Heißer Ritt

Ein spannender Roman über Jugend in Zeiten des ökonomischen Umbruchs

Das Motorrad benutzt er gar nicht mehr. Aber es hängen Erinnerungen daran, Erinnerungen an Zeiten, als das Leben noch ein schönes Abenteuer schien. Nun ist das Leben verbaut von Arbeit, Ehe, Kindern und Geldsorgen. Und auch die Gegend, in der Patrick Casati mit seiner Familie lebt, hat die besten Zeiten hinter sich. Eine deindustrialisierte Region in der französischen Provinz, deren lokale Politiker hoffen, die verlorenen Einnahmen durch die Schaffung touristischer Angebote zurück zu gewinnen.

Anthony, Patrick Casatis 14jähriger Sohn, ist die Hauptfigur dieses Romans. Der hängt viel mit seinem älteren Cousin rum, der mit Shit dealt und mit dem Anthony ein paar Klauereien begeht.

„Mein Vater bringt mich um, wenn ich an seine Maschine gehe“, weiß Anthony, aber er hat am See ein Mädchen getroffen. Und es gibt die Chance, sie wiederzusehen, am Abend auf einer Party, in einer Villa mit Swimmingpool. Mit dem Fahrrad ist es zu weit. Der Cousin drängt ihn, das Motorrad aus der Garage zu holen. „Denk an die Frau.“ „Ich sag dir, das geht nicht.“ „Du warst doch noch nie mit einer zusammen.“„Doch!“ „Die Geschichte hinten im Bus? Träum weiter.“ – Sie nehmen das Motorrad.

Die Party ist grandios, reiche Kinder, coole Typen, Drinks in Fülle. Dann taucht Hacine, Sohn eines marokkanischen Einwanderers, mit einem Kumpel auf. Eine Konfrontation droht, doch man wird die beiden schließlich glimpflich los. Anthony versucht Selbstvertrauen zu gewinnen, trinkt zuviel, und verschläft Party und Amouren. Am andern Morgen ist das Motorrad weg.

Mit „Wie später ihre Kinder“ gewann Nicolas Mathieu, Jahrgang 1978, den Prix Goncourt, den bedeutendsten französischen Literaturpreis, für den besten Roman des Jahres 2018. „Leurs enfants après eux“, so der Originaltitel, erschien in guter deutscher Übersetzung 2019 bei Hanser und im April dieses Jahres als Taschenbuch bei Piper.

Der Roman teilt sich in vier große Kapitel, überschrieben mit „1992“, „1994“, „14. Juli 1996“ und „1998“. Die Lesenden begleiten Anthony und seine Freunde durch die Adoleszenz, so könnte man sagen. Aber das ist nicht ganz richtig. Denn eigentlich hat Anthony keine Freunde. Die Jugendlichen in diesem Roman finden zu gemeinsamen Unternehmungen zusammen, zu Sex, zu Feiern. Doch ihr Verhältnis untereinander ist von einer latenten Gehässigkeit durchzogen, einer beständigen Konkurrenz, in der sich niemand der Anerkennung in der Gruppe sicher sein kann.

Wie Hacines Vater, so war auch Patrick Casati bis zu dessen Schließung Arbeiter im örtlichen Stahlwerk. Casati schlägt sich als Gärtner und Handwerker auf den Grundstücken begüterter Familien durch. Mit den Fabriken haben die ehemaligen Arbeiter auch ihren Zusammenhalt verloren. Und es scheint, als würden ihre Kinder auf ihre Weise auf Präkarisierung und Entsolidarisierung reagieren.

Ihre Heimatstadt hat den jungen Leuten keine Zukunft zu bieten. Und so versuchen sie, fortzukommen, am besten nach Paris, am besten an die Universität. Aber hier trennen sich die Wege. Die sozialen Unterschiede, die während der Pubertät in gemeinsamen Spielen, Grenzverletzungen und Kämpfen egalisiert schienen, werden nun entscheidend. Die Flucht, der soziale Aufstieg bleibt den Kindern aus wohlsituiertem Hause vorbehalten. Anthonys Ausbruch scheitert. Nur das Motorrad taucht wieder auf.

Nicolas Mathieu: „Wie später ihre Kinder“, Piper, 2021, 444 Seiten, 12 Euro


Nichts gegen alten Wein!

