„Deutsche Krieger“ werden wieder hoffähig

Bundeszentrale für Politische Bildung subventioniert Militärverherrlichung

Die vom deutschen Bundeskanzler ausgerufene Zeitenwende nebst Vollzug beim Zwei-Prozent-Ziel für Rüstung und des 100-Milliarden-Euro-Extra-Fonds für Hochrüstung freut die Truppe.

Die Rüstungsindustrie verspürt Rückenwind. All das passt in eine ideologische Hochrüstung in Sachen Militär. Aufschlussreich dabei ist der offizielle Umgang mit Professor Sönke Neitzel.

Einen Tag nach der „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers brachte der Bayerische Rundfunk 2 ein Gespräch mit Sönke Neitzel, dem einzigen deutschen Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt, lehrend an der Universität Potsdam. Die Haltung des berufenen Sicherheits-Experten im Telegrammstil: „Eine beachtliche Kehrtwende der SPD! – Wer hätte das gedacht? – Kommt viel zu spät! – Wie geht es weiter? – Die Bundeswehr braucht das dringend! – Ich hoffe, dass das viel Druck erzeugt!“

In dem Militärhistoriker Neitzel sehen viele Verantwortliche in der Verteidigungspolitik einen hervorragenden Lobbyisten. Zudem ist er gern gesehener Gast in den Medien – insbesondere seit dem Angriff der russischen Streitkräfte auf die Ukraine. Neitzel hatte 2020 im Ullstein-Verlag eine militärpolitische Streitschrift mit dem Titel „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“ veröffentlicht (Preis: 19,99 Euro). Wenig später hat die Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) das Manuskript als Sonderausgabe vertrieben – zu einem Preis von 7 Euro. Die Erstveröffentlichung im Ullstein-Verlag wäre im Kontext der Meinungs- und Pressefreiheit uneingeschränkt hinnehmbar; doch die Zweitveröffentlichung in der BPB zu einem deutlich subventionierten Preis ist – gemessen an Maßstäben zivilgesellschaftlicher Grundlagen – kritisch zu sehen.

Der Titel „Deutsche Krieger“ ist Programm: Er verhöhnt hunderttausende deutsche Soldaten, die ihren Dienst in der Bundeswehr geleistet haben. Sie sind oder waren Soldaten – keine Krieger. Ein klassischer Krieger macht seine Heldenreise in den Tod! Ein Soldat der Bundeswehr dient für die Sicherung von Demokratie und Freiheit in Deutschland und in der Nato.

Als Neitzel 2016 seine Professur in der Universität der früheren preußischen Garnisonsstadt Potsdam vor den Toren Berlins antrat, betonte er seine Präferenz für eine enge Kooperation zwischen Bundeswehr und Universität im Rahmen des von ihm verantworteten Studiengangs „War and Conflict Studies“: „Ich bin für einen engen zivil-militärischen Austausch.“1 Konkret heißt das: Das Potsdamer Zentrum für Militärgeschichte der Bundeswehr (ZMSBw) hat einen Brückenkopf in diesem universitären Studiengang; Offiziere des ZMSBw führen dort Lehrveranstaltungen durch.

Befürchtungen, dass die Abhängigkeit der Universität von der Bundeswehr zu stark sei und die sozialwissenschaftliche Dimension des Studiums zu kurz käme, beantwortete er schmallippig mit „Unsinn. Das läuft meiner Meinung nach ins Leere.“ (Ebenda) . Und er bot in dem Interview auch gleich eine – fragwürdige – Kostprobe seiner militärhistorischen Kompetenz in Kurzform, als er nach dem Wandel in der Kriegspolitik gefragt wurde: „Das Verhalten von Staaten und Militärs hat sich nicht grundsätzlich geändert. […] Wenn wir uns zum Beispiel den Ausbruch des (Ersten Welt-) Krieges anschauen, dann haben die Großmächte einfach gezockt – und sich dabei verzockt.“ (Ebenda).

Das zur Debatte stehende Buch hat einen Umfang von 816 Seiten; präsentiert wird eine Militärgeschichte vom Kaiserreich ( 1871-1918), über die Weimarer Republik ( 1918-1933) und die NS-Diktatur (1933-1945) bis hin zur „Bonner“ (1955-1989) und „Berliner“ Republik (1990 bis heute). Mittendrin wird auch noch die Militärgeschichte der DDR ( 1952-1990) abgehandelt.

Neitzel hat als empirische Basis seiner Militärgeschichte sechs Kriege, von 1864 bis 1945, die von deutschem Boden ausgingen:

• gegen Dänemark (1864)

• gegen Österreich (1866)

• gegen Frankreich (1871)

• als Kolonialmacht gegen den Herero-Aufstand ( 1904)

• den Ersten Weltkrieg (1914-1918)

• den Zweiten Weltkrieg (1939-1945)

Die ersten drei Kriege gelten als „Siege in den Einigungskriegen [Gründung des deutschen Nationalstaates 1871; H.F.]. Laut Neitzel „ebneten (sie) einer Glorifizierung des Militärischen den Weg“( 80). Den Vernichtungskrieg gegen den Herero-Aufstand im heutigen Namibia verharmlost Neitzel mit der Formulierung, der Krieg sei „ aus dem Ruder gelaufen“ (33).

