Ein arabischer Frühling in neuem Gewand

Ein Friedensnobelpreis für das algerische Volk

Der Friedensnobelpreis geht dieses Jahr an den äthiopischen Staatschef Abyi Ahmed. Verliehen wird er am 10. Dezember in Oslo. Meist werden einzelne Personen, Politiker ausgezeichnet. Selten Gruppen von Menschen oder gar Staaten-Bündnisse – wie 2012 die EU. Friedensgruppen oder -bewegungen wurden so gut wie nie ausgezeichnet. Das versucht der alternative Nobelpreis auszugleichen. Dabei wäre dieses Jahr die Zeit reif für das Osloer Komitee gewesen. Und die Wahl recht klar, wie Kim Müller meint.

Der Friedensnobelpreis an das algerische Volk! Nichts entspräche 2019 mehr dem Geist von Alfred Nobel, mutige und engagierte Vorbilder für Dialog, Ausgleich und Frieden auszuzeichnen. Nicht eine Person, sondern die ganze algerische Demokratie-Bewegung, die Menschen selbst haben das verdient. Seit dem 22. Februar protestieren Woche um Woche Millionen, jung und alt, in Algier und landesweit gegen ein Regime, dessen alternder, Rollstuhl-fahrender Präsident Bouteflika noch im Frühjahr versucht hat, mit einem fünften Mandat, Korruption und Betrug gesellschaftsfähig zu machen. Die Straße zwang ihn zum Rückzug.

Inzwischen gehen die Straßenproteste in den zehnten Monat. (…) Statt der vorgesehenen Wahl eines neuen Präsidenten am 12. Dezember, wollen die Menschen, dass das alte System abtritt, das Militär in die Kasernen zurückkehrt, korrupte Eliten vor die Justiz kommen. Eine neue Verfassung fordern sie, und eine neue Republik Algerien. Ein weiter Weg. Ein gefährlicher Weg. Denn nach Festnahmen und zunehmendem Einschreiten der Sicherheitskräfte zuletzt wächst die Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße.

Bemerkenswert dabei ist: die Demonstranten auf den Straßen in Algerien lassen sich nicht provozieren. Keine Gewalt, lautet ihr Motto, (…) ganz in der Tradition eines Mahatma Gandhi. Die algerische Protestbewegung hat sogar eine ökologische Komponente: regelmäßig räumen die Aktivisten ihren Müll von den Straßen, nach dem Protest. Sie erledigen damit, was eigentlich der Job der Behörden ist.

Leider nehmen unsere Medien kaum Notiz vom Hirak, dem Aufstand der Massen in Algerien. Fernsehen und Massenmedien sind abwesend. So geht das Besondere fast unter: Anders als bei den Protesten in Hongkong, in Chile, in Bolivien oder in Venezuela liefert Algerien keine Bilder der Gewalt. Zehn Monate dauert der pazifistische Schwur der Demonstranten. Obwohl viele Algerier mächtig Wut im Bauch haben.

Ausgerechnet die Jugend, Studenten, die junge Generation also, führt den Protest an. In Hongkong, Chile und anderswo berufen sich die Jungen auf ihr Recht zur ultimativen Gegenwehr, eine Art Notrecht der Gewalt, weil man ihnen Perspektive und Zukunft raubt. Die junge Generation in Algerien dagegen, sofern sie nicht längst ausgewandert ist, agiert zivil, friedlich und diszipliniert. Sogar älteren Aktivisten nötigt das Respekt ab, ja Verwunderung. Denn bisher galt gerade die algerische Jugend als unzuverlässig und unpolitisch. In der Kölner Silvesternacht 2015/16 sollen es vor allem sogenannte Nafris, Nordafrikaner also gewesen sein, die die Menschen in Schrecken versetzten. Jetzt gibt Algerien, das größte Land Nordafrikas, ein unerwartet positives Bild der Nafris. Ein arabischer Frühling in neuem Gewand.

Algeriens Frauen tragen wesentlich dazu bei, dass die Proteste in Algerien friedlich verlaufen. Sie sorgen mit dafür, dass ganze Familien für ihre Rechte auf die Straße gehen. Wenn Mütter, Tanten und Omas mit auf der Straße sind, wird auch er Knüppel nicht so leicht geschwungen.

Aber warum gelingt es (bei) den algerischen Massenprotesten, friedfertig zu bleiben, während der Protest anderswo längst blutig verläuft? Mittlerweile haben sich Wissenschaftler über das Phänomen gebeugt, in Algerien wie im Ausland. Forscher weltweit staunen. Nichts in der algerischen Protestbewegung deutet etwa auf die Rückkehr fundamentalistischer Gewalt hin, auf jenen Terror der schwarzen 90er Jahre, der das Land ein Jahrzehnt zur Hölle gemacht hat. Westliche Experten staunen, ihre Prognosen lagen daneben. Tatsächlich sind die Fundamentalisten seit 10 Monaten marginalisiert unter den Demonstranten. Sie spielen keine Rolle. Die Massen schicken sie nach Hause. Sie gelten als Provokateure, als ausgelaufenes Modell. Algeriens Muslime, auch das ein Zeichen an die Welt, sind friedfertig, erscheinen vernunft-geleitet.

Man wünscht also dem Nobel-Komitee, der Welt und auch Deutschland, dass sie nach Algerien schauen. Der Westen und Deutschland aber halten sich bedeckt. Wie im Fall Iran spielen wirtschaftliche Gründe eine Rolle. Die DDR hat im Kalten Krieg Algerien mit Entwicklungshilfe gepäppelt. Heute liefert Deutschland eine Fregatte an Algier und kooperiert in der Panzerproduktion intensiv vor Ort mit Algerien. Wo diese Fahrzeuge eingesetzt werden bleibt unklar.

Eine Einmischung in innere Angelegenheiten wünschen sich die Algierer nicht. Ganz im Gegenteil. Das koloniale Erbe Frankreichs wirkt hier nach. Aber mehr Aufmerksamkeit und moralische Unterstützung für die Demokratie-Bewegung und von Menschenrechtsorganisationen weltweit – das darf, ja das muss möglich sein.

Gut möglich aber, dass die Regierenden in Berlin Angst davor haben. Denn einmal mehr droht Instabilität in der arabischen Welt. Aber darf man Demokratie in Hongkong und Santiago fordern und in Algier wegschauen? Algerien fordert unsere Werte und unsere Glaubwürdigkeit heraus. Das südliche Mittelmeer und Nordafrika sind Europas Hinterhof. Hier entscheidet sich die Migrationsfrage mit. Wenn Algerien, wie es Europas Politiker sich wünschen, ein sicheres Herkunftsland sein soll, braucht es Reformen.

Eine Lösung wie im Sudan, wo Militär und Demonstranten am runden Tisch zusammengefunden haben, scheint dabei nicht die Option für Algerien. Das algerische Militär, so heißt es, lehne dies ab. Das Volk möchte, dass das Militär in die Kasernen zurückkehrt, und dass Korruption dem Primat der Politik Platz macht. Eine Utopie? Gandhis Erbe ist keine Chimäre. Einsichtige Militärs hat es in der Geschichte der Menschheit immer wieder gegeben. Man denke an Yitzhak Rabin, auch er ein Friedensnobelpreisträger.

Das Wort Demokratie kommt von Demos, dem Volk. Was also liegt näher in dieser Adventszeit, als dem algerischen Volk Ehre zu erweisen.

Mehr lesen:

Ägypten ohne Brot und Freiheit Politisch-ökonomische Hintergründe der aktuellen Konflikte Christoph Sorg. Lunapark21 - Heft 23 Die ägyptischen Umbrüche der letzten Jahre waren z...
Falsche Frontenstellung in den tunesischen Wahlen Von vertagten sozialen Konflikten, Islamophobie und der Rückkehr alter Eliten Christoph Sorg. Lunapark21 - Heft 28 Sanfte Klaviermusik spielt. Ein...