Tabubruch Kosovo-Krieg

Als Milomir Marić, Direktor des serbischen TV-Senders „Happy“, mich am 9. März zum Auftakt eines Gesprächs vor laufender Kamera fragt: „Wie kam es, dass Sie zum Freund der Serben wurden?“, antworte ich irritiert-vage mit „Es geht mir in erster Linie um die Wahrheit, nicht primär um Serbien.“ In Belgrad, vor dem Hintergrund, dass Deutschland in den letzten 105 Jahren dreimal an einem Angriffskrieg auf Serbien beteiligt war, hat die Frage ihre Berechtigung. Selbst die Kenntnisse über den Ersten Weltkrieg, in dem mehr als ein Viertel der serbischen Bevölkerung das Leben verlor, sind in Serbien bis heute weit verbreitet. Der kleine Verlag Prometei in Novi Sad, in dem das Buch von Klaus Gietinger und mir „Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg erlöst“ in serbischer Sprache erschien, hat in den Jahren 2014 bis 2018 insgesamt 65 (in Worten: fünfundsechzig) Bücher zu dem „Großen Krieg“, wie der Erste Weltkrieg in Serbien genannt wird, publiziert. An den Überfall der Wehrmacht auf Belgrad – Hitler hatte mit der „Weisung Nr. 25“ befohlen, Belgrad „durch fortgesetzte Tag- und Nachtangriffe … zu zerstören“ – erinnert unser Übersetzer Milos Kazimirovic mit dem Verweis, dass seine Großmutter im April 1941 Opfer der Brandbomben wurde und „bei lebendigem Leib verbrannte“.

Der dritte Krieg schließlich, dessen Beginn sich in diesen Tagen zum zwanzigsten Mal jährt, ist für eine große Mehrheit der serbischen Bevölkerung schmerzhaft präsent. Man wird an ihn erinnert in fast allen Gesprächen mit Serbinnen und Serben und bei vielen Fahrten und Wegen durch Novi Sad und Belgrad – beispielsweise in Serbiens Hauptstadt beim Blick in die aufgerissene Haushälfte des Gebäudes von Radio Televizija Srbije (RTS), das Opfer der Nato-Bomben wurde.

Was mich besonders betroffen macht, ist die Erkenntnis, dass die eigene Erinnerung an diesen Krieg, den ich 1999 als Bundestagsabgeordneter der PDS durchaus einigermaßen konkret erlebte, bereits wieder verblichen ist. Dass mir erst in den Gesprächen vor Ort in Belgrad und dann, zurück in Deutschland, beim Aufarbeiten des Erlebten, beim Neu-Lesen von Büchern und Reden zum Krieg, auch eigenen, und bei der Aktivierung meines Archivs wieder deutlich wird, welch ein Tabu-Bruch dieser Krieg für das damals jung vereinte Deutschland darstellte. Und wie infam-erfolgreich dieser war. Dass bis zu zwei Drittel der Bevölkerung Bundeswehreinsätze im Ausland wie denjenigen in Afghanistan ablehnt, ist für neunzig Prozent der Bundestagsabgeordneten, die immer wieder aufs Neue für diese Auslandseinsätze stimmen, kein Anlass zur kritischen Reflexion. Die maßgeblichen Mitglieder von CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen, die den Kosovo-Krieg und die deutsche Beteiligung an diesem Krieg unterstützt haben, empfinden ein Leben mit einem offenkundig dauerhaften Verfassungsbruch als unproblematisch. Die Artikel 25 und 26 des Grundgesetzes lauten: „Die Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen dem Grundgesetz vor.“ Und: „Handlungen, die geeignet sind, […] das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig.“ Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, der am 24. März 1999 begann und an dem sich ab diesem Datum 78 Tage lang deutsche Soldaten und deutsche Tornado-Kampfflugzeuge beteiligten, war ein Angriffskrieg. Er erfolgte ohne UN-Mandat und bei eindeutigem Bruch des Völkerrechts. Altkanzler Helmut Schmidt hat entsprechend argumentiert und den Krieg verurteilt. Oskar Lafontaine hat am 1. Mai 1999 – er war am 11. März 1999 von seinen Funktionen als Finanzminister und SPD-Parteivorsitzender zurückgetreten – in einer Rede im Saarbrücker Deutsch-Französischen Garten festgestellt: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir eine Volksgruppe [die Serben; W.W.] dämonisieren. […] So kann man nicht zu Frieden kommen.“[1]

Der Tabubruch Kosovo-Krieg hatte zwei entscheidende Voraussetzungen. Erstens die Einbindung von SPD und Grünen. Dieser Krieg mit maßgeblicher deutscher Beteiligung wäre nicht möglich gewesen, wenn im September 1998 Helmut Kohl die Wahl gewonnen und SPD und Grüne Oppositionsparteien geblieben wären. Kohl sagte einmal Anfang der 1990er Jahre „Balkan – nie“. Mit einem gewissen gesunden Bauchgefühl ging er davon aus, dass ein dritter Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan innerhalb eines Jahrhunderts zu sehr das verletzen könnte, was sein Verteidigungsminister Volker Rühe als „gewachsene Instinkte der Menschen“ – gemeint: Friedensliebe – bezeichnet hatte.[2] Dass also der Widerstand in der Bevölkerung zu groß werden könnte, wenn ein neuer Krieg auf dem Balkan in Bonn respektive Berlin von einer Regierungspartei dirigiert worden wäre, die dem konservativen Lager mit einigen personellen Verbindungen zur NSDAP (Globke! Kiesinger!! Filbinger!!!) zuzurechnen war.