Angesichts dieser vier siegreichen Waffengänge schwärmten die deutschen Militärs vom „Blitzkrieg“, was nach Neitzel im angelsächsischen Sprachraum als „the German Way of War“ etikettiert wurde: „Im Focus der Betrachtung stehen dabei einerseits die Doktrin der schnellen Vernichtungsschlacht, andererseits die mangelnde Kontrolle durch die Politik“ (32). Die beiden verlorenen Weltkriege waren von diesem militärstrategischen Ansinnen geprägt. Neitzel kommentiert: „ Ohne den Ersten hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben“(81). Eine Kontextualisierung der Verzahnung beider Weltkriege liefert der Verfasser aber nicht.

Im Buch dominiert eine üppige sprachliche Begleitung des Kriegshandwerks von 1864 bis 1945. Politisch-historische Zusammenhänge werden weitgehend ausgeklammert. Es ist eine Erzählung über Kämpfen, Töten, Sterben. Dass Kriege Gesellschaften in ihren Grundfesten erschüttern, dass Soldaten und Zivilisten traumatisiert werden und Folgegenerationen zu „Trauma-Erben“ werden, das blendet er ebenso aus.

Beseelt ist der Verfasser offenbar von der Verpflichtung, der Leserschaft, zwei Botschaften zu überbringen: Die militärpolitische Reform in der Bundesrepublik Deutschland, die darauf abzielte, das Militärische dem Zivilen unterzuordnen, ist gescheitert.

Krieg ist vor allem kriegerisches Handwerk. Kriegshandwerk ist militärische Professionalität.

Die demokratische Wehrreform in der Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren zielte auf einen deutlichen Schnitt mit der Vergangenheit: Die Bundeswehr und ihre Soldaten wurden auf eine demokratische Staats- und Lebensform eingeschworen. Soldaten wurden als „Staatsbürger in Uniform“ ausgewiesen, die „Innere Führung“ in der Bundeswehr sollte zukünftig vom Geist des freiheitlichen Rechtsstaats bestimmt sein. Und die Bundeswehr wurde eine Parlamentsarmee: Grundlegende Entscheidungen über ihren Einsatz treffen die Abgeordneten des Bundestages.

Neitzel: „Bei der Erziehung des politisch bewussten Soldaten stieß die Bundeswehr [… ] ebenso an ihre Grenzen wie die kaiserliche Armee, die Wehrmacht oder selbst die NVA“(591). Die demokratiepolitische Wehrreform mag Neitzel nicht sonderlich; sie ist aus seiner Sicht nicht vereinbar mit dem von ihm idealisierten „militärischen Handwerk“ als Leitkompetenz der Soldaten.

Er hat fast nur Tadel übrig für die Reform der Bundeswehr. Die Reformstrategie bezeichnet er als „bildungsbürgerliches Avantgardekonzept“ (271), als „idealistische Vorstellung“, als „allzu praxisfern“ (270). Wes Geist hinter diesen Abwertungen steckt, sollen zwei Zitate demonstrieren.

Neitzels Fazit zur Bundeswehrreform:

„…wohl niemals in der Geschichte des deutschen Militärs hat die Generalität den Zerfall der Kampfkraft so schweigend zur Kenntnis genommen wie in den vergangenen 20 Jahren“ (569)2.

Neitzels Fazit zum NS-Militär:

„Während des Krieges verschmolzen die Streitkräfte mit Staat, Gesellschaft und Militärführung zu einem festen Amalgam“(190).

Viele Seiten lang lässt er sich aus über seine Frage nach der inneren und äußeren Kohäsion des Militärs in der Gesellschaft und konstruiert dafür den Begriff „tribal cultures“. Übersetzt heißt das eigentlich „Stammeskultur“ bzw. „Stammeszugehörigkeit“. Neitzel meint jedoch wohl die ideologischen Bindungskräfte insbesondere der NS-Waffenkulturen oder NS-Eliteverbände: Symbole, Uniformen, Rituale versprachen Identität. Eine Identität, die er in der Bundeswehr erkennbar vermisst.

Der Ernstfall ist für Neitzel der Krieg, nicht der Frieden. „Handwerk“ im Kontext von „tribal cultures“ ist ein gleichsam mythischer Schlüsselbegriff Neitzels, wenn es dabei um die Wehrhaftigkeit des Militärs geht: „Der Krieg war vor allem Handwerk, und zumindest auf der Ebene der Panzerbataillone und Infanteriekompanien hatte sich zwischen 1944 und 1964 nicht sonderlich viel verändert“ (591).

