch mehr Länder dabei mitmachen wollen. Es geht jedoch weniger um die Anhänglichkeit an alte Wahrheiten. Mehr geht es um das drohende Eingeständnis der eigenen Niederlagen: Dass die EU ein erfolgreiches imperialistisches Projekt ist, liegt ja an den Niederlagen der Linken und der Arbeiterbewegung in den Metropolen. Aber statt daran etwas zu ändern, klatschen viele lieber Beifall, wenn irgendwer, wie gerade Putin, in einem Konflikt mit dem „kollektiven Westen“ steht. Wer sich so positioniert, muss sich nicht wundern, dass er seine politischen Hausaufgaben nicht hinkriegt, die Verbraucherpreise weiter schneller steigen als die Arbeitseinkommen – und die EU ein erfolgreiches imperialistisches Projekt bleibt.
Zur Frage der Leitzinsen vom Autor: