Russland mit dem Rücken zur Wand Vabanquespiel Ukraine
Vielleicht ist das Klischee, wonach die europäischen Großmächte quasi schlafwandelnd in den Ersten Weltkrieg stolperten, nicht ganz verkehrt. Der zentrale Konflikt, der zur gegenwärtigen geopolitischen Konfrontation geführt hat, besteht in der Ostexpansion der Nato im postsowjetischen Raum. Die Ukraine bildet das Objekt der Begierden.
Seit dem westlich unterstützten Umsturz von 2014, als die damalige prorussische Regierung Janukowitsch von nationalistischen Kräften gestürzt wurde, ist Kiew bemüht, trotz Bürgerkrieg, eingefrorener Konflikte und ungeklärter Territorialfragen in die Nato und die EU aufgenommen zu werden und die Westintegration des Landes irreversibel zu machen.
Russlands wichtigste Forderung be- steht darin, dem Vorrücken des westlichen Militärbündnisses an seiner Südflanke einen Riegel vorzuschieben. Die Nato soll darauf verzichten, weitere postsowjetische Länder – konkret sind es die Ukraine und Georgien – aufzunehmen. Laut New York Times geht es dem Kreml um ein Sicherheitsabkommen wie zu Zeiten des Kalten Krieges – was aber seitens der Nato „sofort abgelehnt“ wurde. Der Kreml will einen Puffer neutraler Staaten zwischen der Russischen Föderation und dem Westen. Während des Kalten Krieges übten neutrale Länder wie Österreich oder Finnland eine solch deeskalierende Funktion aus. Österreich, aus dem sowjetische Truppen 1955 unter der Zusage einer dauerhaften Neutralität abzogen, ist bis zum heutigen Tag formell neutral. Finnland erteilte Spekulationen über einen etwaigen Nato-Beitritt im Januar eine Absage.
Russland sieht sich vom Westen getäuscht, der Länder des Warschauer Paktes in seine Militärallianz aufnahm. Moskau verweist auf mündliche Zusagen der USA Anfang der 90er Jahre gegenüber der damaligen sowjetischen Führung. Westliche Diplomaten sprechen hingegen von einem Missverständnis, dem der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Gorbatschow unterlegen sei, so die New York Times. Was sich abzeichnet, ließe sich als Wiederaufführung des sogenannten Great Game des 19. Jahrhunderts interpretieren, als die damaligen Großmächte Russland und Großbritannien um die Vorherrschaft in Zentralasien rangen, wobei sich die Begehrlichkeiten heute auf westlichere Regionen richten.
Deutsche Projektionen
Die aktuellen Spannungen wurden in den westlichen Medien tendenziös antirussisch begleitet. Während westliche Politiker den Kreml aufforderten, seine „zaristischen Ambitionen“ fallen zu lassen, sprachen US-Diplomaten von „Kriegstrommeln“, die in Europa gerührt würden.
Dabei enthalten die Medienangriffe gegen den Kreml einen Anteil verzerrter Wahrheit. Russland ist eine repressive und postdemokratische Macht. Präsident Wladimir Putin trauert der Sowjetunion als einem imperialen Gebilde nach, nicht aufgrund ihres staatssozialistischen Charakters.
Russland finanziert und unterstützt die Neue Rechte in Europa, während es linke Kräfte bekämpft. 2015 half Putin, die links-sozialdemokratische Regierung in Griechenland in die Knie zu zwingen, die sich dem deutschen Spardiktat in der Eurozone widersetzte. Die Aufstände in Belarus und Kasachstan sind nur aufgrund russischer Interventionen gescheitert. Armenien, ein formeller Bündnispartner Russlands, wurde vom Kreml 2020 zum Abschuss durch Aserbaidschan und die Türkei freigegeben, weil dort im Rahmen einer bürgerlich-demokratischen Revolution die alten moskauhörigen Machteliten abgelöst wurden.
Die „imperialen Ambitionen“ Russlands sind ein Faktum. Doch wenn russische Staatsmedien davon berichten, dass „Schweigen und Missinformation“ westlicher Medienkonzerne „imperialen Interessen“ dienen, dann haben sie damit ebenso recht, wie ihre westliche Konkurrenz, die russische Medien als weitgehend „staatlich kontrolliert“ charakterisiert.
Postsowjetische Dominos
Russia Today fabriziert nicht nur Desinformationen, es finden sich dort auch Beiträge über die katastrophale Lage der Obdachlosen in Los Angeles, die keiner ideologischen Verzerrung bedarf, um ihre propagandistische Funktion zu erfüllen.
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Westen und Russland: Der imperiale Anspruch des Kreml kollidiert mit einer geopolitischen Realität, in der sich Moskau in der Defensive befindet. Das Herrschaftsgefüge im Kaukasus, in Belarus und zuletzt in Kasachstan zeigt Risse. Die russische Einflusssphäre im postsowjetischen Raum, den der Kreml zu einem dritten geopolitischen Machtzentrum zwischen der EU und China ausbauen wollte, erodiert.
In dieser strategischen Konzeption spielte die Ukraine eine zentrale Rolle. Zur Erinnerung: Ende 2013 musste sich die damalige ukrainische Regierung unter Wiktor Janukowitsch infolge einer wirtschaftlichen Misere für die Einbindung des Landes in ein Bündnissystem entscheiden: entweder in ein östliches, gemeinsam mit Russland, oder Richtung Westen, in die EU. Janukowitsch, der seine politische Basis in der ostukrainischen Oligarchie hatte, entschied sich für die russische Zollunion.
Daraufhin intervenierte der Westen, indem er den Sturz der gewählten Regierung förderte, der in seiner militanten Spitze von westukrainischen Rechtsextremisten durchgesetzt wurde. Es folgte der Bürgerkrieg im Osten des Landes, die Annexion der Krim durch Russland, sowie die Unterstützung der Ukraine durch den IWF.
Der Westen, der nun die Verletzung der Souveränität der Ukraine beklagt, trat deren Souveränität selber mit Füßen, solange es galt, die Ostorientierung der Regierung Janukowitsch zu sabotieren und das Land aus dem geopolitischen Orbit Russlands zu lösen. Great Game: Es galt, einen Machtblock östlich der EU zu verhindern, der die Ambitionen des Westens im postsowjetischen Raum langfristig zunichte gemacht hätte und der östlichen Peripherie der EU eine alternative Bündnisoption eröffnet hätte.
Russlands Planungen für eine Zoll- union im postsowjetischen Raum konnten – um den Preis eines Umsturzes und Bürgerkrieges – vom Westen torpediert werden. Denn was der Westen dem Kremlchef tatsächlich nicht verzeihen kann, ist sein einziges historisches Verdienst: die Stabilisierung der Russischen Föderation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die nicht zu einer Peripherie zugerichtet wurde, sondern sich als eigenständiger imperialistischer Machtfaktor, als Konkurrenz zum Westen, etablieren konnte. Die Intervention in der Ukraine hatte gerade den Zweck, die Stabilisierung eines postsowjetischen Bündnissystems nach Vorbild der EU zu verhindern.
Die Ukraine ist kein Einzelfall. Auch der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko befand sich 2020 in heikler Lage. Getrieben von Massenprotesten musste er sich entscheiden zwischen der Integration in die belarussisch-russische Union und seinem Machtverlust. Er, dessen Land hauptsächlich von der Weiterverarbeitung russischen Erdöls in den Staatsraffinieren lebt, entschied sich für Ersteres. Die Instabilität des pleitebedrohten Landes bereitete den Boden für die Protestbewegung, auf die der Westen dann versuchte Einfluss zu nehmen. Ähnlich in Kasachstan, wo die desolate Lage der Bevölkerungsmehrheit jüngst zu blutigen Unruhen führte. Spekulationen über Machtkämpfe innerhalb der Oligarchie des zentralasiatischen Landes können die sozioökonomische Instabilität des kasachischen Staates nicht verdecken. Ohne die kurzfristige russische Intervention hätten die Zerfallserscheinungen im Staatsapparat, wo etliche Polizei- und Militäreinhe iten den Dienst verweigerten, nicht gestoppt werden können.
