Ant Group – Eine unerhört schnelle Ameise

Geldverleiher gehen neue Wege und ein Chinese geht voran

Nein, so etwas macht man nicht, als Partygast andere Gäste beleidigen. Nun, es war eigentlich keine Party, aber Jack Ma hat sich danebenbenommen, als er im vergangenen Oktober auf einer Konferenz der Finanzbranche in Shanghai die chinesischen Banken Pfandleiher nannte.

Wahrlich dreist. Denn was macht eine Bank? Sie finanziert mutige Unternehmer, Unternehmerinnen mit Ideen, Geschäftsideen. Banken finanzieren die Wirtschaft von morgen. Ein Pfandleiher aber schätzt die silberne Zuckerdose des armen Mütterchens auf fünf Dollar und leiht ihr für das gute Stück fünf Dollar und keinen Cent mehr.

Und wer ist Jack Ma? Chinese, Jahrgang 1964, und mit 50 Milliarden Dollar einer der reichsten Männer der Welt.

Das unbedachte Wort kam teuer zu stehen: 37 Milliarden Dollar am Ende. Diese Summe war für die Ausgabe von Anteilsscheinen der Ant Group erwartet worden, die Jack Ma kontrolliert. Es hätte der bislang größte Börsengang der Welt werden sollen. Das Ereignis war für den 5. November angekündigt und sollte gleichzeitig an der Hongkonger und der Shanghaier Aktienbörse stattfinden. Doch zwei Tage zuvor ließ Staatspräsident Xi Jinping den Deal stoppen.

Ant, die Ameise, ist ein Finanzdienstleister, und zwar einer, der vor allem digitale Technik und das Internet nutzt und traditionelle Banken alt aussehen lässt. Firmen wie Ant werden eigentlich auch nicht mehr als Finanzdienstleister bezeichnet, sondern als Finanztechnologie-Unternehmen, kurz FinTech. Und Ant gilt als FinTech-Gigant. Das Etikett täuscht aber über den Inhalt. Ant ist weit davon entfernt, ein Technologieunternehmen zu sein. Es stellt keinerlei Technik her, es versteht es jedoch, die Möglichkeiten moderner Technologie effektiv anzuwenden. Und vielleicht manchmal über die Grenzen dessen hinaus, was Ökonomie und Finanzwirtschaft vertragen können.

Jack

Jack Ma hat klein angefangen. Aufgewachsen in der Provinzhauptstadt Hangzhou, 150 Kilometer südwestlich von Shanghai, führte er als Jugendlicher ausländische Hotelgäste durch die Stadt und lernte dabei Englisch. Später studierte er und wurde Englisch-Dozent, machte dann aber noch einen Business-Abschluss in Peking. Harvard hatte ihn mehrmals abgewiesen. Sein Weg blieb steinig. Auf Dutzende Bewerbungen bei diversen Firmen erhielt er Absagen, aber mit 30 Jahren gründete er mit einem Übersetzungsbüro in seiner Heimatstadt sein erstes Unternehmen. Während eines Besuchs in den USA faszinierten Ma die Informationen, die das Internet bot und er wunderte sich, dass es in China derartige Möglichkeiten nicht gab. 1995 gründete er mit China Pages sein zweites Unternehmen, das binnen drei Jahren 800.000 Dollar verdiente.

Und Ma behielt das Gespür für die Chancen, die das Digitale bietet. Mit einigen Freunden schuf er 1999 Alibaba, einen Online-Markt wie ebay. 15 Jahre später ging er mit Alibaba an die New Yorker Börse und konnte 25 Milliarden Dollar erlösen. Es war der bis dahin größte Börsengang der Geschichte. Mit dem Geld entstanden diverse Tochterfirmen, darunter Alipay, ein Bezahlsystem, über das die Alibaba-Nutzer, und nicht nur die, ihre Käufe und Verkäufe online begleichen können. Alipay hat PayPal als weltgrößte Bezahlplattform längst überholt und zählt heute monatlich 700 Millionen Nutzer.

