Vom Kriege

Frieden schaffen, womit?

Das Sterben muss aufhören. Mehr Waffen bedeuten mehr Tote, lautet eine These. Und dennoch hat die Regierung Panzer geschickt, um „die brutalen Invasoren zurückzuschlagen“, wie sie am 22. September in London erklärte. Es war das Jahr 1941.

Den ersten ausgelieferten Panzer taufte die Gattin des sowjetischen Botschafters auf den Namen Stalin. Die weiteren blieben namenlos. Insgesamt lieferten Briten und Kanadier während des Zweiten Weltkrieges 5000, die USA 7000 Panzer an die Sowjetunion – und Lkw, Flugzeuge, Lokomotiven, Frachtschiffe, Reifen, Schienen, Telefone, Verbandskästen.

Hätte die Sowjetunion mit weniger Toten bezahlt, wenn sie sich dem deutschen Angriff im Juni 1941 ergeben hätte? Wahrscheinlich ja, doch wie die Bilanz ausgefallen wäre, lässt sich nicht sagen angesichts des Ziels der deutschen Führung, weite Landstriche Osteuropas zu entvölkern, durch Massentötungen und Verhungernlassen.

Und wenn Großbritannien schon ein Jahr zuvor, im Sommer 1940 beim Angriff der deutschen Luftwaffe, die Waffen gestreckt hätte? Weniger Tote sicherlich. Und ein SS-Frieden in halb Europa mit Mussolini, Franco und Salazar als gute Nachbarn?

Bitte kein Missverständnis: Die deutschen Angriffskriege sollen hier nicht als Analogie zu Putins Krieg dienen. Es geht darum, die These, „Keine Waffenlieferungen würden Schlimmeres verhindern“, auf ihre generelle Gültigkeit zu befragen.

Außer Plan

„Wer sagt eigentlich“, sinnierte im Juni 2022 Dimitrij Medwedew, ehemaliger Präsident Russlands und heute Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, dass „die Ukraine in zwei Jahren noch existiert?“ Da lief der russische Überfall auf das Nachbarland schon nicht mehr nach Plan, doch Putins Gefolgsmann unterstrich noch einmal das unveränderte Kriegsziel: die Auslöschung der Ukraine.

Es geht in diesem Krieg um nichts weniger als um die Zerstörung der ukrainischen Nation und der ukrainischen Kultur, und so beten es die staatlichen Medien dem russischen Publikum vor. Im russischsprachigen Auslandssender RT kündete dessen Starmoderator: „Dieses Land darf nicht mehr existieren, wir werden alles tun, damit die Ukraine nicht mehr existiert.“

Was ist zu tun, wenn eine fremde Armee, die nicht als Befreierin kommt, das Land überfällt? Zu den Waffen greifen und kämpfen oder sich ergeben und passiven Widerstand üben? Eine schwierige Entscheidung. Die eine wie die andere Alternative kann teuer zu stehen kommen. Welchen Preis ist eine Gesellschaft bereit zu zahlen?

Wladimir Putin nannte als Ziel seiner “militärischen Spezialoperation“, die Ukraine “zu demilitarisieren und zu denazifizieren“ und „Verbrecher vor Gericht zu stellen“.

Wie zuvor in der Sowjetunion, so ist es in Russland Gepflogenheit, Gegner und vermeintliche Gegner des Regimes des Nazismus zu zeihen. Der Zweite Weltkrieg, der Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht, der Geist des „Großen Vaterländischen Krieges“ diente den Herren im Kreml bis heute als Legitimation für Verfolgung und militärische Unterdrückung.

Traditionen

Nach dem stalinistischen Terror in den 1930er Jahren, dem aus beinahe jeder Familie in der UdSSR Angehörige zum Opfer gefallen waren, wirkte der Ruf zur Verteidigung von „Mutter Heimat“ gegen die deutschen Invasoren einigend und ließ Stalin mit dem Sieg 1945 schließlich als Retter des Landes rehabilitiert dastehen. Dabei wurde der Kampf gegen die Wehrmacht zum Kampf gegen den Faschismus stilisiert, mit dem Stalin sechs Jahre zuvor noch einen Pakt zur gemeinsamen Eroberung und Aufteilung Polens geschlossen hatte.

