„Alternativlos“ statt „Basta“

Ein Rückblick auf die Ära Merkel

Wer die Bundeskanzlerin nur vom Fernsehen kannte, wird erstaunt gewesen sein, sie in weniger offiziellen Situationen zu erleben: selbstsicher, reaktionsschnell, sprachlich präzise, mit einem Talent für Ironie. Keine Spur von „Mutti“, schon gar nicht von „Kohls Mädchen“.

Die Pose, die sie vor den Kameras einnahm, könnte man ihr übelnehmen, diese immer gleiche Performance der gütig-geduldigen Kindergärtnerin, in der sich eine Geringschätzung der Auffassungsgabe der Bevölkerung ausdrückte und die das Publikum gleichzeitig über die intellektuelle Fähigkeit seiner Kanzlerin täuschte.

Angela Merkel ist verdammt schlau. Und sie wusste, was die Stunde geschlagen hat und schritt zur Tat, als es Not tat, Helmut Kohl abzusägen.

Aufbruch

Die junge Ostdeutsche, überzeugt von der Vergeblichkeit sozialistischer Ideologie und Planwirtschaft, verstand die Marktwirtschaft, die seit den 80er Jahren neoliberal ausgerichtet ist, als einzig mögliche Form gesellschaftlicher Steuerung. Hoffnungen auf einen demokratischen, nicht-kapitalistischen Weg der DDR teilte sie nicht.

Als sie sich nach dem Fall der Mauer in der DDR im Demokratischen Aufbruch, einer Initiative mit vielen kirchlichen Vertretern, engagierte, wollte sie mit der CDU noch „nichts zu tun haben“. Aber für die letzte Wahl zur Volkskammer der DDR im März 1990 ging der Demokratische Aufbruch ein Bündnis mit der Ost-CDU ein und fusionierte ein halbes Jahr später mit der westdeutschen CDU.

Helmut Kohl brauchte für sein Kabinett eine Frau und eine Ostdeutsche, erkannte Merkels Potential und machte die 36-Jährige 1991 zur Bundeministerin für Frauen und Jugend. Als Quereinsteigerin hatte sie es gegen die etablierten Parteinetzwerke nicht leicht. Kohl, der nach zwölf Jahren im Amt den Zenit als Regierungschef schon überschritten zu haben schien, konnte mit dem Nimbus des Kanzlers der Einheit die Bundestagswahl 1994 gewinnen und gab nun das bedeutendere Umweltressort an Merkel.

Gegen parteiinternen Rat kandidierte Kohl 1998 ein sechstes Mal und erlebte ein Debakel. Die Konservativen hatten den gesellschaftlichen Strukturwandel verschlafen. Ihre traditionellen Werte von Ordnung, Heimat, Kirche und Familie, auf denen ihre Stärke seit den 50er Jahren gründete, waren im Kurs gefallen. Nun saßen Achtundsechziger mit auf der Regierungsbank.

Im selben Jahr veröffentlichte der britische Soziologe Anthony Giddens seinen „Dritten Weg“, in dem er den Konservativismus entwertet sah und eine Riesenchance für die Sozialdemokratie erkannte – nicht zuletzt, weil die Drohkulisse des Warschauer Pakts abgeräumt war. Mit ihr war zugleich der Gegenentwurf eines sozial abgesicherten Lebens aller Schichten verschwunden, was den einstmaligen Arbeiterparteien des Westens ermöglichte, sich als kompetente und sogar bessere Wirtschaftspolitiker des Kapitalismus in Szene zu setzen.

Während sich den Sozis historisch Tür und Tor zu öffnen schienen, fiel Merkel, inzwischen Generalsekretärin ihrer Partei, die Spendenaffäre vor die Füße, in die CDU-Granden reihenweise verwickelt waren, unter ihnen auch Wolfgang Schäuble, der Kohl im Amt hätte nachfolgen sollen. Die Personaldecke der Christdemokraten wurde dünn.

Gestützt auf Giddens ließen Bundeskanzler Gerhard Schröder und der britische Premier Tony Blair 1999 ein Strategiepapier formulieren, das SPD und Labour auf die Gewinnung der sogenannten Neuen Mitte der Gesellschaft ausrichtete. Darin ist viel von sozialer Gerechtigkeit die Rede, die durch Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, Reform der Sozialsysteme und schlanke Verwaltung zu erreichen sei.

