Bislang werden vor allem die Bevölkerungen in Russland und in Westeuropa belastet
Der Westen hat auf den Krieg der Russischen Föderation in der Ukraine mit immer neuen Sanktionen reagiert. Offiziell zielen diese auf die russische Führung im Allgemeinen und auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin im Besonderen. Tatsächlich treffen sie vor allem die Bevölkerungen in Russland und in Westeuropa – und nur am Rande die russische Elite um Putin. Wie die Funktionen wirken und warum sie in diese falschen Richtungen gehen, zeigen die folgenden fünf offiziellen Behauptungen – und unsere Antworten auf diese.
Behauptung 1: Die westlichen Sanktionen treffen massiv die Wirtschaft Russlands. Es ist wichtig, auf diese Weise den Druck auf den Kreml zu erhöhen, damit er den Krieg beendet.
Antwort: Tatsächlich gab es im Februar und März im Westen Hunderte Berichte, wonach die russische Wirtschaft in Bälde zusammenbrechen würde. Die deutsche Außenministerin Baerbock gab – zusammen mit US-Außenminister Biden – sogar das Ziel aus, mit den Sanktionen Russland „in den Ruin“ zu treiben. Auch war die Rede von einer in Bälde stattfindenden „Staatspleite“ Russlands. Von all dem ist Mitte August nicht mehr die Rede. Der Rubel ist stärker als vor Kriegsbeginn. Die Inflation sinkt. Die staatlichen Einnahmen Russlands sind 2022 mindestens so hoch wie im Vorjahr, vor allem aufgrund von umgeleiteten Energieexporten und den Rekordpreisen für Gas und Öl. Russland verzeichnet einen Leistungsbilanzüberschuss. Der Leitzins konnte – nach kurzzeitiger massiver Anhebung – wieder deutlich gesenkt werden. All das soll nicht heißen, dass die Sanktionen keine negativen Wirkungen zeigten. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte 2022 um 5 bis 7 Prozent sinken. Doch es gibt keinen wirtschaftlichen Einbruch. Und ganz sicher keinen Zusammenbruch.
Behauptung 2: Es geht um Sanktionen der westlichen Wertegemeinschaft. Deutschland kann hier nicht aus der Reihe tanzen.
Antwort: Die deutliche Mehrheit der Weltgemeinschaft beteiligt sich nicht an diesen Sanktionen. Das trifft auf ein autoritär geführtes Land wie China zu. Das trifft aber auch auf Indien oder auf die Mehrheit der afrikanischen Staaten, selbst auf Südafrika, zu. Es gibt hier nicht eine breite Allianz einer „westlichen Wertegemeinschaft“. Vor allem die Länder im globalen Süden erinnern sich gut daran, dass der Westen (USA, Nato usw.) in Vietnam, in Afghanistan, im Irak, in Jugoslawien (gegen Serbien) und in Libyen vergleichbare Kriege, wie Putin sie in der Ukraine führt, führten. Und dass diese „westliche Wertegemeinschaft“ den schmutzigen Kriegs Saudi-Arabiens im Jemen unterstützt.
Behauptung 3: Mit den Sanktionen wird die russische Elite, werden Putin und die Oligarchen getroffen.
Antwort :Das ist nicht der Fall. Die enge Entourage von Putin ist ohnehin seit der Krim-Krise mit Sanktionen belegt. Doch die Schicht der russischen Multimillionäre ist so gut wie nicht von Sanktionen betroffen. Deren Vermögen ist in Immobilien und Wertpapieren angelegt – und dies zu rund zwei Drittel im Westen. Auch gibt es russische Anteilseigner an Großkonzernen in der EU. Nur wenige Superjachten von Oligarchen wurden tatsächlich und auf Dauer beschlagnahmt. Der weltbekannte französische Ökonom Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) schrieb dazu: „Um die russische Regierung in ihre Schranken zu verweisen, müssten sich die Sanktionen dringend auf die schmale Schicht der Multimillionäre konzentrieren. […] So könnte man etwa die Personen ins Visier nehmen, die mehr als 10 Millionen Euro an Immobilien und Finanzvermögen besitzen. Nach den neuesten Informationen sind das etwa 20.000 Personen. Dies entspricht 0,02 Prozent der russischen Bevölkerung von derzeit 110 Millionen.[…] Diese 20.000 Menschen sind diejenigen, die seit dem Machtantritt Putins am meisten vom Regime profitiert haben. […] Zur Umsetzung einer solchen Maßnahme würde es ausreichen, wenn die westlichen Länder endlich ein internationales Finanzregister (Global Financial Register) einrichten würden.“ Piketty beschreibt im Folgenden, dass und wie ein solches Register eingerichtet werden könnte. Doch das fand und findet nicht statt. Und warum? Antwort Piketty: „Aus einem einfachen Grund: Die Reichen im Westen fürchten, dass eine solche Transparenz ihnen letztlich schaden würde. Die Konfrontation zwischen „Demokratien“ und „Autokratien“ wird überzeichnet und dabei vergessen, dass die westlichen Länder mit Russland und China nicht nur eine ungezügelte kapitalistische Ideologie teilen, sondern auch ein rechtliches, steuerliches und politisches System, dass alle großen Vermögen begünstigt.“[1]
Behauptung 4: Wir müssen wegkommen vom russischen Öl und Gas. Das ist Teil der notwendigen Energiewende
Antwort: Das Gegenteil findet statt. Seit Kriegsbeginn erhöht sich die Abhängigkeit der deutschen und der übrigen westeuropäischen Ökonomie von fossilen Energieträgern bzw. von der hochriskanten Atomenergie. Anstelle Öl und Gas des autokratischen Russlands gibt es Gas und Öl von den nicht minder autokratischen Regimen im Nahen und Mittleren Osten. Gleichzeitig werden die Kohlekraftwerke länger betrieben und teilweise neu angeworfen. Dutzende neue Atomkraftwerke sollen gebaut werden. Die Laufzeit noch in Betrieb befindlicher AKW wird verlängert. In Groningen, in den Niederlanden, soll nun doch – und dies für den deutschen Markt – mehr Gas gefördert werden, und dies, obgleich es zu immer heftigeren Erdbeben kommt und inzwischen viele hundert Häuser beschädigt sind. Selbst Fracking soll in Deutschland möglich werden. Schlagzeile Anfang August: „BP verdreifacht den Gewinn.“ Aktuell fahren die Ölkonzerne die größten Gewinne seit eineinhalb Jahrzehnten ein. Damit erhöht sich erneut deren spezifisches Gewicht in der Weltökonomie. Bilanz: Die Energiewende wird erneut unterlaufen. Und das findet statt in einer Zeit mit Hitzewellen, ausgetrockneten Flüssen und hunderten Quadratkilometern mit brennenden Wäldern. Nicht einmal die so naheliegende, minimale und doch hochwirksame Forderung nach Tempolimits von 30 (in Wohngebieten), 80 auf Bundesstraßen und maximal 120 auf Autobahnen wird umgesetzt.
Behauptung 5: Alle müssen die Kosten für die Unterstützung der Ukraine mittragen; das ist unsere moralische Pflicht.
Antwort: Richtig ist, dass die durchschnittliche Bevölkerung gewaltige Kosten für die Sanktionspolitik tragen wird. Das trifft zu auf die Bevölkerung in Russland und in der Ukraine. Das trifft auch zu auf die Bevölkerung in Deutschland und im übrigen Europa. Mitte August gehen amtliche Stellen davon aus, dass sich ab Winter 2022/23 die Energiekosten im Vergleich vom Jahr 2021 rund verdreifachen. Auf einen durchschnittlichen Vier-Personenhaushalt sollen, inklusive Strom, zusätzliche Kosten in Höhe von 4-5000 Euro im Jahr kommen – so der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft.[2] Ein gewisser Teil davon mag durch staatliche Hilfen „abgefedert“ werden. Doch insgesamt läuft das auf den größten Reallohnverlust seit Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus. Wobei erneut zu betonen ist: Damit wird weder die russische Wirtschaft in die Knie gezwungen, noch wird der weitere Kreis der russischen Elite getroffen.
Übrigens: Öl- und Gasimporte aus Russland gibt es in Deutschland seit Anfang der 1970er Jahre. Damals herrschte in Russland respektive in der Sowjetunion ein mindestens so repressives Regime wie heute. Dieses führte in Afghanistan ab dem Jahr 1979 einen mindestens so aggressiven Angriffskrieg wie dies die Regierung Putin heute in der Ukraine macht. Und es gab das West-Ost-Wettrüsten.
Doch in all den Jahren wurden niemals die Energieimporte aus der Sowjetunion gekappt – nicht unter dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt und nicht unter dem CDU-Kanzler Helmut Kohl.
Anmerkungen:
[1] https://zeitschrift-luxemburg.de
[2] FAZ vom 3. August 2022.
Dieser Beitrag erscheint ab 18.8. in der Printausgabe der „Zeitung gegen den Krieg“ Nr. 52.
Diese kann HIER bestellt werden.