Versemmelt und Versandet

Die Vertiefung der Fahrrinne der Elbe scheitert an den Gezeitenkräften

Debakel im hohen Norden der Republik: Die Elbvertiefung als größter wasserwirtschaftlicher Eingriff aller Zeiten galt Ende letzten Jahres als gescheitert, Deutschlands größter Seehafen konnte sich nur mit Not, Mühe und noch mehr Geld eine Atempause bei der Hafenschlick-Problematik verschaffen und aktuell rauschen die Umschlagszahlen in den Keller.  Grundlegende Probleme des Hafens werden nicht in Angriff genommen – offenbar regiert allein das Prinzip Hoffnung an der Unterelbe.

Doch der Reihe nach. Nach 15 Jahren Planung und zahlreichen gerichtlichen Auseinandersetzungen begannen im Jahr 2020 die Arbeiten zur neuerlichen „Fahrrinnenanpassung“ – so der offizielle Projektname. Knapp 30 Millionen Kubikmeter Sediment wurden bewegt, um die Fahrrinne der Unterelbe im Schnitt um einen Meter zu vertiefen und stellenweise zu verbreitern. Die Unterelbe, auch Tideelbe genannt, ist der rund 140 Kilometer lange gezeitenabhängige Flussabschnitt von der Nordsee bis über Hamburg hinaus.

Am 3. Mai 2021 erteilte die Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt (GDWS) die erste Teilfreigabe und am 24. Januar 2022 folgte die komplette Freigabe der neuen Fahrrinnentiefen für die Seeschifffahrt. Jubel machte sich in Hafenkreisen breit, Hamburgs damaliger Wirtschaftssenator Michael Westhagemann bemühte das Wort „Meilenstein“, und der GDWS-Präsident Hans-Heinrich Witte, betonte den enormen „ökonomischen und ökologischen Mehrwert“ des Projekts.

Der Jubel hielt nicht lange an. Seit der Freigabe im Januar 2022 mussten insgesamt 275 schifffahrtspolizeiliche Verfügungen wegen Mindertiefen in der Tideelbe erlassen werden, um zu verhindern, dass einer der Containerriesen auf Grund läuft. Zehn Monate später, am 1. November 2022, musste die GDWS die Erlaubnis der „neu erschlossenen“ Tiefgänge sogar nahezu komplett zurücknehmen, und der grüne Koalitionspartner im Hamburger Rathaus stellte nüchtern fest, die Elbvertiefung sei gescheitert. Die Tideelbe hatte sich ihr vorheriges Flussbett zurückgeholt, da half auch die intensivste Unterhaltungsbaggerung – also das jährliche Baggern und Verklappen, um die Fahrrinne freizuhalten – nicht. Die neuen Tiefgänge waren schon wieder Geschichte. 

Als Ursachen für die gewaltigen Sedimentmengen, die der Fluss mitführt und die die Vertiefungen wieder auffüllen, wurden die Sturmfluten Anfang 2022, der niedrige Oberwasserzulauf und der sogenannte morphologische Nachlauf infolge  der Elbvertiefung genannt. Welcher Aspekt welchen Anteil an der wasserbaulichen Misere hat, blieb in den offiziellen Verlautbarungen unklar. Sturmfluten und niedriges Oberwasser sind aber nichts Neues an der Elbe. Ebenso wie die Warnungen von Umweltschützern und Wasserbauexperten, dass die Elbvertiefung zu einem deutlichen Anstieg der Unterhaltungsbaggerung führen und sich das Tidal Pumping weiter verstärken wird. Dieser Begriff umschreibt den Effekt, dass deutlich mehr Material vom Gewässergrund mit dem Flutstrom Richtung Hamburger Hafen transportiert wird, als vom Ebbstrom wieder Richtung Nordsee ausgetragen werden kann. Das Tidal Pumping hatte sich bereits nach der vorletzten Elbvertiefung im Jahr 2000 deutlich verstärkt.

Statt einer ehrlichen Fehleranalyse stritten sich nun die GDWS und die Hamburger Politik, warum nicht rechtzeitig zusätzliche Baggerschiffe bestellt worden sind. Außerdem würde es an einem abgestimmten Sedimentmanagement von Bund und Ländern und an geeigneten Baggergut-Klappstellen fehlen, zu denen Sediment aus der Unterelbe verbracht werden kann.

Spurensuche

Eine Frage bleibt auffällig ungestellt. Wie konnte es zu dieser desolaten Situation kommen? Eine zunächst unscheinbare, aber denkwürdige Protokollnotiz bringt Aufklärung. Im Bericht des Haushaltsauschusses der Hamburgischen Bürgerschaft vom 23. November 2022 findet sich dieser Satz:  „…Die Senatsvertreterinnen und -vertreter erwiderten, die BAW sei in ihrer damaligen Prognose zum Fahrrinnenausbau von weitaus weniger Baggergutzunahmen, 10 Prozent für den gesamten Bereich der Maßnahme, ausgegangen.“

Mit „BAW“ ist die Bundesanstalt für Wasserbau gemeint, eine dem Bundesverkehrsministerium unterstellte Bundesoberbehörde, die die möglichen Folgen der Elbvertiefung im Vorwege der Maßnahmenumsetzung fachlich beurteilen sollte. Das dafür einschlägige BAW-Gutachten H1.c zur ausbaubedingten Änderung der morphodynamischen Prozesse stammt aus dem Jahr 2004. Die BAW hat darin zusammengefasst, was ihre Modellrechnungen ergeben haben, und was wahrscheinlich passieren würde, wenn man die Elbe zwischen Hamburg und Cuxhaven ein weiteres Mal vertieft, Millionen Kubikmeter Sediment aus der Fahrrinne baggert und an anderer Stelle wieder verklappt.

