Atompolitik unter Angela Merkel:

Atomkraft? Jein!

Als Angela Merkel 2005 ins Kanzleramt einzieht, ist die promovierte Physikerin bekennende Atomkraftbefürworterin und fest entschlossen, die von Rot-Grün 2000 beschlossene Einschränkung der AKW-Laufzeiten über kurz oder lang zu kippen. Doch in der Großen Koalition mit der SPD ist ein Zurück zur Atomkraft undenkbar. Merkels Chance auf eine andere Atompolitik kommt erst mit der zweiten Amtszeit.

Wahljahr 2009 –Merkels Atombündnis

Es wäre wirklich „jammerschade“, wenn Deutschland aus der Atomkraft aussteigen würde, moniert die Kanzlerin in ihrer Rede beim „Tag der Deutschen Industrie“ im Sommer des Wahljahres 2009. „Wenn wir den Ausstieg aus der Kernenergie wieder rückgängig machen und nicht zulassen, dass wir bei jedem Kohlekraftwerk unsinnige Konflikte bekommen, und gleichzeitig in Energieeffizienz und in erneuerbare Energien investieren, dann haben wir auch als Energiestandort eine Chance“, sagt sie – das, was die anwesenden Vertreter:innen der Industrie hören wollen.

Im Wahlprogramm, das wenige Tage später erscheint, erklären CDU und CSU schließlich verhalten, dass sie Laufzeitverlängerungen für die „sicheren deutschen Kraftwerke“ anstreben. Den Bau neuer Kraftwerke schließen sie aus – wohlwissend, dass dies zu teuer und in Deutschland ohnehin nicht durchsetzbar wäre. Ein pro-nuklearer Bündnispartner steht mit der FDP ebenfalls bereit.

Wenn Angela Merkel in jenen Jahren von Atomkraft als „Brückentechnologie“ spricht, ist damit keineswegs der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen inbegriffen. Kohle und Erdgas haben lange einen festen Platz im Merkelschen Energiemix. Sie strebt keinen Systemwechsel im Sinne einer dezentralen, demokratisierten Stromerzeugung auf Basis von regenerativen Energiequellen an. Merkels Aussagen zum Klimaschutz zielen vor allem auf fragwürdige technische Lösungen ab. Sie träumt von neuen, „sauberen“ und effizienteren Kohle- und Gaskraftwerken, von Emissionsfiltern und CO2-Speichern – nicht von einer nachhaltigen, zukunfts- und vor allem generationengerechten Umweltpolitik. Der Ausbau von Wind- und Solarkraft ist für Merkels CDU nur ein kleines Stück vom Kuchen. Merkels Energiepolitik ist zu keinem Zeitpunkt transformativ, sondern stets darauf ausgerichtet, das bestehende fossil-atomare System so lange wie möglich zu erhalten.

Denn auch damals ist klar, dass die nicht bedarfsgerecht steuerbaren Atomkraftwerke einem zügigen und konsequenten Ausbau von Windkraft und Solarstrom im Weg stehen und eine echte Energiewende blockieren. Dass die 2009 von Merkels Union forcierte atompolitische Rolle rückwärts die aufstrebende Windenergie- und Solarbranche hart treffen würde, nimmt die Kanzlerin zugunsten der Atomindustrie in Kauf.

Anti-Atom-Bewegung wiederbelebt

Es lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass Union und FDP nach der Wahl im Herbst 2009 nicht wegen, sondern trotz ihrer atompolitischen Pläne die Mehrheit im Bundestag bilden. In Umfragen lehnt die Bevölkerung die Laufzeitverlängerungen für die deutschen Atommeiler mehrheitlich ab. Auch die Angänger:innen der Union sprechen sich dagegen aus. Aber nicht nur die Umfragen geben ein deutliches Stimmungsbild wieder: Nach dem Wahlsieg der Atom-Koalition wächst der Widerstand in Form von Groß-Demonstrationen und Menschenketten auch auf der Straße.

Die Kanzlerin hat die atomkritische Stimmung in der Bevölkerung und den gesellschaftlichen Konflikt, der durch die rot-grüne Atompolitik weitgehend befriedet war, gewaltig unterschätzt. Entsprechend beeindruckt zeigt sie sich, als plötzlich das ganze Land anti-atombewegt zu sein scheint. Mit Blick auf die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 zögert Merkel zunächst mit der Umsetzung ihres Atomprogramms. Erst rund ein Jahr nach der Wahl, im Oktober 2010, löst die schwarz-gelbe Koalition ihr Versprechen an die Atomkonzerne schließlich ein und verlängert die Laufzeiten der 17 deutschen Atomkraftwerke um bis zu 15 Jahre. Die Meiler sollen somit aller sicherheitstechnischen Risiken zum Trotz insgesamt für eine Laufzeit zwischen 40 und 50 Jahren am Netz bleiben – ein Goldregen für Vattenfall, Eon, RWE und EnBW.

