die klimapolitische Bilanz einer Kanzlerschaft
Beunruhigt durch die anhaltenden Proteste junger Menschen und das enttäuschende Abschneiden der Union bei den Europawahlen im Mai 2019 mahnte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Unions-Fraktionssitzung, es dürfe nun von der Regierung „kein Pillepalle mehr“ geben. Im Klimaschutz sei seit 2012 nichts mehr passiert.
Welch ernüchternde Bilanz angesichts ihrer Vita als Physikerin und Umweltministerin und der langen Zeit ihrer Kanzlerschaft. Stets hat Angela Merkel in der Frage der Klimaerwärmung einen engen Austausch mit Unternehmensvertreter: innen dem Rat der Klimaforscher vorgezogen. Nach vier Jahren als Bundesministerin für Frauen und Jugend im Kabinett Kohl wurde Angela Merkel im November 1994 Nachfolgerin des Bundesumweltministers Klaus Töpfer. Der hatte sich den Ruf eines engagierten Umweltpolitikers erworben, dessen Handeln nicht zuvorderst parteipolitisch geprägt, sondern an den drängenden Herausforderungen jener Zeit ausgerichtet war.
Von Rio nach Berlin
Luftverschmutzung, saurer Regen und Waldsterben, Tschernobyl, Ozonloch und Klimawandel hatten zu einer allgemeinen Sensibilisierung für das Thema Umweltschutz und zu ersten politischen Reglementierungen geführt. Nach Abschluss des überaus wirkungsvollen Montrealer Abkommens zum Schutz der Ozonschicht und der 1992 auf der Uno-Konferenz in Rio de Janeiro vereinbarten Klimarahmenkonvention schienen die Protagonisten entschlossener Umweltschutzmaßnahmen auf einem vielversprechenden Weg zu sein. Wenige Monate nach ihrem Amtsantritt fiel Merkel die Rolle der Gastgeberin der ersten Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen zu. Die Konferenz in Berlin endete mit einem Beschluss zur Ausarbeitung rechtlich verbindlicher Instrumente zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen der Industriestaaten. Ein Erfolg für Angela Merkel, der auch dazu beitrug, ihren Ruf als Klimaschützerin zu begründen.
Wie groß die Diskrepanz zwischen den auf internationaler Bühne zugesagten Anstrengungen und ihrer Bereitschaft zu deren politischer Um- setzung tatsächlich blieb, sollte sich später herausstellen.
Bereits als Generalsekretärin der CDU bekämpfte Angela Merkel im Frühjahr 1999 die von der rot-grünen Bundesregierung eingeführte Ökosteuer, deren Einnahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten beitragen sollten, mit einer groß angelegten Kampagne, obwohl sie – wie viele andere Mitglieder ihrer Partei – eine solche ökologische Steuerreform kurz zuvor befürwortet hatte. Töpfer zumindest lobte die Ökosteuer sowie allgemein die Umweltpolitik der rot-grünen Bundesregierung.
Als Bundeskanzlerin sah Merkel keine Veranlassung, die zuvor so heftig kritisierte Steuer wieder abzuschaffen. Und während das von der Vorgängerregierung erlassene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zu einem deutlichen Anstieg der Stromproduktion aus Windkraft und Photovoltaik führte, ließ sich die neue Regierungschefin medienwirksam vor dem grönländischen Eqi-Gletscher abbilden und als Klimakanzlerin feiern. Im Jahr darauf legte sie den Grundstein für die neuen RWE-Braunkohlekraftwerksblöcke in Neurath.
Neubesinnung
In der langen Zeit ihrer Kanzlerschaft scheint Angela Merkel jegliches Bewusstsein für die zu Beginn ihrer politischen Laufbahn so eindringlich beschworene Notwendigkeit des Klimaschutzes abhandengekommen zu sein. Noch in der Opposition erreichte die CDU/CSU im Vermittlungsausschuss des Bundestages eine Reduzierung der Förderung von Windkraftanlagen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde in den folgenden Jahren immer wieder abgeändert. Insbesondere seit 2010, mit der FDP als Regierungspartnerin, bewirkten neue Regelungen gravierende Veränderungen zu Ungunsten der erneuerbaren Energieerzeugung und eine erhebliche Kostenverschiebung von den großen Wirtschaftsunternehmen hin zu den privaten Stromverbrauchern. EE-Strom musste nun ausnahmslos an der Börse gehandelt werden, was den Strompreis für die direkt an der Börse kaufenden Großkunden erheblich senkte, während die aus der Differenz zwischen Börsenpreis und Vergütung für regenerativen Strom ermit telte EEG-Umlage rapide anstieg und ausweislich der jährlichen Stromabrechnung die Akzeptanz für erneuerbare Energien in der Bevölkerung verringerte.