Die App bietet beinahe alles, was man zum täglichen Leben braucht: Einkäufe tätigen, Reisen buchen, Eintrittskarten reservieren, Essen bestellen, Social Media, Messengerdienst und vieles mehr. Im Unterschied zu den spezialisierten Anwendungen amerikanischer Firmen – Visa für Zahlungen, Amazon für E-Kommerz, Facebook für Social Media, Google für Netzsuchen – hat Alipay als Super-App alles im Angebot. Und Alipay gibt Millionen kleiner Firmen die Möglichkeit, ihre Produkte landesweit anzubieten und damit Absatzmärkte zu erschließen, zu denen sie noch vor kurzem keinen Zugang hatten. Bezahlt werden die Transaktionen mit dem digitalen Geldbeutel. Zwei Billionen Dollar setzte Chinas Online-Einzelhandel im Jahr 2019 um, dreimal soviel wie der E-Kommerz der USA.

Super-App-Kreditschöpfung

Menschen, die per Alipay bezahlen, liefern zugleich, ob sie wollen oder nicht, ihre Kontakte und Daten über ihre Konsum- und Zahlungsgewohnheiten. Und da kommt Ant ins Spiel, eine weitere Alibaba-Tochter. Ant verdient mit Krediten – gewiss nicht als Pfandleiher, allerdings auch kaum als Financier wagemutiger Unternehmungen. Ant beherrscht das Geschäft mit Klein- und Konsumentenkrediten.

2018 schlug Ant Kreditinstituten vor, ihnen Zugang zu den Nutzern von Alipay zu verschaffen. Die Aussicht auf ein derart riesiges Kundenpotential veranlasste rund 100 große und kleine Banken, sich mit Ant einzulassen und Kapital für kurzfristige Online-Kredite zur Verfügung zu stellen. Den Kredit bekommen die Kunden jedoch nicht von den Banken, sondern von Ant über dessen Apps. Die Rückzahlungen überweist Ant den Banken abzüglich einer Gebühr für den „Technologiedienst“. Mitte vergangenen Jahres betrug der Wert der Forderungen, die chinesische Banken gegenüber Ant-Kunden hielten, 230 Milliarden Dollar. Nach dem Vorbild der Muttergesellschaft Alibaba, die Geschäfte nur vermittelt – anders als Amazon, das die Waren eigens vorhält – vermittelt Ant Kredite und steht selbst nur für zwei Prozent der Kreditsumme gerade.

„Unser Anliegen ist es, Kreditrisiken nicht selbst zu übernehmen“, war im Firmenprospekt für den geplanten Börsengang zu lesen. Im Fall des Kreditausfalls sind es die Banken, die auf den Verlusten sitzen bleiben. Sie haben zwischen 30 und 40 Prozent ihres Zinsertrags als Gebühr für Ants Technologiedienst gezahlt.

Besonders kleinere Banken und Fondsgesellschaften sind zu einem erheblichen Teil über Ant engagiert und in Folge des gewachsenen Umsatzes ihres Kreditgeschäfts, dessen Niveau sie ohne Ant nicht erhalten könnten, in Abhängigkeit des Finanz-Giganten geraten. Da sie über geringe Kapazitäten für ein Risikomanagement verfügen, stellt Ant Analysen zur Verfügung, gegen Gebühr. Die Finanzkrise 2008 hat offenbart, mit welch wilden Schönrechnereien renommierte Geldhäuser ihre Geschäfte pushten. Die Grundlagen ihrer Berechnungen gibt die Ant Group nicht preis.

Mit seinem Plädoyer für eine weniger restriktive Kreditvergabe auf der Shanghaier Konferenz mag Jack Ma bei der Finanzaufsicht eine Alarmglocke angestoßen haben, zumal die private Verschuldung vor allem unter jungen Chinesen ein besorgniserregendes Maß erreicht hat. Während der vergangenen fünf Jahre hat sich das Volumen ausstehender kurzfristiger Konsumentenkredite in China auf umgerechnet annähernd 1,5 Billionen Dollar verdreifacht, getrieben vor allem durch Ant. Ein erfolgreicher Börsengang hätte den Wert des Unternehmens auf über 350 Milliarden Dollar steigen lassen. Ant wäre teurer als JP Morgan, die weltgrößte Bank, und too big to fail.

Allerdings wird die Gefahr, die von nicht bedienten Kleinkrediten ausgehen mag, deutlich geringer zu veranschlagen sein als die katastrophale Wirkung, die die nicht zu tilgenden Hypothekenschulden von US-Bürgern 2007 entfalteten.

Saus und Braus

2014 und 2015 hatte Ant je eine Plattform für Konsumentenkredite eröffnet, „Huabei – Gib es aus“ heißt die eine, die wie eine virtuelle Kreditkarte funktioniert, „Jiebei – Leih es dir“ die andere, die auf zwölf Monate Kredite ohne irgendwelche Sicherheiten vergibt, rückzahlbar in Raten. Ein paar Klicks auf dem Smartphone, und ein Betrag steht bereit und kann ohne weitere Umstände für Online-Zahlungen vom Phone genutzt werden. So ist auch Menschen mit geringem Einkommen und ohne herkömmliche Kreditkarte die Chance gegeben, sich zu verschulden. Ein Abstottern in Raten erweckt den Eindruck geringer Belastung, verschleiert aber den tatsächlichen Jahreszins von deutlich über zehn Prozent, den Huabei und Jiebei berechnen.

Transaktionen im Wert von 17 Billionen Dollar wickeln Konsumenten jährlich über die Ant-Apps ab. Firmeneigene Algorithmen bewerten die Kreditwürdigkeit Hunderter Millionen Individuen; Bonitätsprofile von Ant, ohne Wissen der Nutzer erstellt, sind zur ersten Referenz im Kreditwesen Chinas avanciert.

Trotz der enorm gestiegenen Verschuldung chinesischer Konsumenten, sind die Kreditausfälle, die Ant verzeichnet, anscheinend gering. Knapp drei Prozent der Rückzahlungen waren 30 Tage, zwei Prozent 90 Tage überfällig. Es wäre jedoch möglich, dass die Ausfallraten nur deshalb niedrig sind, weil das gesamte Kreditvolumen noch wächst, so dass mögliche Verluste von steigenden Umsatzzahlen überdeckt würden. Das Geschäftsmodell könnte an seine Grenzen stoßen.

Die erst 2018 gegründete chinesische Behörde für Marktregulierung will Ants billige Tour nicht länger dulden und verlangt von dem Unternehmen, sich mit einem Anteil von 30 Prozent an den Kreditsummen zu beteiligen. Ant wird also mehr an eigenem Kapital benötigen, und das, nachdem die Milliarden seines geplanten Börsengangs gerade ausgeblieben sind.

Bislang schienen Jack Ma und Alibaba ein gutes Verhältnis zur Staatsführung zu haben, nicht zuletzt, weil der Bezahldienst Alipay seine Software auch zur Kontaktverfolgung der Anwender nutzte und die Daten den Behörden zur Verfügung stellte, die diese zur Strafverfolgung, zur Überwachung der Virenausbreitung und zur politischen Kontrolle nutzen konnten.

Einen solchen Informationsaustausch hinsichtlich der Bonitätsbewertungen wünschte auch die Zentralbank, die zwar seit langem Daten über Kreditwürdigkeit sammelt, mit den umfassenden Kenntnissen von Ant über Hunderte Millionen von Chinesen aber nicht mehr Schritt halten kann. Doch anders als Alipay blieb Ant zugeknöpft und rückte nichts heraus. Daten seien das Gold von morgen, heißt es. Und beim Gold hörte die Freundschaft der Ameise auf. Damit wird sie künftig nicht mehr durchkommen. Offenlegung der Daten gegenüber der Zentralbank lautet die zweite Forderung neben der 30-prozentigen Beteiligung an den Kreditvergaben, der die Behörde Nachdruck verleiht mit dem Hinweis, die Ant Group habe ihre Monopolstellung in strafbarer Weise ausgenutzt.

