Versorgungsschock und Neuordnung der Lieferketten

Unter dem Schock der Engpässe bei der Versorgung mit Masken und medizinischer Schutzausrüstung äußerten westliche Politiker aller Couleur in den vergangenen Monaten Zweifel an der Sinnhaftigkeit globaler Güterketten. “Es ist Wahnsinn, wenn wir unsere Ernährung, unseren Schutz, die Fähigkeit, unser Leben zu gestalten, in fremde Hände legen. Wir müssen wieder die Kontrolle übernehmen”, so der französische Präsident Emmanuel Macron im März 2020. Die Re-Nationalisierung oder Re-Regionalisierung strategischer Produkte erschien als Gebot der Stunde, die Verkürzung der Lieferketten die Voraussetzung, um nicht von unzuverlässigen Zulieferern oder logistischen Störungen abhängig zu sein. Am 28.11. unterbreitete EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas die Vorschläge zur Versorgungssicherung. „Wir wollen in der Lage sein, uns selbst zu versorgen und nicht von anderen abhängig sein“. Der Weg zur „offenen strategischen Autonomi e“ bedeute nicht, alles selbst zu produzieren, sondern Lieferquellen zu diversifizieren und Lager anzulegen.

Die Verletzlichkeit der Versorgung während des weltweiten Lockdown betraf nicht nur den Medizinbereich – 80 Prozent der Medikamentenwirkstoffe für europäische Kunden kommen aus China oder Indien, wo die Grundstoffe in Labors hergestellt oder zu Generikawirkstoffen verarbeitet werden. Welche Überraschung, als sich herausstellte, dass der Fiebersenker Paracetamol zu 100 Prozent von außerhalb Europas bezogen wird und Indien dafür kurzfristig ein Ausfuhrverbot verhängte. Betroffen waren all jene Branchen, deren Funktionsfähigkeit auf der zeitgerechten, ungehinderten An- und Weiterlieferung von Komponenten und Einzelteilen über weite Entfernungen beruhten. Ein Beatmungsgerät besteht aus rund 100 Einzelteilen, von denen kaum eines in jenen Ländern erzeugt wird, in denen das Gerät zum Einsatz kommt. Der Lockdown in China, wo die Corona-Pandemie ihren Ausgang nahm, schnitt die europäischen Automobilwerke bereits im März 2020 von den Zulieferungen ab. Sie fuhren die Produktion herunter, schickten die Belegschaften in Kurzarbeit oder in die Arbeitslosigkeit und rissen die Autozulieferbetriebe mit. Der vielgepriesene Spaghetti-Topf, der die enge Verwobenheit der Weltwirtschaft symbolisierte, verlor seine Flamme.

Upgrading im Workshop der Welt

Viele westliche Politiker sowie Konsumenten teilten die Meinung, China sei die Quelle der Lieferprobleme. Schließlich ist China der Workshop der Welt. Unternehmen lassen dort fertigen oder beziehen Vorprodukte von dort. Diese einfache Weisheit verstellt den Blick auf die Tatsache, dass die Globalisierung der Güterketten durch Auslagerung der Produktion an die jeweils kostengünstigsten Standorte eine bewusste Strategie westlicher Konzerne gewesen ist, um die Profitklemme der 1970er Jahre zu überwinden. Zentralen sowie Forschung und Entwicklung verblieben in den alten Industrieländern, während arbeitsintensive Fertigung in Newly Industrializing Countries transferiert wurde. Die verlorenen Industriearbeitsplätze hinterließen regionale und soziale Brachen mit hohem Resignations-, aber auch Konfliktpotenzial, die Konzerne hingegen gerieten durch die globalen Standortkombinationen wieder in die Gewinnzone. Regierungen und internationale Institutionen sorgten dafü r, dass grenzüberschreitende Transaktionen sowie Finanz- und Gewinntransfers unbehindert stattfinden konnten. Für die meisten neuen Industrieländer bedeutete die Eingliederung in die globalen Güterketten eine Festschreibung auf Billiglohnarbeit am „low end“ der Wertschöpfungskette. Im Falle einer aktiven Qualifizierungs- und Industriepolitik, wie sie vor allem größeren Staaten möglich war, konnten aber auch Entwicklungsländer ein „Upgrading“ erleben, das heißt, in höher qualifizierte, lukrativere Bereiche der Kette aufsteigen oder selbst zum Organisator einer Kette werden.