Wohl auch eingedenk des Zusammenbruchs der italienischen Schwesterpartei Democrazia Cristiana 1993 griff Merkel zur spitzen Feder und veröffentlichte 1999, zwei Tage vor Heiligabend, einen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem sie ihre Partei aufforderte, sich neu aufzustellen und von Kohl zu lösen.

Regiestuhl

Nach dem Rücktritt Schäubles konnten die starken Männer der CDU Merkels Wahl zur Parteivorsitzenden im April 2000 nicht verhindern. Auf die Kanzlerkandidatur 2002 verzichtete sie zugunsten des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber und bedang sich den CDU/CSU-Fraktionsvorsitz aus, den Friedrich Merz nach Stoibers Niederlage für sie räumen musste.

Als aber Schröder 2005 seine Macht durch eine vorgezogene Neuwahl zu konsolidieren suchte, trat sie an und siegte mit einem Prozentpunkt Vorsprung, worauf der Unterlegene am Wahlabend in der Fernseh-Elefantenrunde in ganz dicker Hose auflief. Seine impertinenten Anwürfe schüchterten sie nicht ein. Nüchtern und sachlich beschied sie den aufgewühlten Mann.

Was Schröder bei jenem Auftritt noch ausgeschlossen hatte, seine SPD ließ sich ein auf eine Große Koalition unter einer Kanzlerin Angela Merkel.

Ihren Wahlsieg verdankte die Union der Enttäuschung vieler Menschen über die Hartz-Gesetze, die am 1. Januar 2005 in Kraft getreten waren. Mit Merkel hatten die Wählenden aber aufs falsche Pferd gesetzt. Bereits 1996, als in ihrem Wahlkreis die Stralsunder Volkswerft insolvent ging, hatte die Umweltministerin die Gewerkschaft angegriffen und von den Beschäftigten Verzicht auf Weihnachtsgeld und Lohnfortzahlung und eine Lockerung des Kündigungsschutzes gefordert. Als neue Parteivorsitzende hatte sie Ende 2000 den Begriff einer „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“ geprägt, der im folgenden Jahr in die CDU-Programmatik übernommen wurde, aber mit hehren, unscharfen Begriffen an die Vorstellungen von Schröder und Blair anknüpfte.

„Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen!“, forderte sie nun am 30. November 2005 in ihrer Regierungserklärung: „Schon die vergangene Regierung hatte Schritte eingeleitet, wodurch die Möglichkeiten, die unser Land hat, besser genutzt werden sollten… Ich möchte Bundeskanzler Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat. Damit hat er sich um unser Land verdient gemacht.“

Merkel, DDR-sozialisiert und jünger als die einflussreichen Unionspolitiker der Kohl-Ära, hatte einen objektiveren Blick auf die deutsche Gesellschaft und räumte den wertkonservativen Ideologie-Ballast nach und nach ab, was ihr als Sozialdemokratisierung der CDU ausgelegt wurde. Aber die Neuausrichtung des politischen Diskurses in Deutschland ließe sich vermutlich eher als Folge einer Torysierung der SPD verstehen.

Was immer auch SPD und CDU verlauten ließen, Empathie und soziales Engagement soll den Politiker:innen nicht pauschal abgesprochen werden. In ihrer Mehrheit sehen sie aber die bestehenden Verhältnisse – Privateigentum an Produktionsmitteln und Arbeit in Lohnabhängigkeit – als vollendete humanistische Emanzipation und quasi finale Stufe gesellschaftlicher Entwicklung an, so dass sich Kapitalverwertung und Unternehmens-profitabilität zur Voraussetzung des Allgemeinwohls verklären.

Den nötigen Sachverstand zur Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft wusste Merkel auf Seiten der Unternehmer, deren Nähe und Rat sie suchte. Kompetente Fachkräfte in den eigenen Reihen hatten Behörden und Ministerien längst abgebaut. Kaum jemand begleitete die Kanzlerin so oft auf ihren Reisen wie Siemens-Chef Joe Kaeser, wobei sich Gelegenheit zu langen Gesprächen in vertraulicher Atmosphäre über den Wolken gefunden haben wird. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann gar durfte seinen 60. Geburtstag im Kanzleramt feiern.

Demoskopen und Medien hatten der Union 2005 einen hohen Sieg vorausgesagt und Schröder als Kanzler schon verabschiedet. Der hauchdünne Vorsprung dann war ein Schock, und Merkel verstand, dass sie den sozialen Ausgleich nicht gänzlich vernachlässigen durfte. In der folgenden Legislaturperiode setzte sie den Mindestlohn gegen die konsternierte FDP und unter Bruch des Koalitionsvertrages durch. 2013, bei der nächsten Wahl, flogen die Liberalen aus dem Bundestag.

Boden des Grundgesetzes

Merkel bekannte sich zur parlamentarischen Demokratie, allerdings nicht uneingeschränkt. Sofern das Parlament die von ihr als unumgänglich angesehene Politik in Krisenzeiten gefährdete, würde man „Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie marktkonform ist“, erklärte sie auf einer Pressekonferenz im September 2011. Zwar griffen Kritiker:innen ihr Diktum der marktkonformen Demokratie immer wieder auf, doch ein Skandal blieb aus. Dass es sich als Verfassungsbruch werten ließe, wenn die Regierungschefin eines demokratischen Landes die Marktwirtschaft, also die kapitalistische Ordnung, über den Willen der gewählten Volksvertreter stellte, wurde übersehen.

Und es gelang ihr tatsächlich, sich mit ihren autoritären Vorstellungen in der Eurozone durchzusetzen, vor allem seit 2010 gegenüber dem zahlungsunfähigen Griechenland. Die Zeche für die verfehlte Regierungspolitik sollte das griechische Volk zahlen. Mildere Vorschläge des Internationalen Währungsfonds (IWF) lehnte Deutschland ab. Den Griechinnen und Griechen wurden Renten- und Sozialleistungen gekürzt, die Mehrwertsteuer erhöht, Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut, Rechte und Vergütung der Lohnabhängigen drastisch beschnitten, Staatsbetriebe privatisiert. Die griechische Regierung beugte sich dem Diktat von Europäischer Kommission und Zentralbank und dem IWF, ohne dass diese Troika ein demokratisches Mandat gehabt hätte. Ähnliche Maßnahmen wurden gegenüber Irland und Portugal erzwungen und damit zugleich ein Kostensenkungsdruck in ganz Europa erzeugt.

Wiederum auf Drängen Merkels und ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble unterwarfen sich die meisten der EU- und der Euro-Staaten dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Fiskalpakt. Beide Regelwerke traten 2013 in Kraft und waren als völkerrechtliche Verträge geschlossen worden, so dass EU-Recht und EU-Parlament umgangen wurden.

Austerität

Die Verträge schränken die Souveränität der Einzelstaaten ein und erzwingen ab einer Verschuldung von 60 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt Sparmaßnahmen und den Abbau des Sozialstaats. Der deutschen Regierung war es gelungen, fast die gesamte EU zur Abkehr von keynesianischer Wirtschaftspolitik, die Krisen mit zusätzlichen Staatsausgaben kontert, und stattdessen auf Austerität zu verpflichten. Der Pakt enthält keine Kündigungsklausel.

Doch wie im Traum des Pharaos wendete sich das Blatt nach sieben Jahren. Ein Virus lähmte die Weltwirtschaft, und jetzt waren es die Unternehmen, die nach Keynes riefen. Im März 2020 setzte die EU die Defizitregeln aus. „Der Schritt bedeutet, dass nationale Regierungen so viel Liquidität wie nötig in die Wirtschaft pumpen können“, erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ein halbes Jahr später stimmte Deutschland sogar einem EU-Rettungspaket in Höhe von 750 Milliarden Euro zu, wofür die Mitgliedstaaten gemeinschaftlich haften. Eine solche Beteiligung Deutschlands hatte Merkel während der Eurokrise strikt verweigert.

Anders als Helmut Kohl ließ Angela Merkel keine Idee für ein europäisches Projekt erkennen. Emmanuel Macrons Appelle für eine gemeinsame Initiative für Europa ließ die Kanzlerin unbeantwortet. Wie schon während der Euro-Krise könnte man den Eindruck gewinnen, die deutsche Regierungschefin orientiere sich nur an den Interessen deutscher Banken und Industrieunternehmen. Doch die Frau blickt weiter. Gemäß ihrem Credo, Land und Leuten gehe es gut, wenn es der Wirtschaft gut geht, und das bedeutet in der globalisierten Welt, dass Waren und Dienstleistungen konkurrenzfähig herzustellen sind, trimmte sie Deutschland und Europa auf Effizienz, Sparsamkeit und niedrige Lohnkosten. Ihre Überzeugungen fasste sie in ihrer Rede auf dem Weltwirtschaftsforum 2013 in Davos nachvollziehbar zusammen.1