Bis heute dient ein propagierter Antifaschismus als Kitt, mit dem die russische Führung die Bevölkerung einzubinden sucht. Michael Thurmann, Buchautor und Korrespondent der Zeit, beschreibt die perfide Implikation von Putins Worten: „Seine Rede von Nazis und Verbrechern nahm dem ukrainischen Volk das Antlitz, er entmenschlichte den Gegner. Damit schien für die Soldaten praktisch alles erlaubt zu sein, um diese endzeitliche Bedrohung zu bekämpfen.“

Welche Drohung Putin ausspricht, wenn er angebliche Verbrecher vor Gericht stellen will, lässt sich ahnen beim Gedanken an die Willkür der russischen Justiz und des russischen Strafvollzugs, wobei in einer besiegten Ukraine gewiss noch ruchloser verfahren würde. Im Radiosender Komsomolskaja Prawda forderte der Moderator, ukrainischen Lehrern, die nicht lehren würden, was die Besatzer verlangten, den „guten alten Gulag“ zu geben.

In der Tradition mancher kommunistischer Staats- und Parteivorsitzender scheint sich Putin als Universalgelehrter zu verstehen, der selbstverständlich auch die Historie gültig zu interpretieren weiß. Im Sommer 2021 veröffentlichte er einen Essay, in dem er die Existenz der Ukraine als unabhängige Nation bestritt. Russen, Ukrainer und Belarussen gehörten einer „dreieinigen russischen Nation“ an, die auf das mittelalterliche Kiewer Reich zurückgehe. Damit folgte er Peter dem Großen und dessen Erzbischof, der Anfang des 18. Jahrhunderts den imperialen Anspruch auf die Formel vom „dreieinigen Volk der Großrussen, Kleinrussen und Belarussen“ brachte, mit den Ukrainern als Kleinrussen. Und nur konsequent verglich sich Putin im Jahr darauf mit Zar Peter I., und dessen Großen Nordischen Krieg (1700–1721) mit seiner Spezialoperation in der Ukraine; auch der Zar habe nicht weggenommen, „er hat nur zurückgeholt“. Den Essay von 2021 machte de r russische Verteidigungsminister sogleich zur Pflichtlektüre in der Armeeausbildung.

Disziplinierungen

Hätte denn eine Verweigerung von Waffenlieferungen an die Ukraine und deren so erzwungene Kapitulation ein Ende des Sterbens, weniger Tote bedeutet? – Weniger Tote wahrscheinlich ja, aber ein Ende des Sterbens? Wie sähen die Konsequenzen aus? Was ist für eine besiegte Ukraine zu erwarten?

Mit einem Waffenstillstand ist es nicht getan, Moskau will eine russische Ukraine, ein Kleinrussland mit russischer Kultur. Dazu müssten die Besatzer den Menschen die Aufgabe ihrer Überzeugungen abnötigen. Folter, Verschleppungen und Kinderdiebstahl haben russische Truppen schon in den von ihnen besetzten Gebieten angewandt.

Ein bekannter Politikberater und Unterstützer Putins, Timofej Sergejzew, hat im April 2022 dargelegt, womit zu rechnen ist. Ukrainer und Ukrainerinnen bezeichnete er als „passive Nazis. (…) Ein erheblicher Teil der Massen ist schuldig“. Sergejzew forderte die „Umerziehung“ der Menschen, eine „strenge Zensur“ und eine „ideologische Unterdrückung nationalsozialistischer Einstellungen“, worunter alle westlichen Orientierungen zu verstehen sind, die nicht nur auf „politischem Gebiet, sondern zwangsläufig auch auf kulturellem und pädagogischem Gebiet“ enden müssten. Eine „Entnazifizierung“ sei nur unter vollständiger Kontrolle des Siegers möglich und dauere „mindestens eine Generation“.

Der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz begriff den Krieg als einen „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“ Sofern der Gegner nach einem Waffenstillstand zu solcher Erfüllung nicht bereit ist, müssen andere Saiten aufgezogen werden. Die von Russland definierten Kriegsziele erfordern eine dauerhafte Repression und schließen per se einen echten Frieden aus, den es ohne Achtung der Menschenrechte nicht geben kann, wie schon der tschechslowakische  Regimekritiker und spätere Staatspräsident Václav Havel und seine Mitstreiter 1985 im „Prager Appell“ klarstellten.