Immer schnelleres Geld

Die staatlichen Maßnahmen sind durchaus sinnvoll. Den Anstieg privater Verschuldung wird die Finanzaufsicht mit Sorge beobachtet haben. Die Ausweitung des Kreditgeschäfts aber, also fortgesetztes Wachstum des Schuldenbergs, ist erklärtes Geschäftsziel der Ant Group, die allein die Statik ihres Ameisenhaufens anhand geheimer Daten und Berechnungsmodelle zu verstehen beansprucht, und das Risiko auf die Banken abgewälzt hat. Außerdem treibt Ant Kredit- und Geldumlauf auf Hochgeschwindigkeit, dem gegenüber Kontrolle und Steuerung der Zentralbank versagen, was Gefahren für das gesamte Zahlungssystem birgt.

Andererseits wird die Staatsführung den Vorsprung Chinas in der Entwicklung moderner Finanzdienste nicht preisgeben wollen. Ants Strategie ist längst zum Modell geworden, dem das Online-Business international nacheifert. Banken werden weltweit unter Druck kommen und in drastischem Ausmaß Stellen abbauen müssen.

So betreibt Ant, neben dem Geschäft mit Klein- und Konsumentenkrediten, mit My Bank auch das gewöhnliche Bankgeschäft. Im Unterschied zu herkömmlichen Finanzinstituten hat My Bank aber kaum Personal. Binnen weniger Minuten analysiert eine Software auf Basis von bis zu 3000 Variablen einen Kreditantrag und entscheidet über eine Auszahlung. Angeblich belaufen sich die Kosten pro Kredit auf umgerechnet 50 Cent – gegenüber 300 Dollar in traditionellen Geschäftsbanken. Die Ameise nutzt die technisch vorhandenen Potentiale, um Transaktionen, Prüfungen und Käufe so schnell abzuwickeln, wie es durch Menschen gar nicht möglich ist. Solchem Organisationsmodell hinken die rechtlichen und staatlichen Regulierungen hinterher.

Und natürlich gehört zu Ant auch ein Investmentfonds, den der Konzern 2018 für Beteiligungen Dritter öffnete. Im vergangenen Jahr konnte Vanguard gewonnen werden. Gemeinsam mit der Vanguard Group, nach BlackRock zweitgrößter Investmentfonds der Welt mit einem verwalteten Vermögen von fünf Billionen Dollar, will Ant das Geschäft mit Robo Advising in China aufziehen. Robo Adviser legen das Geld automatisiert an, schlauer als jeder Bankberater, so das Versprechen, und natürlich kostengünstiger. Ein Projekt von derart gigantischer Investitionskapazität würde die ökonomischen Lenkungsmöglichkeiten der chinesischen Staatsführung allerdings ernsthaft in Frage stellen.

Soweit wird es wohl nicht kommen. Inzwischen scheint das Eingreifen der Aufsichtsbehörden darauf abzuzielen, die staatlichen Beteiligungen an Ant zu erhöhen und deren Geschäft auf seine Ursprünge als Online-Bezahldienst zu beschränken. Separat soll eine Finanzholding entstehen, die den für Banken geltenden gesetzlichen Bestimmungen unterworfen sein wird. Nicht nur für die chinesische Finanzaufsicht, auch für die deutsche BaFin und die Behörden weltweit wird es darum gehen, sowohl die Organisationsform von Finanzdiensten zu reglementieren, als auch die Fähigkeiten der Kontrolle den beschleunigten Prozessen anzupassen.

Und was sagt der stets medienpräsente Jack Ma dazu? Nichts. Ma blieb drei Monate verschwunden. Im Januar tauchte er schließlich wieder auf: ausgerechnet bei einer Online-Benefizveranstaltung für Dorfschullehrer, womit das Regime, das sonst mit Terror und Lügen nicht geizt, doch einen Sinn für Humor offenbarte.