30 Jahre Angela Merkel –

Geschlechtergerechtigkeit Fehlanzeige

Bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 – zufällig an meinem 16. Geburtstag – betritt Angela Merkel die bundesweite parlamentarische Bühne. Erst seit wenigen Monaten Mitglied der Ost-CDU holt sie 1990 auf Anhieb das Direktmandat in ihrem Wahlkreis. Bundeskanzler Helmut Kohl ernennt sie 1991 zur Bundesministerin für Frauen und Jugend. Von Kohl „mein Mädchen“ genannt, von konservativen Journalisten despektierlich als „das Merkel“ bezeichnet, beginnt für sie eine mehr als 30 Jahre dauernde politische Karriere im Altherrenclub CDU/CSU. Was aber hat diese durchsetzungsfähige junge Frau gegen starke konservative Männerbünde wie den „Andenpakt“ – eine mächtige Seilschaft westdeutscher männlicher und überwiegend katholischer CDU-Politiker – parteiintern und gesamtgesellschaftlich bewegt?

Der Bundesregierung der Jahre 1991 bis 1994 gehörten neben Merkel nur vier weitere Frauen an: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Irmgard Schwaetzer (FDP), Hannelore Rönsch (CDU) und Gerda Hasselfeldt (CSU), allesamt mit wenig Kompetenzen. Das ergab einen Frauenanteil von 20 Prozent. In der darauffolgenden Wahlperiode blieb es ähnlich. Nachdem sich der Frauenanteil in den beiden SPD-Grüne-Regierungen zwischen 1998 und 2005 immerhin schrittweise auf mehr als ein Drittel verbesserte, hatte wenigstens dies auch in den Regierungszeiten von Angela Merkel Bestand.

Im Bundestag beträgt der Frauenanteil in der zu Ende gehenden Wahlperiode gerade einmal 30,7 Prozent. Während es den Grünen- und LINKEN-Fraktionen gelang, im Laufe der vergangenen 20 bis 25 Jahre den Frauenanteil auf über 50 Prozent zu steigern, stagniert der Wert bei CDU und FDP bei etwa 20 Prozent. Und auch bei den Parteimitgliedern ist die Verteilung ähnlich schlecht. Die Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel hat also genauso wenig zu einer angemessenen Teilhabe von Frauen geführt wie die herausragende Stellung von Ministerinnen wie Annegret Kramp-Karrenbauer oder Ursula von der Leyen. Und alle Drei verdanken ihre Position weniger gemeinsamen Anstrengungen der Frauen in der Union, als vielmehr gönnerhafter Protektion weißer alter Männer: Helmut Kohl, Ernst Albrecht, Peter Müller.

Anders gesagt: Schon bei der so genannten deskriptiven Repräsentation („Wie viele Frauen sind im Parlament?“) hakt es gewaltig. Ein Extrembeispiel der jüngeren Vergangenheit war die Besetzung des Ministeriums von „Heimat-Horst“ Seehofer mit ausschließlich weißen, männlichen Staatssekretären und Abteilungsleitern. In fast allen Parteien wird dies allerdings inzwischen als Problem gesehen. CDU und FDP wollen dem mit Quoten begegnen, in den Parteien links der Mitte wird über Paritätsregelungen diskutiert. Welche Wirkung das jeweils entfaltet, bleibt abzuwarten.

Angela Merkel wird das nicht mehr aus hervorgehobener Position erfahren und hat sich auch nie ernsthaft für eine Quote ausgesprochen. Nicht einmal 2013, als es im Bundestag um die Quote für Frauen in Führungspositionen von Unternehmen ging und sich zumindest die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen einsetzte.