Das Regime in einer teilweise oder vollständig besetzten Ukraine würde nach einem russischen Sieg mit Sicherheit brutal sein. Zur Repression der Bevölkerung wären Besatzungstruppen samt Geheimdienstlern und Polizeikräften in großer Zahl nötig. Für wie lang? Für die Dauer einer Generation? Zu welchen Kosten? Und was wird der Wiederaufbau der zerstörten Städte kosten? Wird Putin das alles bezahlen wollen? Würden Russlands Kräfte dafür überhaupt reichen?

Einfacher und wahrscheinlicher wäre es, auf Kollaboration und Korruption zu setzen, wobei Tschetschenien als Blaupause dienen würde: einen Kerl nach dem Vorbild Ramsan Kadyrows an die Spitze der künftigen kleinrussischen Teilrepublik zu setzen, einen Verbrecher, der von Moskaus Gnaden volle Handlungsfreiheit genießt, solange er jeglichen Aufruhr erstickt.

Der Ukraine keine Waffen zu schicken, würde Putin in die Lage versetzen, ein weiteres Terror-Regime zu errichten: weniger Tote wohl, ein Ende des Sterbens mit Sicherheit nicht.

Irrationalitäten

Für den Überfall und die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg hat Deutschland Russland unendlich viel abzubitten – wobei „Russland“ und „die Russen“ immer für die Sowjetunion standen. Dass die Wehrmacht in der Ukraine noch entsetzlicher gewütet hat, wurde lange übersehen.

Die guten Beziehungen zu Moskau galten als Ausweis deutschen Bemühens um Entschuldigung und Wiedergutmachung. So sah man es zumindest in Deutschland und ignorierte die Bedenken anderer Regierungen. Die deutsch-russischen guten Beziehungen schlugen sich wesentlich als einträgliches Business nieder, das von deutscher Seite gern als Indiz einer Aussöhnung verstanden wurde.

Der Krieg Russlands in der Ukraine hat die deutsche Gesellschaft in ein emotionales Dilemma geworfen, als man denjenigen, dessen Vergebung man sucht, nun verdammen soll. Der Wunsch, der Krieg möge enden, ist nur zu verständlich. Aber die Vorstellung, es bestünde die Möglichkeit Friedensverhandlungen aufzunehmen statt Waffen zu schicken, ist sicherlich auch Ausdruck einer aus dem Dilemma resultierenden Verunsicherung.

Der Krieg ist eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie Clausewitz bemerkte. Das heißt, der Krieg beginnt, nachdem alle Verhandlungen endeten. Um an den Verhandlungstisch zurückzukehren, muss entweder das Kriegsziel des Angreifers erreicht sein oder sich dessen Erreichung als unmöglich erwiesen haben. Letzterer Variante steht allerdings noch ein Hindernis entgegen. Die Verfehlung der Kriegsziele geht für die Oberbefehlshaber fast immer mit dem Verlust ihrer Macht einher, weshalb sie das Eingeständnis eines Fehlschlags nach Möglichkeit hinauszögern.

So steckt also auch Putin in einem Dilemma, dem er zu begegnen scheint, indem er das Scheitern seines Krieges durch dessen Fortsetzung zu kaschieren sucht. Auch mag er die Hoffnung hegen, dass eine maximale Verwüstung des gegnerischen Terrains die Ukraine doch noch zum Einlenken und zur Preisgabe wesentlicher Teile ihres Territoriums zwingen könnte. Gleichzeitig aber forderte Medwedew die „physische Eliminierung“ des ukrainischen Präsidenten, dem potentiellen Verhandlungspartner, der „zur Unterzeichnung der Kapitulation nicht gebraucht“ werde, schließlich habe „auch Hitler keine unterschrieben“.

Drei Wochen später, Ende Mai dieses Jahres, schlug Medwedew – wie in Anlehnung an den Hitler-Stalin-Pakt – vor, die Ukraine zwischen Russland und mehreren EU-Staaten aufzuteilen.

Die russische Haltung erscheint zu einem erheblichen Grad irrational, wozu sicherlich auch die öffentlichen Streitereien zwischen Wagner-Söldnern und russischer Armee beitragen. Und die Irrationalität droht handgreiflich zu werden, sobald die diversen privaten russischen Milizen die Lage in zunehmendem Maße anders einschätzen als der Kreml.

Es steht bös. Zum jetzigen Stand ist ein russischer Sieg nicht vorstellbar. Mit Putin wird der Krieg weitergehen. Ohne ihn womöglich auch.

André Geicke, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und war journalistischer Mitarbeiter im Soz-Magazin und im Spiegel.