International genießt Merkel enormes Renommee. Dass ihr die Achtung oft als Vergleich mit Margaret Thatcher entgegengebracht wurde, ist in Deutschland weniger bekannt. Wie die britische Premierministerin erwies sich Merkel, vor allem in der Frage um Eurobonds, als durchsetzungsstark, wann immer es ihr um „my money“ ging. Nachdrücklich in Erinnerung sind Politikern und Managern die Zahlen 7, 25 und 50 geblieben, nachdem Merkel in Davos darauf hingewiesen hatte, dass auf Europa sieben Prozent der Weltbevölkerung, 25 Prozent des Weltinlandsprodukts und 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt entfielen.

Zuschüsse an soziale Sicherungssysteme zu begrenzen und die Arbeitsmarktkosten zu reduzieren, waren von Anfang an erklärte Ziele Merkels. Ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Leitlinien, die gegenüber Griechenland beim heimischen Publikum noch auf breite Zustimmung stießen, galten auch für Deutschland, wo sie aber deutlich weniger medienwirksam umgesetzt wurden. Kaum im Amt, ließ Merkel die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöhen. Wollte man die Bilanz ihrer Kanzlerschaft in einem Satz zusammenfassen, so lautete der: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich weiter geöffnet.

Die Zahl der Lebensmittel-Tafeln hat sich zwischen 2008 und 2019 verdoppelt, die der Wohnungslosen verdreifacht. Der Niedriglohnsektor ist weiter gewachsen. Maßnahmen gegen die Explosion der Immobilienpreise blieben weitgehend wirkungslos. Privatisierungen öffentlichen Eigentums im Verkehrs- und Gesundheits- und Pflegebereich sowie von Immobilien wurden fortgesetzt zugunsten von Investment- und Beteiligungsfirmen, erzwungen auch durch Ausgabenkürzungen des Staates und die Null-Zins-Politik.

Eine bestürzende Bilanz der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik während der Kanzlerschaft Angela Merkels präsentiert Werner Rügemer auf den Nachdenkseiten.2

Eines wollte die gelernte Physikerin nicht wahrhaben: dass die deutschen Exportüberschüsse Defizite in den Handelsbilanzen anderer Länder bedingen, nicht zuletzt in den ärmeren EU-Staaten, an deren Misere Deutschland eine Mitschuld trägt. Denen empfahl sie bloß, dem deutschen Beispiel doch zu folgen. Am Ende lief ihr Neoliberalismus auf Nationalismus hinaus, und vielleicht liegt darin ein Grund, weshalb sie für Europa keine politischen Ziele hatte entwickeln können.

Ein krasserer Gegensatz als der zwischen Gerhard Schröder, der sich als frischgebackener Kanzler mit Brioni- und Cohiba-Accessoires in Szene setzte und seine Entscheidungen röhrend und mit Basta quittierte, und Angela Merkel, die stets bescheiden und glanzlos auftrat, ihre Politik aber ebenso schlicht als alternativlos darstellte, lässt sich kaum denken. Und doch wirkten beide in geradezu nahtloser Kontinuität.

Das größte Kunststück Angela Merkels besteht vermutlich darin, dass sie ihre eisenharte Doktrin kaum sichtbar werden ließ. In der Rolle der besorgten Landesmutter gewann sie Vertrauen, währenddessen ihre Politik die soziale Spaltung verschärfte. Und das sollte man ihr übelnehmen.

Neben CDU und SPD hatten auch noch die Grünen Chancen, den Posten der deutschen Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers zu besetzen. Alle drei Parteien haben sich für eine Kandidatin oder einen Kandidaten des jeweiligen gemäßigten Lagers entschieden und die Ankündigung eines deutlichen politischen Gegenentwurfs vermieden. Es steht zu befürchten, dass es, egal in welcher Koalition sich eine neue Regierung zusammenfinden wird, alternativlos weitergeht.

André Geicke, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und war journalistischer Mitarbeiter im Soz-Magazin und im Spiegel.

Anmerkungen:

1 https://archiv.bundesregierung.de/archiv-de/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-beim-jahrestreffen-2013-des-world-economic-forum-336072

2 https://www.nachdenkseiten.de/?p=74156https://www.nachdenkseiten.de/?p=74289