Da die Elbvertiefung erst 2020 vollzogen wurde, sollte man meinen, dass dieses und weitere vom Bundesverwaltungsgericht als relevant erachtete Gutachten innerhalb der vergangenen 16 Jahre fachlich überarbeitet und aktualisiert wurden. Weit gefehlt. Trotz deutlich besserer Computertechnik, wesentlich mehr gewässerkundlicher Daten zur Tideelbe, einer neuen Gewässerbett-Topographie sowie massiver inhaltlicher Kritik an dem BAW-Gutachten blieb das veraltete Schriftwerk im gesamten Verfahren der zentrale Maßstab für die Beurteilung einer  angeblichen Verträglichkeit der Elbvertiefung.

Eine Überarbeitung hat die BAW stets abgelehnt und die geplante Elbvertiefung gegen alle fachliche Kritik, auch von renommierten Wasserbauern, verteidigt. Die Hoffnung der BAW war, dass ein neues Unterwasserbauwerk im Mündungsbereich der Elbe die enorme zusätzliche Tideenergie dämpft und dafür sorgt, dass die jährliche Unterhaltungsbaggerung zum Erhalt der Fahrrinnentiefe gegenüber dem damaligen Zustand nicht wesentlich steigt.

Das Gegenteil ist eingetroffen: Mussten in 2020 noch 22,7 Millionen Kubikmeter Sediment im Rahmen der Fahrrinnenunterhaltung gebaggert werden, waren es 2021 – nach Vollzug der Elbvertiefung – schon über 36 Millionen Kubikmeter. Für 2022 belaufen sich neue Schätzungen auf zirka 40 Millionen Kubikmeter – neuer Rekord.

Die BAW lag mit ihren Prognosen von Grund auf falsch. Personelle Konsequenzen aus der eklatanten Fehleinschätzung gibt es bislang nicht.

Elbvertiefung – am Bedarf vorbei geplant

Zu Beginn der Planung im Jahr 2004 gab es zwei zentrale Argumente für die Elbvertiefung: Die Globalisierung brummte noch, das Umschlagsvolumen sollte von seinerzeit rund 10 Millionen Standardcontainer (TEU) pro Jahr auf bis zu 28 Millionen TEU im Jahr 2030 ansteigen. Und da die Schiffe immer größer würden, brauche es mehr Tiefgang.

Heute wissen wir, dass beide Argumente die Elbvertiefung nicht rechtfertigen. Der Containerumschlag stagniert unterhalb von 10 Millionen TEU pro Jahr, Experten sehen den Hamburger Hafen auch im nächsten Jahrzehnt bestenfalls bei maximal 14 Millionen TEU pro Jahr. Für den Tiefgang der Schiffe ist entscheidend, wie beladen, die Schiffe Hamburg anlaufen und  wieder verlassen. Die Reedereien gestalten ihre Umläufe mittlerweile so, dass die Containerriesen aus Fernost in Rotterdam oder Antwerpen teilabgeladen werden, die Schiffe somit weniger Tiefgang aufweisen. Die Tiefgangsrestriktionen der Unterelbe lassen sich schlicht durch moderne Logistik beherrschen. Trotz all dieser Erkenntnisse wurde und wird an der Planung aus dem Jahr 2004 festgehalten.

Deutsche Hafenpolitik – ein Gruß aus der Provinz

Hafenpolitik ist in Deutschland Ländersache. Das bedeutet, eine der größten Exportnationen der Welt verlässt sich im Zweifelsfall auf eine unabgestimmte Kirchturmpolitik aus Bremen, Hamburg und Hannover. Diesen so offensichtlichen Webfehler hat bislang niemand korrigiert.

Ankündigungen einer Hafenkooperation, wie sie von Umweltverbänden schon lange gefordert wird, gab und gibt es viele. Passiert ist bis heute faktisch nichts. Landesregierungen unterschiedlicher Couleur und mit jeweils eigenen politischen Interessen bestimmen nach wie vor die wichtige Seehafenpolitik Deutschlands mit der Konsequenz, dass die deutschen Nordseehäfen Ladungsanteile an die europäische Konkurrenz verlieren, Weser und Elbe mit hohem Aufwand und ökologisch verheerenden Konsequenzen vertieft und ständig ausgebaggert werden müssen. Trotz milliardenschweren Investitionen in Deutschlands einzigen Tiefseehafen im niedersächsischen Wilhelmshaven bleibt dessen Auslastung weit hinter den Erwartungen zurück.