Die Quote wurde erst 2020 halbherzig und auf Druck der SPD beschlossen. Und auch als sich ihre Freundin Annegret Kramp-Karrenbauer im vergangenen Jahr für paritätische Wahllisten der CDU aussprach, blieb die Kanzlerin stumm. Die ARD-Journalistin Angela Ulrich schrieb dazu: „Zur Frauenpolitik hat Merkel jedoch von Beginn an ein ambivalentes Verhältnis. Sie ist erst gegen eine Quote. Gegen Teilzeitregelungen, die Frauen die Rückkehr in den Beruf erleichtert hätten. Gleichzeitig unterstützt sie ein Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kleinkinder zu Hause erziehen: kein Modell für Gleichberechtigung, weil es fast immer Frauen sind, die daheimbleiben. Merkel wirft ihr politisches Gewicht auch nicht dagegen in die Waagschale, dass Frauen weiterhin deutlich weniger als Männer verdienen – bei gleicher Qualifikation.“ Zufall? Ich denke, nicht.

Wie die feministische Literaturwissenschaftlerin Ines Kappert vom Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung in einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte: „Wenn Frauen in männerbündisch organisierten Organisationen aufsteigen wollen – und die CDU oder die Union zählt ja leider dazu –, dann ist eine Sache ganz, ganz wichtig: Sie dürfen keine Gleichstellungspolitik machen, sie dürfen sich nicht feministisch äußern, sie dürfen nicht die Frauenfrage zum politischen Anliegen machen.“

Was aber hat sich gleichstellungspolitisch unter Angela Merkel getan und welche Rolle hat sie dabei (nicht) gespielt?

In Merkels Zeit als Bundesministerin für Frauen und Jugend fallen tatsächlich eine Reihe kleiner und dennoch nicht unbedeutender gesetzlicher Änderungen zugunsten von Frauen. 1992 wurden Erziehungsurlaub (heute Elternzeit) und Erziehungsgeld spürbar ausgeweitet. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten und häuslicher Pflege in der gesetzlichen Rentenversicherung wurde im Zuge des Rentenreformgesetzes ausgeweitet.

Im selben Jahr wurde neben einigen guten Regelungen in den Bereichen Arbeitsschutz, Soziales und Gesundheit der Paragraph 218 auf eine neue Grundlage gestellt. Die weitgehende Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ging also weiter; ein klarer Affront gegen linke Feminist*innen aus Ost und West. Im Zuge der Wiedervereinigung war eine starke Bewegung gegen die bundesweite Einführung des Paragraphen 218 und für die Übernahme der humaneren Regelung der DDR aktiv geworden. Im Juni 1990 waren Zehntausende in Berlin und anderen ostdeutschen Städten sowie in Bonn auf der Straße, um für die ersatzlose Streichung zu demonstrieren.1 Letztlich leider erfolglos.

Als 1995 die restriktive, heute noch gültige Regelung verabschiedet wurde, nach der Schwangerschaftsabbruch immer noch im Strafgesetzbuch steht und nur unter bestimmten Bedingungen, verbunden mit Zwangsberatung straffrei bleibt, war Claudia Nolte (CDU) bereits Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Angela Merkel hatte die Vorarbeit geleistet.

Im Jahr 2010 schließlich wurde unter der Regierung Merkel – trotz heftigen Protests kompetenter Verbände – die Indikationslösung weiter verschärft. Ärzt*innen wurden verpflichtet, schwangere Frauen nach einer Diagnose medizinisch zu beraten und sie auf die Möglichkeit einer psychosozialen Beratung hinzuweisen. Anderenfalls droht eine Geldbuße. Frauen müssen zudem eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Diagnose und Abbruch einhalten, es sei denn die Schwangere ist in unmittelbarer Lebensgefahr. 

1994 trat das Zweite Gleichberechtigungsgesetz in Kraft, dass auf eine verbesserte Frauenförderung im Öffentlichen Dienst und erweiterte Mitwirkungsrechte von Betriebs- und Personalräten bei der Frauenförderung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzielt. Paragraph 3 des Grundgesetzes wurde durch den Satz „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“ ergänzt.

Entgegen dieser wohlfeilen Ankündigung werden auch in den Folgejahren die großen Baustellen auf dem Weg zu mehr Geschlechtergerechtigkeit nicht oder nur zögerlich angegangen: Gender Pay Gap, Aufwertung von beruflicher und privater Sorgearbeit, der Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt oder auch das Ehegattensplitting. Die drei Gleichstellungsberichte der Bundesregierung, die 2011, 2017 und in diesem Jahr von Kommissionen erarbeitet wurden, zeigen, wie groß die Versäumnisse auf dem Weg zu einer echten Gleichstellung der Geschlechter sind.