Ein frühes Buch über die Funktionsweise der Börse

Ja, wenn der Großvater damals Aktien der Kompanie gekauft hätte! Verfünffacht hat sich ihr Wert. Und dazu die Dividenden, im Schnitt 17 Prozent per Anno.

So sah die Bilanz im Jahre 1688 aus, als Joseph de la Vega sein Buch über die Amsterdamer Börse herausbrachte.

Die profitablen Aktien waren die der Niederländischen Ostindien-Kompanie, das erste Unternehmen, das den Kapitalaufwand, der für die gewagten Handelsexpeditionen nötig war, durch die Ausgabe von Aktien finanzierte. Bis dahin wurden größere Unternehmungen durch Schuldverschreibungen finanziert, die bei Rückkehr der Schiffe beglichen wurden. Die Aktionäre der Ostindien-Kompanie blieben zehn Jahre an ihr Investment gebunden. Ab 1612 wurden die Aktien an der ein Jahr zuvor gegründeten Amsterdamer Börse gehandelt, die als die älteste Effektenbörse der Welt gilt.

Mit dem Börsenhandel entwickelten sich zugleich Börsenspekulation und Derivatgeschäfte, so dass sich dieser Markt im Wesentlichen so darstellte, wie er heute noch funktioniert.

De la Vega hat sein Buch in vier Dialogen abgefasst im Stil klassischer Philosophie. Es treten auf: ein Kaufmann, dem das Dealen ohne handhabbaren Stoff suspekt ist, ein Aktionär, der die Geheimnisse des Handels mit papiernen Versprechen lüftet und ein Philosoph, der solchen Umgang auf Logik und Ethik abklopft. Und keiner der drei äußert einen Gedanken, ohne weit in die abendländische Mythologie abzuschweifen. Doch zwischendrin ist zu erfahren, wie die Geschäfte abgewickelt wurden.

Sicherlich konnte der Aktienhandel auf die Usancen der Warenbörsen rekurrieren, dennoch erstaunt es, dass bereits Kassageschäfte, Abschlüsse bei monatlicher Liquidation, Termin- und Optionsgeschäfte sowie die Beleihung von Aktien in Amsterdam gebräuchlich waren.

De la Vega lässt seinen Aktionär drei Arten von Börsianern unterscheiden, die Großkapitalisten, die Kaufleute und die berufsmäßigen Spekulanten, deren Gebaren im Zentrum der Dialoge steht und dem das Buch seinen Titel verdankt: „Die Verwirrung der Verwirrungen“.

Blankoverkäufe waren verbreitet. Heute sprechen wir von Leerverkäufen, also Abschlüssen, die dem Käufer zu einem bestimmten Termin die Lieferung von Aktien versprechen, ohne dass der Verkäufer die Aktien bereits besäße. Der hofft, dass die Papiere zum Termin billiger zu haben sein werden, als zu dem Preis, den der Käufer sich verpflichtet hat zu zahlen. Dumm, wenn es anders läuft.

Es gab feste Handelszeiten, es gab vereidigte Makler, denen Geschäfte auf eigene Rechnung verboten waren, und es gab „Pfuschmakler“. Juristen beobachteten die Börse und passten Regeln und Gesetze den Entwicklungen an.

Die Vorteile solchen Geschäfts waren erkannt: Kein Warenlager, keine Vorschusszahlungen und Transportkosten. Nur der reine Deal. Vorzüge, die heute auch die Internet-Plattformindustrie zu schätzen weiß.

Im 17. Jahrhundert wurden in Amsterdam fast nur die Aktien der Ostindien-Kompanie gehandelt. Eine Westindische Kompanie, die sich ebenfalls als Aktiengesellschaft konstituiert hatte, war bald insolvent. Gerettet wurde sie, ganz modern, mittels Aktientausch, wobei die Aktionäre fast 90 Prozent auf den alten Ausgabekurs verloren. Da auf den Karibischen Inseln keine Gewürze zu holen waren, verlegte sich die Gesellschaft fürderhin auf den Sklavenhandel.

Eindringlich warnt de la Vega vor den Tricks der Spekulanten, die mit Gerüchten und falschen Ratschlägen Kurse manipulieren, und schließt mit einem Wort des Propheten Jeremias: „Hüte sich jeder von seinem Freunde und traue sogar dem Bruder nicht.“

Joseph de la Vega: „Die Verwirrung der Verwirrungen – Vier Dialoge über die Börse in Amsterdam“, Börsenmedien, 220 Seiten, 25 Euro