Die zweite Voraussetzung war: SPD und Grüne als Regierende mussten das Ja zum Bruch von Völkerrecht und Verfassung engagiert und demagogisch begründen, dabei die verbrecherische deutsche Politik im Zweiten Weltkrieg auf den Kopf stellend. Das klang beim Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD, so: „Wir führen keinen Krieg. Aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen. […] Der entscheidende Punkt, den Menschenschlächter in Belgrad zu bekämpfen, ist unsere Festigkeit.“[3] Der Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, SPD, argumentierte wie folgt: „Inzwischen werden im Kosovo [von den Serben] offensichtlich Konzentrationslager eingerichtet.“[4] Ludger Volmer, Staatssekretär der Grünen, behauptete: „Das, was Milosevic betreibt, ist Völkermord. Er bedient sich der gleichen Kategorien, deren sich Hitler bedient hat.“[5] Der deutsche Außenminister Joseph Fischer, Grüne, benutzte eine Ernst-Jünger-Sprache: „Jetzt werden die Grünen gehärtet oder zu Asche verbrannt.“[6]

Es könnte ein peinliches Versehen sein, dass die deutsche Regierung – hier unter Kanzler Kohl – die provokative Anerkennung von Bosnien-Herzegowina als eigenständigen Staat am 6. April 1992 vornahm, am Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Jugoslawien. Kein Zufall mehr ist dann die Tatsache, dass diejenige Passage in dem Ultimatum der NATO vom 18. März 1999, die für Belgrad nicht annehmbar war, in der Substanz demjenigen Teil des k. u. k.-Ultimatums vom Juli 1914 entspricht, der für Belgrad nicht annehmbar war. Zwei Vorwände für Kriege, herbeigeführt mit vergleichbarem „wording“. Christopher Clark bezeichnet in seinem Weltbestseller „Die Schlafwandler“, in dem er die Serben auf hunderten Seiten schmäht und demütigt, „die österreichische Note“ [von Juli 1914; W.W.] als „deutlich zurückhaltender als das Ultimatum, das die NATO im Februar und März 1999 […] Serbien-Jugoslawien vorlegte.“[7]

Nach Abschluss des Waffenstillstands am Ende des Kosovo-Kriegs marschierten 50.000 NATO-Soldaten im Kosovo ein. Darunter auch einige Tausend deutsche Bundeswehr-Soldaten. Alle wurden von der albanisch-kosovarischen Bevölkerung freudig begrüßt; die letztgenannten nicht selten mit dem Hitler-Gruß. Dazu hieß es im „Leitfaden für Bundeswehrsoldaten im Kosovo“, herausgeben im Juni 1999 vom „Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr“: „Es ist nicht auszuschließen, dass Sie von Verwandten oder Freunden ehemaliger Angehöriger der SS-Division ´Skanderberg´ [einer unter dem NS-Regime in Großalbanien dienenden Einheit; W.W.] oder albanischer Partisanenbataillone […] auf geschichtliche Bezüge angesprochen werden. Die Motive hierfür müssen nicht unbedingt in der Heroisierung der deutschen Vergangenheit liegen. Es ist denkbar, dass der Betreffende in seiner Sympathie für Deutschland […] einen Anhaltspunkt sucht, um eben diese Begeisterung bei unzureichenden Sprach- und nur punktuellen Geschichtskenntnissen zum Ausdruck zu bringen. Er könnte genauso gut einen deutschen Fußballer nennen.“[8]

Anmerkungen:

[1] Wiedergegeben in: Tageszeitung Junge Welt vom 3. Mai 1999

[2] Rühe hatte 1992 geäußert: „Niemand sollte erwarten, dass die Übernahme neuer Aufgaben in der Außenpolitik [gemeint waren Auslandseinsätze der Bundesehr; W.W.] über Nacht geschieht. Die in 40 Jahren gewachsenen Instinkte der Menschen lassen sich nicht einfach wegkommandieren. […] Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht darum allein, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese Aufgaben vorzubereiten.“ Zitiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1992

[3] Erster Teil des Zitats nach dpa vom 24. März 1999; 2. Teil nach BILD vom 1. April 1999

[4] Nach: Kölner Stadtanzeiger vom 2. April 1999

[5] Interview mit L. Volmer in: Neues Deutschland vom 1. April 1999

[6] In: Wirtschaftswoche vom 15. April 1999

[7] Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, S. 585

[8] Zitiert bei Hannes Hofbauer, Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus, Wien 2008, S. 104

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