Im Zweiten Gleichstellungsbericht 2017 werden neben den eben genannten Problemfeldern weitere aufgeführt: die gendergerechte Gestaltung der Arbeit bei fortschreitender Digitalisierung, die der Migration von Frauen* und queeren Menschen, die Rente und einiges mehr. Allerdings bleiben die Wissenschaftler*innen auch hier weit hinter den Forderungen linker Feminist*innen zurück. Statt über eine deutliche Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich wird zum Beispiel nur vage über Arbeitszeitmodelle, die ein ausgewogenes Erwerb-Sorge-Modell ermöglichen, gesprochen. Und, wie die Journalistin Mithu Sanyal 2018 in einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung schrieb, ist es ein Problem, dass „unter Gleichstellung nahezu nur Frauenförderung verstanden wird. Damit werden jedoch wichtige Problemfelder und Handlungsoptionen ausgeblendet, denn für Gleichberechtigung ist es wichtig, dass Politik auch Männer und weitere Geschlechter in den Blick nimmt, und zwar nicht nur als Profiteure der bestehenden Geschlechterordnung, sondern auch als deren Leidtragende. … Mit anderen Worten: Wenn mehr Frauen in die Politik gehen sollen, müssen gleichzeitig die Hürden beseitigt werden, die es für Männer bedeutet, sich um die Kinder zu kümmern. Dazu bedarf es neben einer Frauen- und Genderpolitik, auch einer eigenständigen emanzipatorischen Männerpolitik.“2

Politische Initiativen, die auf den Erkenntnissen in den Gleichstellungsberichten beruhen, sind seitens der Regierung unter Merkel nicht wirklich erkennbar. Und auch im Bereich der Schwangerschaftsabbrüche blinkt die Merkel-Regierung hart konservativ: kein Abweichen von Paragraph 218 und 219, kein Einsatz für bessere Bedingungen bei der Ausbildung und der Schwangerschaftskonfliktberatung.3 Im Bereich des Gewaltschutzes werden landauf, landab Aktionspläne zur Umsetzung der Istanbul-Konvention entwickelt, auch dies mitnichten ein Verdienst der CDU. Im Gegenteil blockiert die Bundesregierung immer noch den Artikel 59, der eine klarere aufenthaltsrechtliche Absicherung von Frauen und queeren Menschen einfordert. Queerpolitik blieb ein blinder Fleck in Merkels Regierungszeit, mal abgesehen von der überfälligen Anerkennung der Ehe für Alle und der 3. Geschlechtsoption, beides nur umgesetzt nach jahrelangem intensiven Druck von Aktivist*innen. Bei einigen Fragen, wie den B lutspenden von schwulen Männern und trans*Personen oder auch dem Adoptionsrecht gab es leichte Bewegung, bei der überfälligen Ersetzung des so genannten Transsexuellengesetzes durch ein Selbstbestimmungsgesetz blockieren Merkel und die CDU/CSU immer noch. Alles in Allem: auch gleichstellungspolitisch gilt es, für linke Mehrheiten jenseits der bürgerlichen Parteien zu kämpfen. Nur so können wir zu den dringenden Fortschritten kommen.

Anmerkungen:

Maja Tegeler ist Sprecherin für Gleichstellung und Queerpolitik der Linken in Bremen und Mitglied im Parteivorstand der Linken mit den Schwerpunkten Gleichstellung, Queerpolitik und Care-Arbeit.

1 Kanzlerin als späte Feministin? – Es war Angela Merkel, die die Quote verhindert hat (https://www.deutschlandfunk.de/kanzlerin-als-spaete-feministin-es-war-angela-merkel-die.862.de.html?dram:article_id=437419).

2 Gisela Notz: Geschichte des Widerstands gegen den Strafrechtsparagreafen 218. Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung (sexuelle-selbstbestimmung.de).

3 Die erste Kanzlerin – Ist nun Gleichberechtigung? (https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/frauenwahlrecht/279361/ist-nun-gleichberechtigung).

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