Neoimperialismus und Krise
Putin ist damit beschäftigt, die autoritären Machtstrukturen im russischen Hinterhof zu stabilisieren. Es handelt sich zumeist um oligarchische Systeme oder schlichte Kleptokratien, die aus der spätsowjetischen Nomenklatura hervorgegangen sind und sich weite Teile der Konkursmasse der Sowjetunion angeeignet haben – entweder in formell privatwirtschaftlicher Form, wie es der ukrainischen Oligarchie gelang, oder in Form einer Staatsoligarchie wie in Russland. Nahezu alle postsowjetischen Regime leben hauptsächlich vom Export von Energieträgern und anderen Rohstoffen sowie Vorprodukten. Wie bereits die Sowjetunion in den 80er Jahren, scheiterten nach deren Zerfall die Nachfolgestaaten an einer Modernisierung. Auch die neuerlichen Modernisierungsbemühungen des Kreml, dessen einziger global wettbewerbsfähiger Industriezweig die Militärindustrie ist, sind gescheitert.
Die postsowjetische Misere spiegelt die Krise des spätkapitalistischen Weltsystems, das aufgrund eines fehlenden Akkumulationsregimes nur noch auf Pump läuft. Dessen Zentren verfügen aber über ökonomische Großräume samt Euro und Dollar, die bis vor Kurzem eine Verschuldung über die Geldpresse ermöglichten. Mit ihrer Intervention in der Ukraine 2013/14 stellten EU und USA sicher, dass dem postsowjetischen Raum kein ähnliches Kriseninstrument zur Verfügung stehen wird. Das Great Game um Eurasien gleicht somit einem Krisenimperialismus, einem Kampf gegen den sozioökonomischen Abstieg. Es ist eine Art Kampf auf der Titanic.
Es ließe sich gar argumentieren, dass die durchweg autoritären postsowjetischen Regime in der Einflusssphäre Russlands gar nicht mehr zu einer demokratisch-kapitalistischen Modernisierung fähig sind, da solche Transformation dem Westen die Chance zur Intervention verschaffen würden. Historisch betrachtet, setzte die große autoritäre Formierung in Belarus, Kasachstan und Russland im vollen Umfang erst nach der orangefarbenen Revolution 2004 in der Ukraine ein, als westliche Denkfabriken und NGOs die relativen Freiräume dort ausnutzen konnten, um die prowestliche Regierung unter Wiktor Juschtschenko durchzusetzen.
Der russische Traum eines eigenständigen ökonomischen Großblocks zwischen der EU und China, der resistenter gegenüber Krisenerschütterungen wäre, ist ausgeträumt. Putin steht gewissermaßen mit dem Rücken zur Wand. Während es an allen Ecken in der russischen Einflusssphäre brennt, will der Westen sich in einer Region etablieren, die jahrhundertelang Teil Russlands war. Keine russische Regierung könnte es sich innenpolitisch erlauben, dies hinzunehmen. Die gegenwärtige Situation ist gerade deswegen so gefährlich, weil Putin keine Rückzugsoptionen hat. Es ist ausgeschlossen, dass der Kreml eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine akzeptiert.
Russland ist eine reaktionäre, dem Westen sozioökonomisch unterlegene, imperialistische Großmacht, die vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Systemkrise um ihr Überleben kämpft, um nicht doch noch von den westlichen Neoimperialisten zur Peripherie zugerichtet zu werden.
Tomasz Konicz lebt in Polen, referiert viel in Deutschland, schreibt seit Jahren in Lunapark21 und ist unter anderem Verfasser des Buchs „Klimakiller Kapital – Wie ein Wirtschaftssystem unsere Lebensgrundlagen zerstört“. Er veröffentlicht auch auf Patreon: https://www.patreon.com/user?u=57464083