Der Fall China zeigt, dass ein solcher Aufstieg im Gefolge der staatlich orchestrierten Politik der Öffnung und Reform möglich war. Er macht gleichzeitig deutlich, dass dies eher die Ausnahme als die Regel ist und chinesische Unternehmen das “Upgrading” nur deshalb vollziehen konnten, weil der Staat die Zügel straff in der Hand hält und die Unternehmen der Küstenregionen auf große Arbeitskräftereserven im Landesinneren zurückgreifen konnten, die als Wanderarbeitskräfte kostengünstig zur Verfügung standen. Sobald diese höhere Löhne forderten, griffen die Unternehmen auf Zulieferer in Südostasien oder Afrika zurück. Die Folge war, dass China in vielen Bereichen zu einem Zentrum der Weltwirtschaft aufstieg und dieser zunehmend Standards und Dynamik aufdrücken kann. Der WTO-Beitritt 2001, das Auslaufen des Welttextilabkommens 2004 sowie die erfolgreiche Bewältigung der globalen Krise 2008 bildeten Meilensteine des chinesischen Erfo lgskurses – parallel zum immer sichtbarer werdenden Niedergang der militärisch immer noch führenden USA und ohne, dass europäische Staaten und die EU davon hätten profitieren können.

Der Ruf nach Re-Industrialisierung

In dem Maße wie China die Weltwirtschaftsordnung in seinem Interesse nutzen konnte, machten sich in den alten Industrieländern Tendenzen breit, den bis dato viel geschmähten Protektionismus als Waffe gegen den aufstrebenden Konkurrenten einzusetzen. Die Bemühungen der Regierungen um Re-Industrialisierung und zur Heimholung von Industrieproduktion in die Mutterländer der Konzerne begleiteten die 2010er Jahre. 2017 konstatierte der Economist den „Retreat of the Global Company“ und zeigte auf, dass Produkte aus heimischer Fertigung ihren Anteil gegenüber globalen Produktionsarrangements vergrößert haben. Die Tendenz zur Entflechtung der Spaghetti-Schlingen bis hin zu vollmundigen Androhungen von Handelskriegen war also längst bemerkbar, als Corona ausbrach.

Nun war auch den Politikern der führenden europäischen Staaten klar, dass der immensen Abhängigkeit von chinesischen Produkten und Komponenten sowie der chinesischen Übernahme von Schlüsselunternehmen in den westlichen Staaten selbst ein Riegel vorzuschieben sei. Schlag auf Schlag wurden Gesetze zum Schutz kritischer Unternehmen, Vetos gegen Kapitalbeteiligungen und Boykottmaßnahmen gegen chinesische Konkurrenz – etwa im Fall des Internetkonzern Huawei – beschlossen oder verschärft.

Die Formierung der Asien-Pazifik-Region

Unterdessen verfolgt China eine Dreifachstrategie. Die Boykottdrohungen bestärkten die Führung erstens, den Binnenmarkt als Alternative zur Exportabhängigkeit auszubauen und dabei Diversifizierung, Spitzenforschung sowie die einheimische Kaufkraft zu stärken. Zweitens eröffnete die Infrastrukturoffensive „One Road One Belt“ ab 2015 Kooperationen von Eurasien bis Afrika, mit denen die chinesische Vorrangstellung in der Welt untermauert wird. Der dritte und jüngste Erfolg zeigt sich in dem im November 2020 unterzeichneten “Regional Comprehensive Economic Partnership” (RCEP)-Abkommen zwischen 15 Ländern im Asien-Pazifik-Raum, mit dabei nicht nur die zehn Mitgliedsstaaten der ASEAN, sondern auch Australien, Japan, Neuseeland, Südkorea – und eben China. Damit entsteht eine Freihandelszone mit 2,2 Milliarden Einwohnern, in der sich 30 Prozent des Welthandels konzentrieren, Tendenz steigend. Sie schafft die Voraussetzungen, die globalen Güterketten, die der Westen heimholen will, in dieser Region durch neue regionale Beziehungen zu ersetzen, die China in seinem Interesse kontrollieren kann.

Als sich die USA unter Trump 2017 aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) verabschiedeten, bildeten die verbliebenen Mitglieder das „Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership“, ohne China. Mit dem weiterreichenden RCEP-Freihandelsabkommen unter führender Beteiligung Chinas kann Peking seine Position als regionale Führungsmacht ausbauen. Ob das weiterhin gelingt, hängt an verschiedenen seidenen Fäden. Die politischen, teilweise auch militärischen Spannungen zwischen China auf der einen Seite, Japan, Südkorea und Australien, aber auch kleineren ASEAN-Staaten auf der anderen Seite sind mit dem Abkommen keineswegs beigelegt. Der Regierungswechsel in den USA lässt zudem Initiativen zur Abwerbung einzelner Mitglieder, möglicherweise sogar ein Wiederaufleben der Bemühungen um ein TTP unter US-Führung erwarten. In der Europäischen Union mehren sich nun Stimmen, die vor der Abkoppelung vom ostasiatischen Wachstumsraum wa rnen. „Man muss schon verrückt sein, wenn man aus China wegzieht“, meint Jörg Wuttke, Präsident der europäischen Handelskammer in Peking. Der Streit um Globalisierung oder Re-Nationalisierung geht in die nächste Runde. Er wird die Post-Corona-Ära prägen.

Andrea Komlosy, Univ. Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien. Autorin eines Beitrags zu Globalen Güterketten nach dem Lockdown in: Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern (Promedia Wien).