Die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser ordnet den kapitalistischen Dschungel
Der Kapitalismus ist chancenlos. Das versteht, wer Nancy Frasers Buch „Der Allesfresser“ gelesen hat.
Und man versteht auch, dass das nicht unbedingt eine gute Nachricht ist. Der Kapitalismus zehre in zunehmendem Maße seine eigenen Grundlagen auf, indem er sämtliche gesellschaftlichen und außergesellschaftlichen Bereiche kannibalisiere. Das legt die Autorin auf rund 250 Seiten überzeugend dar. „Cannibal Capitalism“ lautet denn auch der Originaltitel des 2022 erschienenen Werks, das seit März dieses Jahres auf Deutsch vorliegt.
Nancy Fraser, 1947 in Baltimore geboren, ist Professorin an der New School for Social Research in New York. In ihrem jüngsten Buch knüpft sie an Karl Marx und dessen Analyse kapitalistischer Ökonomie an, fasst den Gegenstand aber weiter und unterzieht außerökonomische Bereiche ihrer Betrachtung. Den Kapitalismus nur als eine besondere Wirtschaftsweise zu sehen, reiche nicht aus. Wir müssten uns als „kapitalistische Gesellschaft“ verstehen.
Marx habe das Verhältnis kapitalistischer Produktion zu anderen Bereichen durchaus im Blick, besonders im Kapitel zur ursprünglichen Akkumulation im ersten Band des „Kapital“, wo er den Raub beschreibt, mit dem das Startkapital seit dem 16. Jahrhundert erst zusammengebracht wurde.
Jenseits von Marx
Dabei handele es sich aber keineswegs um eine historisch abgeschlossene Phase, so Fraser. Neben der Ausbeutung der Lohnarbeitenden, der Exploitation, finde nach wie vor Expropriation, Enteignung, statt, vor allem durch Ausplünderung von Bevölkerungen in der sogenannten Peripherie, aber auch durch erpresserische Beschäftigung von ›Illegalen‹, Dienstbotinnen, Gefängnisinsassen in den Zentren. „Unter Verzicht auf die vertragliche Beziehung, durch die das Kapital im Tausch gegen Löhne ›Arbeitskraft‹ erwirbt, funktioniert Expropriation, indem Fähigkeiten und Ressourcen konfisziert und zwangsweise in die Kreisläufe der Kapitalexpansion einbezogen werden.“
Fraser erkennt Expropriation als „gern geleugnete“, aber strukturelle Voraussetzung der Exploitation, denn die ›abhängigen‹ Subjekte lieferten die billigen Produkte, die einen geringen Subsistenzlohn der ›freien‹ Arbeitenden ermöglichen, wobei die Trennung von Abhängigen und Freien mittels einer „rassifizierenden Dynamik“ des Kapitalismus gelinge. Die Differenzierung von „ausbeutbaren und enteigenbaren Subjekten“ werde mittels staatlicher Praktiken konstruiert.
Die verschiedenen Formen fortgesetzter Enteignung seien nicht als Überbleibsel außerhalb des Kapitalismus misszuverstehen, sondern bilden einen integralen Bestandteil des globalen Systems. Und Fraser benennt drei weitere Bereiche, ohne die Kapitalismus nicht funktionieren kann, die aber in gängigen Darlegungen zum Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nicht in Betracht gezogen werden: den Bereich sozialer Reproduktion, worunter auch Care-Arbeit zu rechnen sei; die Organisation der Gemeinwesen, quasi die Politik; und die Natur, womit auch Bodenschätze und Klima einbezogen sind.
Alle vier Bereiche stellten „keineswegs marginale Begleiterscheinungen“ dar, „sondern konstitutive Elemente der kapitalistischen Gesellschaft“. Die meisten Betrachtungen übersehen ein entscheidendes Merkmal dieses Gesellschaftssystems: „das Bestreben des Kapitals, den Reichtum in Bereichen jenseits des Ökonomischen zu kannibalisieren.“
Die soziale Reproduktionsarbeit erhält die gesellschaftlichen und familiären Bindungen, und gibt den Menschen immer wieder Kraft; ohne sie „gäbe es weder Produktion noch Profit, noch Kapital, weder Wirtschaft noch Kultur noch Staat“. Es wäre also im Interesse des Kapitals, Care-Arbeit in guter Funktionsfähigkeit zu erhalten, doch „das Streben des Kapitalismus nach unbegrenzter Akkumulation führt dazu, dass er genau die sozial-reproduktiven Aktivitäten kannibalisiert, auf die er angewiesen ist“.
