spezial demokratie & kapitalismus

Ein Nachdenken über Demokratie muss zwei Ereignisse der jüngeren Geschichte ernst nehmen. Am 6. Januar 2021 hetzte der abgewählte US-Präsident seine Anhänger zur Gewalt gegen den Kongress auf, um den Regierungswechsel zu verhindern. Seine Anhänger wurden nicht zurückgeschlagen, sie konnten in das Parlamentsgebäude eindringen und den verfassungsmäßigen Prozess verzögern. Der Versuch scheiterte nicht an ›den Institutionen‹, doch an vielen Menschen in diesen Institutionen, die unabhängig von Parteizugehörigkeit das Prinzip und die Vorschriften für eine friedliche Machtübergabe verteidigten. Joe Biden kam ins Amt. Das zweite Ereignis: Bei der Wahl am 5. November 2024 erreichte Trump, woran er 2021 gescheitert war: Die Fortsetzung der Machtausübung ohne Bremsen.

In einer Situation, in der autoritäre Regime und Diktaturen an vielen Orten der Welt auf dem Vormarsch sind und, weil erfolgreich, zum Vorbild erklärt werden, rückt die Verteidigung der Demokratie ins Zentrum. Dabei bleibt nicht immer Zeit zu fragen, was Demokratie ist. Verteidiger:innen einer Sache neigen dazu, ihre Position zu idealisieren. Wenn hier von der realexistierenden Demokratie die Rede ist, dann geht es um allgemeine und geheime Wahlen, die Parlamentsverantwortlichkeit der Regierung, Gewaltenteilung und Bindung der staatlichen Machtorgane an Gesetze und Verfassung.

Das mag als Inhalt für den Begriff »Demokratie« sehr eng erscheinen, weil zum Beispiel die Frage der Einschränkung der Kommandobefugnisse der Eigentümer, der Demokratie in der Wirtschaft nicht aufgeworfen ist. Parlamentarische Demokratie ist nicht das Gegenteil von Herrschaft, sondern eine Weise, politische Herrschaft zu organisieren. Es ist sinnvoll, über andere Formen der politischen und gesellschaftlichen Mitbestimmung nachzudenken. Die Ressourcen für politische Arbeit – Breite und Systematik der Ausbildung, die Möglichkeit, über die eigene Zeit zu disponieren, Gewöhnung an öffentliches Auftreten, Geld – sind ungleich verteilt, ein Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und ihrer Hierarchien. »Das politische Problem besteht darin, zu erkennen, wie man die Instrumente beherrschen kann, die man zur Beherrschung der Anarchie individueller Strategien und zur Herstellung einer konzertierten Aktion verwenden muss. Wie kann die Gruppe die  von einem Sprecher ausgedrückte Meinung kontrollieren, der in ihrem Namen und zu ihren Gunsten, aber auch an ihrer Stelle spricht?« (Pierre Bourdieu)

Aber in der Frage der großen Politik bilden Wahlen und Parlamente die einzige Form von Demokratie, die real existiert. Sie geben eine Möglichkeit zur Teilnahme an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, zur gewaltfreien Austragung gesellschaftlicher Konflikte. Dazu gehört, dass man seine Ziele vielleicht nicht erreichen, dass man in der Minderheit bleiben oder abgewählt werden kann. Leider haben die Bolschewiki mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918 für Jahrzehnte über die Haltung kommunistischer Parteien entschieden: Sie hatten auch nicht vor, sich abwählen zu lassen.