Der Verbrauchsvorrang für EE-Strom wurde 2010 abgeschafft und die Kohlestromproduktion stieg. Die Kohlekraftwerke durften derart hohe Strommengen einspeisen, dass etwa im Jahr 2017, trotz der bereits erheblich reduzierten Gesamtleistung der noch betriebenen Atomkraftwerke, zehn Prozent der deutschen Gesamtproduktion exportiert werden mussten. 2012 schließlich wurden die Vergütungssätze und das Gesamtausbauziel für Photovoltaik-Anlagen deutlich reduziert, worauf die Zahl der in der Solarbranche Beschäftigten von über 150.000 auf rund 40.000 im Jahr 2017 fiel. Zum Vergleich: Als Argument für die Fortsetzung des Braunkohletagebaus werden etwa 20.000 Arbeitsplätze in allen deutschen Kohlerevieren angeführt. Erst im Juni 2020 wurde die Förderobergrenze wieder aufgehoben, nachdem die Solarbranche eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatte.
Beschwichtigung
Sigmar Gabriel, seit Dezember 2013 im dritten Merkel-Kabinett Bundesminister für Wirtschaft und Energie, schlug Anfang 2015 eine Zwangsabgabe auf mehr als 20 Jahre alte Kohlekraftwerke vor, um durch die Einsparung von zirka 22 Millionen Tonnen CO2 das von der Bundeskanzlerin 2007 gegebene Versprechen einer Minderung des Treibhausgasausstoßes um 40 Prozent bis 2020 noch zu erreichen. Der vorgelegte, innerhalb der Regierung abgestimmte Entwurf führte zu erheblichen Protesten aus dem Wirtschaftsflügel der CDU, von Gewerkschaften und den Kohleländern. Die Bundeskanzlerin hielt sich heraus, äußerte sich beschwichtigend, Gabriel werde alles nochmal rechnen, und versagte den Plänen ihres Wirtschaftsministers schließlich jegliche Unterstützung. Als Merkel im Juni auf dem G7-Gipfel im bayerischen Schloss Elmau wieder die Klimaschützerin gab und darüber sprach, „dass tiefe Einschnitte bei den weltweiten Treibhausgas-Emissionen“ erforderlich seien, war Gabriels Abgabe in ihrer ursprünglichen Form vom Tisch.
Nach langwierigen Verhandlungen startete Merkels vierte Amtszeit mit der erneuten Bildung einer großen Koalition und dem Eingeständnis, die Einhaltung der vor den Wahlen bis 2020 zugesicherten Verringerung des deutschen CO2-Ausstoßes um 40 Prozent gegenüber 1990 sei nicht mehr erreichbar. 2018 nahm eine Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung, die sogenannte Kohlekommission, ihre Arbeit auf und empfahl in ihrem Abschlussbericht im Januar 2019 die stufenweise Abschaltung der Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke, bis spätestens 2038, eine Entschädigung der Kraftwerksbetreiber, Strukturhilfen für die betroffenen Regionen und die Erhaltung des Hambacher Waldes.
Mit dem schließlich im August 2020 zwischen Bund und Ländern beschlossenen Kohleverstromungsbeendigungsgesetz wurde die für die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens schon unzureichende Empfehlung der Kommission in Bezug auf die Kraftwerkslaufzeiten nochmals aufgeweicht. Die überaus großzügige Entschädigung der Energiekonzerne RWE und LEAG mit 4,3 Milliarden Euro wurde dagegen übernommen.
Vernebelung
Wie sich später herausstellte, hielt der federführende Wirtschaftsminister Peter Altmaier während der Verhandlung des Gesetzes ein von seinem Ministerium in Auftrag gegebenes Gutachten zurück, das den für einen Ausstieg 2038 erforderlichen Kohlebedarf deutlich geringer veranschlagte als der Konzern RWE. Für den Betrieb der Tagebaue in Nordrhein-Westfalen wäre die Zerstörung weiterer Dörfer im Umkreis der Stadt Erkelenz demnach nicht erforderlich.
Bezeichnenderweise endet Angela Merkels Kanzlerschaft mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die Klimaschutzziele ihrer Regierung in Bezug auf die Emissionsminderungsziele für verfassungswidrig erklärt. Das Klimaschutzgesetz verschiebe hohe Emissionsminderungslasten auf Zeiträume nach 2030 und damit auf die jüngere Generation. Wir könnten und müssten deutlich weiter sein bei der Gestaltung der Energiewende. Selbst Wirtschaftsführer sind mittlerweile enttäuscht angesichts der Zaghaftigkeit, mit der die Bundesregierung agiert. Das Klima indessen orientiert sich nicht an dem politisch machbaren. Als Physikerin hätte Angela Merkel das wissen müssen.
Reinhard Noffke wohnt im Süden Mönchengladbachs wenige Kilometer vom Tagebau Garzweiler II entfernt. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die mit dem Kohleabbau betriebene Umweltzerstörung einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen.