Kriegsziele

Gaspreis und russische Revolution

Hundert Jahre nach der Oktober-Revolution hat Russland seinen wertvollen Rohstoff Erdgas zu einem Drittel des Weltmarktpreises an Deutschland verkauft. Was bedeutet das für den Erfolg von Revolution und Konterrevolution in Russland?

Unter Wert

Die bolschewistische Revolution von 1917 hatte auch das Ziel, ein Außenhandelsmonopol und das Staatseigentum über die Produktionsmittel zu erlangen, um ein Ausbluten Russlands infolge des Rückstands gegenüber der weiter entwickelten Industrie der westlichen Staaten zu verhindern. Im Gegensatz zu den Menschewiki und anderen, die eine bürgerliche Revolution für erforderlich hielten, waren die Bolschewiki und wiederum auch andere der Meinung, eine weitere Entwicklung des Kapitalismus unter den Bedingungen höchst unterschiedlicher Produktivität würde Rohstoffe und Arbeit so gering bewerten, dass eine eigenständige Industrieentwicklung Russlands nicht möglich wäre. Durch politische Aktion, durch Eroberung der Staatsmacht sollte verhindert werden, dass fortwährend Arbeitszeit unterbewerteter Arbeit aus Russland in die imperialistischen Länder abfließen würde.

Ist das gelungen? Im vergangenen Jahr beklagten sich Länder wie die Bundesrepublik darüber, dass russisches Erdgas zu einem Drittel des üblichen Weltmarktpreises aufgrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, der folgenden Sanktionen und Putins Lieferstopp nicht mehr zur Verfügung stünde. Die Abhängigkeit von den billigen russischen Lieferungen wollten vor allem die grünen Minister der Ampel-Koalition verringern – durch Reservehaltung von Kernkraftwerken, Weiterlauf von Kohlekraftwerken, durch Braunkohleabbau und LNG-Terminals, die mittels Frackings gewonnenes Erdgas liefern sollten.

War Abhängigkeit von Russland der Grund, warum die BRD energisch auf fossile Energien umsteuerte? Erinnern wir uns: Am Anfang stand das Erdgas-Röhren-Geschäft der 1970er Jahre. Der westdeutsche Mannesmann-Konzern lieferte die Röhren, die die Sowjetunion nicht herstellen konnte, zum Bau von Pipelines aber brauchte. Die Deutsche Bank und weitere Institute finanzierten den Deal auf Kredit und unter Missachtung des 1962 von den USA verhängten Röhren-Embargos. Bezahlt wurde dann in Naturalien, mit Erdgas, und schon damals zu einem geringeren als dem Weltmarktpreis.

Und die UdSSR bestellte weitere Pipelines, wiederum erstellt von westlichen Firmen im Geschäft gegen Gas, das hundert Jahre nach der Revolution immer noch unter Wert verkauft wurde, was die Revolution doch gerade hatte verhindern wollen.

Wirkung einer sozialistischen Revolution?

Was ist schief gegangen bei dem Versuch, den Wertabfluss ist die imperialistischen Länder durch eine Revolution zu verhindern?

Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass dies an der Art der Revolution lag, die da unter Führung der bolschewistischen Partei und dann nach der Eroberung der Staatsmacht durch die Bürokratie organisiert wurde. Es war immer eine Beglückungsrevolution, in der die Partei und die Staatsmacht dem Volk die Segnungen einer geplanten Wirtschaft bescheren oder besser: aufdrücken wollte.

 Unter Linken auch außerhalb der UdSSR spielte seit den 1930er Jahren das Argument, es handle sich um eine geplante Wirtschaft im Gegensatz zu der gesellschaftlich ungeplanten Entwicklung in den kapitalistischen Ländern, eine wichtige Rolle, um trotz aller Kritik für die Verteidigung der Sowjetunion einzutreten. Aber was soll die Existenz eines gesamtgesellschaftlichen Planes für ein Vorteil sein, wenn die Beglückten nicht wissen, wie er zustande gekommen ist und wie sie daran beteiligt sind? Was soll an einem Plan für die gesamte Wirtschaft einer Gesellschaft von vornherein gut sein, wenn er nicht durch Abwägung und sorgfältigste Diskussionen der verschiedenen Interessen entsteht, in denen alle Beteiligten verstehen können, welches ihr Anteil am wirtschaftlichen Geschehen in der Gesellschaft ist? Im Gegensatz zum Kapitalismus, in dem die Pläne der Produktionsmittelbesitzer indirekt und anarchisch zu einem gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsergebnis mit  Krisen zusammenstoßen, hätte es bei gesellschaftlich geplanter Produktion die Möglichkeit und die Notwendigkeit gegeben, die verschiedensten Interessen an Produktion und Konsum der verschiedensten Gruppen und Einzelnen in einem demokratischen, offenen und transparenten Diskussionsprozess zu einem Plan zusammenzuführen, den die meisten Gesellschaftsmitglieder teilen könnten, weil sie ihn bereits kennen, diskutiert haben und die Kompromisse verstehen, die auf einem Weg zu einem Gesamtergebnis geschlossen werden mussten.

Rosa Luxemburg hatte mit ihrer Kritik an Trotzki und Lenin recht, als sie sagte, die Bürokratie bleibe das einzige tätige Element, wenn das Parteileben erstickt werde.

„Die ganze Volksmasse muß daran (an der Demokratie) teilnehmen. Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert (…). Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das sind alles Mittel, die diese Wiedergeburt verhindern. Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert. (…) Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Preß- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt.“* Als sie diese Zeilen im Herbst 1918 schrieb, kannte Rosa Luxemburg noch nicht die schrecklichen Folgen, die der Versuch einer bürokratischen diktatorischen Beseitigung des Widerstandes der Schicht der Bauern in der Sowje tunion bewirkte.

Über 80 Prozent der russischen Bevölkerung lebte um 1920 in bäuerlichen Verhältnissen. Jeder bürokratische Beschluss über die Kollektivierung der Landwirtschaft, also von Bauern, die wenig Maschinen zur Verfügung haben, ist ein Akt des Herrschaftserhalts, wenn nicht Landmaschinen zur Verfügung stehen, die gemeinsam besser gehandhabt werden können als von den Einzelbauern. Die Zwangs-Kollektivierung der Landwirtschaft mit dem Mord und Hungertod von Millionen von Bauern ist ein Plan, aber er entbehrt jeder emanzipatorischen und fortschrittlichen Absicht.

Die Deutung als spezifisch gegen die Ukraine gerichteter „Holodomor“ (Hungertod) verkennt den Umstand, dass der Massenmord durch Beschlagnahme von Lebensmitteln, Zugvieh und Getreidevorräte sich als Akt politischer Barbarei auch gegen die nicht-ukrainische Bevölkerung richtete.

Es scheint, gerade Trotzkisten, die es eigentlich besser hätten wissen müssen, wurden geblendet von der Behauptung, jeder schlechteste gesamtgesellschaftliche Plan sei immer noch besser als die kapitalistische Anarchie. Für die Produzenten und die Konsumenten der bürokratisierten Übergangsgesellschaften, wie die Länder des realen Sozialismus genannt wurden, ist das einfach nicht wahr. Die Methode, einen Plan von oben durchzudrücken ohne die Berücksichtigung der Produzenten, war das größte Hindernis, zu einer wirklichen demokratischen gemeinsamen gesellschaftlichen Planung zu gelangen.

Bevormundungssozialismus

War das Durchdrücken eines Planes durch die Partei anstelle der Gesellschaft, die ihn hätte diskutieren können, denn wenigstens erfolgreich? Wenn man das Resultat anguckt, doch wohl nicht: Statt Erdgas als wertvollen Rohstoff zu behandeln, der nicht Energielieferant wäre, sondern vielfältige chemische Produkte entstehen ließe, wird die aufgespeicherte Sonnenenergie von Jahrmillionen an die entwickelten kapitalistischen Länder geliefert, unter Wert und Weltmarktpreis, um dort abgefackelt zu werden zur Wärmeerzeugung mit Freisetzung von immensen Mengen an Treibhausgasen hauptsächlich CO2.

Haben also die bürokratischen Vormünder es einfach falsch gemacht, indem sie einem zu brutalen und falschen Plan folgten? In Abwandlung eines Satzes über den Kapitalismus als System ließe sich sagen: Ein (bürokratischer) Plan hat keine Fehler, er ist der Fehler.

Wie anders ließe sich denn die Verachtung erklären, die die russische Führung nicht allein für ihre Soldaten an den Tag legt, die den Krieg gegen die Ukraine ausfechten, sondern für die gesamte Bevölkerung, der sie zaristische Herrschaftsmethoden und -ziele verkaufen will. Bevormundung, angeblich zum Besten der Betroffenen, kann nur deren Selbstverachtung zur Folge haben und die gesellschaftliche Unfähigkeit, wirtschaftliche Aktivitäten und Arbeit gemeinsam in abwägender Diskussion zu planen.

Die russische Revolution hat kein Gegenmittel gegen die Innovationsfreude des Kapitalismus entwickelt, der jede und jeden potentiell an der Kapitalakkumulation beteiligt, weil sich Ideen und Neuerungen in Geld umsetzen lassen. Insofern war nicht der Kapitalismus zu stark für die sozialistische Revolution, sondern es fehlte ihr an der individuellen Beteiligung am gesellschaftlichen Planprozess, der der kapitalistischen Zerstörungsfreude etwas entgegensetzen könnte. Wer meint, Bevormundung könnte zum sozialistischen Glück führen, verkennt, dass nur die Eigeninitiative, Kritikfreudigkeit, Diskussionsfähigkeit und Abwägungsfähigkeit zwischen verschiedenen Interessen eine gesellschaftliche Planung hervorbringen kann, die der Kapitalakkumulation etwas Eigenes entgegensetzen kann.

Ein Besuch auf Kuba hat Jürgen Bönig deutlich gemacht, dass ohne Selbständigkeit sozialistische Errungenschaften nicht verteidigt werden können.

* „Zur russischen Revolution“, im Herbst 1918 im Gefängnis in Brelau geschrieben, im Januar 1922 veröffentlicht, erst 1974 in Gesammelte Werke Band 4, S. 332-365, hier: S. 361f.