Bleibt abzuwarten, ob die Ankündigung der Ampel-Regierung, eine neue Nationale Hafenstrategie zu entwickeln, die Situation verbessern wird. Die letzte Hafenstrategie aus dem Jahr 2015 hat kaum Impulse gesetzt. Und die Herausforderungen im internationalen Wettbewerb und der Dekarbonisierung der Energieversorgung sind größer denn        je.  Hinzu kommt, dass mittlerweile die Kostenstruktur speziell im Hamburger Hafen Probleme macht. Mangelnde Umschlagseffizienz und hohe Kosten an der Kaikante bilden eine unheilvolle Gemengelage, die auch dazu beiträgt, dass Hamburg im ersten Quartal 2023 stärkere Umschlagsverluste hinnehmen musste als die anderen EU-Nordseehäfen.

Dass es anders geht, zeigt die Fusion der belgischen Häfen Antwerpen und Zeebrügge im vergangenen Jahr. Die beiden Städte haben sich auf eine gemeinsame Betreibergesellschaft verständigt (Port of Antwerp-Bruges) und nutzen ihre jeweiligen Stärken für neue Synergien und eine abgestimmte Hafenpolitik. Die Hafenstädte liegen etwa 100 Kilometer auseinander, Antwerpen an der Schelde im Inland, Zeebrügge direkt an der Nordsee.  Parallelen zu Hamburg, Bremen und Wilhelmshaven drängen sich auf.

Wer zahlt die Zeche?

Die Kosten für den Irrsinn an der deutschen Nordseeküste landen letztlich beim Steuerzahler. Die neunte Elbvertiefung hat mindestens 850 Millionen Euro gekostet. Die Unterhaltungsbaggerung kostete 2021 allein an der Unterelbe mehr als 200 Millionen Euro.

Vor allem die Hamburger Politik tut so, als wenn alles nur eine Frage von Baggerkapazitäten und verfügbaren Verklappungsstellen sei. An den Kern des Problems – dass die Elbe ein Niedrigwasserfluss ist, die Kosten für die Unterhaltungsbaggerung explodieren und die ganz großen Containerriesen häufig am Rande einer Havarie in der, Richtung Hamburg immer schmaler werdenden, Unterelbe unterwegs sind – traut sich bisher niemand so recht ran. Nach jüngsten Meldungen soll nun Ende 2023 die gewünschte Fahrrinnentiefe wieder erreicht werden. Ob diese Zusage eingehalten wird und zu welchen ökologischen und ökonomischen Kosten, bleibt ungewiss.

Deutsches Planrecht – mindestens von gestern

Lamentieren über zu lange Planverfahren bei deutschen Infrastrukturmaßnahmen gehört in fast jeder Talkshow mittlerweile zum politischen Alltagsgeschäft. Die in Berlin regierende Ampel will Infrastrukturmaßnahmen zeitlich beschleunigen und der Bundeskanzler spricht gern von einem neuen „Deutschland-Tempo“ für wichtige Infrastrukturprojekte.

Hört sich gut an, aber ist das tatsächlich der richtige Weg? In Zeiten des galoppierenden Klimawandels und des zunehmenden Artensterbens können wir es uns als Gesellschaft gar nicht leisten, weniger sorgfältig zu planen. Das zeigt nicht nur das Beispiel Elbvertiefung. Ob etwa milliardenschwere Investitionen in fossile LNG-Infrastruktur in Kombination mit 15-jährigen Gaslieferverträgen zu Ende gedacht sind, ist zu bezweifeln. Auch der Import von E-Fuels, also synthetischen Kraftstoffen mit enormen Umwandlungsverlusten, über deutsche Häfen, ist kaum ein nachhaltiges Geschäftsmodell. 

Was in jedem Fall viel zu wenig diskutiert wird, ist das derzeit eingeschränkte Verständnis von Alternativenprüfung im deutschen Planrecht. Der Gegenstand der Alternativprüfung war bei der Elbvertiefung ein äußerst schlichter: Wie können mehr Container in den Hamburger Hafen transportiert werden? Dass die im Verfahren diskutierte Alternative zur Elbvertiefung, Container per LKW aus Rotterdam nach Hamburg zu bringen, weniger sinnvoll ist, kann wahrscheinlich ein Viertklässler ausrechnen. Die eigentliche Frage jedoch, wie Deutschland mit einer arbeitsteiligen German-Port-Strategie und dem geringsten ökologischen Eingriff in unsere wertvollen Flussmündungen die Welt-Containerflotte bedienen kann, wurde nie ernsthaft untersucht und von den Gerichten als angeblich nicht erforderliche Alternativenprüfung aussortiert. Solange wir uns in Deutschland den Luxus leisten, systemische Alternativen in die Planabwägung nicht mit einzubeziehen, wird es vermutlich  noch so manches ökonomische und ökologische Desaster wie bei der Elbvertiefung geben.

Manfred Braasch war lange Jahre Landesgeschäftsführer beim BUND.