Ebenso, wie der Kapitalismus gegenüber reproduktiver, freier und abhängiger Arbeit agiert, so ausbeuterisch oder kannibalisch agiert er gegen soziale Organisationsstrukturen und gegen die Natur. „Das System gibt Kapitalisten Motiv, Mittel und Gelegenheit, den Planeten zu plündern und zu verwüsten. Sie, und nicht die Menschen im Allgemeinen, haben uns den Klimawandel beschert – auch nicht aus Zufall oder schlichter Gier. Vielmehr ist die Dynamik, die ihr Handeln bestimmt und zu diesem Ergebnis geführt hat, in die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft selbst eingebrannt.“
Care-Notstand
„Nur dank der Hausarbeit, der Kindererziehung, der Schulbildung, der affektiven Pflege und einer Vielzahl damit verbundener Tätigkeiten kann das Kapital über Arbeitskräfte verfügen, die in Qualität und Quantität seinen Bedürfnissen entsprechen.“ Kapitalistische Gesellschaften hätten die Reproduktionsarbeit separiert, den Frauen zugewiesen und diese denjenigen untergeordnet, die die existenzsichernden Löhne verdienen. In die häusliche Sphäre verwiesen, „eingehüllt in den Nebel erfundener Vorstellungen von Weiblichkeit“, wurde die soziale Bedeutung von Care-Arbeit verschleiert.
Nach den gesellschaftlichen Zusammenbrüchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und infolge des Kampfes der arbeitenden Klassen um staatliche Fürsorge hätten aufgeklärte Eliten öffentliche Investitionen in Gesundheitsfürsorge, Schulbildung, Kinder- und Altenbetreuung für notwendig erachtet, um das „System vor seinen eigenen destabilisierenden Tendenzen zu bewahren“. Fraser diagnostiziert einen Klassenkompromiss, der einen demokratischen Fortschritt darstelle. „Für die zur Mehrheitsethnie gehörenden Arbeiter im kapitalistischen Zentrum“ reduzierte sich der materielle Druck im Familienleben, wobei die Emanzipation zugunsten von sozialem Schutz und Marktwirtschaft auf der Strecke geblieben sei.
In der Folge von Produktivitätskrise und sinkender Profitrate hätten sich seit den 1970er Jahren neoliberale Regime etabliert, die einen Rückzug des Staates aus der Sozialfürsorge einleiteten und gleichzeitig Frauen in Erwerbsarbeit drängten. Der staatliche Rückzug sei inzwischen weit fortgeschritten, stattdessen sei das Finanzkapital ermächtigt, „Staaten und Öffentlichkeit im unmittelbaren Interesse privater Investoren zu disziplinieren“.
Diese Aushöhlung des Politischen sei Folge einer Schwächung der Gewerkschaften, aber auch einer marktfreundlichen Fehlstellung anderer emanzipatorischer Bewegungen. Reproduktion erscheine als rückständig und als Aufstiegshindernis. Das überraschende Ergebnis sei „ein progressiver Neoliberalismus, der ›Diversität‹, Meritokratie und ›Emanzipation‹ feiert, während er gleichzeitig soziale Schutzmechanismen abbaut“.
„Der Finanzkapitalismus hat nicht nur die öffentliche Fürsorge abgebaut und Frauen in die Lohnarbeit gedrängt, sondern auch die Reallöhne gesenkt, wodurch die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden pro Haushalt, die für den Unterhalt einer Familie erforderlich sind, gestiegen ist und ein verzweifeltes Ringen um die Übertragung von Betreuungsaufgaben auf andere begonnen hat.“
Abrechnung
Diese Rezension fasst beispielhaft Überlegungen Frasers zur Reproduktionsarbeit zusammen, also nur zu einem von vier Bereichen, deren Leistungen das Kapital sich aneignet, und die Fraser sämtlich, auch in ihren Wechselwirkungen, untersucht.
Sie schließt: „Was wäre, wenn das Kapital für die unentgeltliche Reproduktionsarbeit, für die ökologische Reparatur und Wiederherstellung, für den Reichtum, der den rassifizierten Menschen entzogen wurde, und für die öffentlichen Güter hätte zahlen müssen?“ Klar sei, „dass eine sozialistische Gesellschaft eine saftige Rechnung für jahrhundertelang nicht bezahlte Kosten erben würde“.
Nancy Fraser
„Der Allesfresser – Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt“
Sehr gut übersetzt von Andreas Wirthensohn
Suhrkamp 2023
282 Seiten
20 Euro