Und Neitzel singt das hohe Lied der handwerklichen Profession, wenn er – wiederum über viele Seiten hinweg – die Militäraktionen der Bundeswehr in Afghanistan euphorisch begleitet. Am liebsten beruft er sich dabei auf Aussagen von Veteranen. Zum Beispiel berichten Fallschirmspringer nach dem Gefecht – zurück im Lager: „Sie wollten erleben, wofür sie lange und hart trainiert hatten. Sich beweisen, den Kick des Adrenalins spüren, die Anspannung überwinden, die geradezu euphorischen Gefühle nach der Rückkehr ins Lager auskosten. […] Auch von anderen Truppenteilen ist überliefert, wie sie nach langem Innendienst ´ganz krank´ waren und wie es in ihnen ´kribbelte´, wenn sich die Anderen fertig machten, um den Taliban ´ordentlich aufs Haupt´ zu schlagen“. (532f). Der Military-Fan Neitzel am Joystick?

Sein euphorisches Fazit: „Die Bundeswehr ist am Hindukusch erwachsen geworden. Erstmals in ihrer Geschichte war sie damit konfrontiert, den Krieg nicht nur zu spielen, sondern auch zu führen. Die Truppe zeigte sich dem Einsatz in mehrfacher Hinsicht gewachsen. […] Das Kriegshandwerk hatte in den tribal cultures überdauert.“ (559) „In dieser Logik des Kampfes glichen die Soldaten denen der Wehrmacht oder auch denen der kaiserlichen Armeen des Ersten Weltkriegs.“ (535)

Ein solches militaristisches Machwerk wird von der Bundeszentrale für Politische Bildung verbreitet und landet damit wohl (allzu) häufig im Schulunterricht. Da helfen nur Per-spektivwechsel zugunsten einer historischen Einordnung.

Warschau Kriegsende 1945: „Nach der Befreiung von den Nationalsozialisten am 17. Januar 1945 war das Stadtgebiet von einer auf 20 Millionen Kubikmeter geschätzten Schuttmasse bedeckt. […] Zwei Drittel der Bevölkerung waren getötet worden, und die Stadt war zu 85 Prozent zerstört.“3

Kritik aus den Federn von Historikern: Wolfram Wette, Militärhistoriker, be-anstandet, dass Neitzels Streitschrift weder auf Kriegsverhütung noch auf Kriegsfolgen eingegangen sei. Er bezeichnet Neitzel als „Bellizist“ und „Revisionist“ und kritisiert, dass Neitzel mit einer „wissenschaftlich eingefärbte(n) Krieger-Nostalgie“ aufgetreten sei.4

Eckart Conze, Historiker, bemängelt, dass den Zitaten – zum Beispiel von den Veteranen – „kein substanzielles Quellenkorrektiv“ gegenübergestellt wurde. Hinter dem Buch verberge sich eine Agenda, die „im Ziel eine Militärpolitik und eine Militärgeschichtsschreibung ohne normativen Friedensbezug habe“.5

Persönliche Anmerkung: Ich bin Sozialwissenschaftler, Pazifist und einig mit all denen, denen es wichtig ist, dass Russland diesen Angriffskrieg nicht gewinnt, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert. Es ist wichtig und völkerrechtlich richtig, die Ukraine im Kampf gegen die Invasion des russischen Militärs massiv zu unterstützen. Deshalb sollte man sich aber nicht in der Krieger-Nostalgie verstricken. Ich verschließe auch nicht die Augen davor, dass Kriege in der Regel bei Tätern und Opfern gleichfalls zu immensen Gräueltaten führen: Die bundesdeutschen Massenmedien haben korrekterweise die brutalen Hinrichtungen ukrainischer Zivilisten durch russische Soldaten in Butscha nahe Kiew skandalisiert. Doch warum haben nahezu alle diese Medien geschwiegen, als die New York Post einen Bericht verifiziert6 hatte, demzufolge ukrainische Soldaten wehrlose verletzte Russen brutal hingerichtet hatten?

Anmerkungen:

1 Potsdamer Neueste Nachrichten, 6.4. 2016

2 In diesem Zusammenhang notiert er: „Die Abschaffung der Wehrpflicht war noch das kleinste Übel“ ( 563). Neitzel sollte eigentlich wissen, dass die Wehrpflicht nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt, wurde.

3 Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung, Berlin 2021, S.155.

4 W. Wuttke, Deutsche Krieger“ – Kämpfen, töten, sterben. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel plädiert für die Rückkehr der Bundeswehr zu kriegerischen Traditionen. In: Frankfurter Rundschau online, 10. Februar 2021.

5 E. Conze, Rezension zu: Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. Berlin 2020. In: H-Soz-Kult, 5. Mai 2021.

6 New York Post, April 6, 2022