Von der Atomkanzlerin zur Ausstiegskanzlerin

Als wenige Monate später, am 11. März 2011 ein schweres Seebeben die Ostküste Japans trifft und eine riesige Flutwelle auslöst, hält die Welt den Atem an. Die Naturkatastrophe kostet viele Menschen das Leben, und sie löst ein Atomunglück aus, das bis heute andauert: Im AKW Fukushima Daiichi kommt es in drei Reaktoren zur Kernschmelze. Der Wind verhindert, dass Japan bis tief ins Landesinnere schwer verseucht wird; die radioaktive Wolke treibt auf den Pazifik hinaus.

Das Reaktorunglück von Fukushima wird für Angela Merkel zur Zäsur. Wenn in einem Hightech-Land wie Japan mit höchsten Sicherheitsstandards ein solcher Unfall passiere, könne „auch Deutschland nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, erklärt die Kanzlerin und kündigt ein Moratorium an: Alle 17 Atomkraftwerke sollen – zumindest auf dem Papier – sicherheitstechnisch überprüft werden, die acht ältesten werden sofort vom Netz genommen.

Deutschlandweit gehen Hunderttausende auf die Straßen und fordern den sofortigen Atomausstieg. Ende März verliert die CDU die Landtagswahl in Baden-Württemberg – fortan regieren die Grünen im Ländle. Die anhaltenden Proteste und das Wahlergebnis setzen die Kanzlerin unter Druck.

Im Juni beschließt der Bundestag acht Meiler sofort stillzulegen, die restlichen neun sollen mit festen Abschaltterminen bis Ende 2022 vom Netz gehen. Das ist zwar alles andere als ein zügiger Atomausstieg, für Union und FDP ist es jedoch eine 180-Grad-Drehung.

Angela Merkel hält sich in den folgenden Jahren weitgehend aus atompolitischen Fragen heraus und rettet sich und ihre Partei mit Kommissionen über schwierige – und nach wie vor ungelöste – Fragen wie dem Atommüll-Problem hinweg. Der Atom-Konflikt hat Spuren hinterlassen.

Energiewende abgebremst

Zehn Jahre nach Fukushima hat der Ausbau der Erneuerbaren den Wegfall der Atomkraft überkompensiert. Der Anteil regenerativer Energiequellen im deutschen Strommix liegt aktuell bei etwa 42 Prozent – 2010 waren es 17 Prozent. Der Zuwachs bei den Erneuerbaren ist allerdings nicht der deutschen Energiepolitik der vergangenen 16 Jahre zu verdanken. Denn die Regierung Merkel hat den Ausbau von Windkraft und Solarenergie nach Kräften zu blockieren versucht. Es fehlen die Konzepte und der politische Wille zu einem echten Ausstieg aus dem fossil-atomaren Energiesystem.

Als sich 2018 etwa die Gelegenheit bietet, im Rahmen einer atomrechtlichen Änderung, die Übertragung von Reststrommengen bereits abgeschalteter AKW auf die drei Atomkraftwerke im windreichen Norden zu untersagen, schlägt die Bundesregierung diese Option aus. Stattdessen löst sie die Konkurrenzsituation zwischen Atomkraft und Windenergie im „verstopften“ Stromnetz, indem sie Windanlagen teuer abregelt und deren Ausbau stoppt.

Zurück zum atomaren Markenkern?

„Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert“, erklärt Angela Merkel vor dem Parlament und bleibt bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft dabei.

Merkel hat jedoch nicht nur ihre eigene Haltung geändert, sondern auch den Markenkern der CDU verschoben. Die ist nun offiziell keine Pro-Atom-Partei mehr – auch wenn das bei weitem nicht jeder und jedem in der Union gefällt. Doch die Parteimitglieder halten sich seit Merkels Kehrtwende insbesondere auf Bundesebene weitgehend mit Atomkraft bejahenden Aussagen zurück. Ob das in der Ära nach Angela Merkel auch so bleibt, ist jedoch fraglich.

Angela Wolff lebt in Flensburg und arbeitet als Referentin für Klima und Atom bei der bundesweiten Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt.