Zwischen Klimakrise, Aufrüstung und Überakkumulation
Die Weltwirtschaftskrise von 2007/2008 ff. beendete zwar nicht den Neoliberalismus, aber seine bisherige Bewegungsform: die Entfesselung der Märkte. Ein anderer Typus des Kapitalismus, der einen neuen dauerhaften Aufschwung hervorbringt, ist noch nicht gefunden. Überakkumuliertes Kapital sucht nach zusätzlichen Anlagesphären in der Realwirtschaft und treibt sich ersatzweise an den Börsen herum. Springer-Chef Döpfner ruft nach einer Art »neuem Gold« in das zu investieren sich rentiert, bislang umsonst.
2021 hatten Ursula von der Leyen und Joe Biden eine andere Idee: den Green Deal zur Rettung des Klimas. 2022 rief Ulrike Herrmann »Das Ende des Kapitalismus« aus. Untertitel: »Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden«. Als Vorbild wählte sie die britische Kriegswirtschaft nach Churchills Forderung, unter »Blut, Schweiß und Tränen« alle Kräfte gegen Nazi-Deutschland zu mobilisieren. Dort sei die Produktion von Konsumgütern geschrumpft. Heute könnte eine solche Umorientierung gut fürs Klima sein. Was das mit einem Ende des Kapitalismus zu tun haben soll, erschließt sich allerdings nicht. Er endete damals in Großbritannien ja keineswegs, es gab Wachstum: nämlich in der Rüstungsindustrie.
Sorgfältiger formulierte Elmar Altvater den Titel eines Buchs von 2005: »Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen«. Der Komparativsatz verweist auf seine Ansicht, nicht ein Ende, sondern lediglich eine Transformation dieser Produktionsweise könne bevorstehen – Ersetzung fossiler Energiequellen und der Atomkraft durch erneuerbare.
John Maynard Keynes berechnete die Kosten des Kriegs und machte Vorschläge, wie sie aufzubringen seien. Ergebnis war eine Broschüre mit dem Titel »How to pay for the War«.* Auch er ging von der Notwendigkeit aus, weniger Konsumgüter zu produzieren. Dass dies in kapitalistischen Unternehmen erfolgte, war bei ihm vorausgesetzt. Das Arbeitsvolumen schrumpfte im Krieg nicht, es wuchs: Mehr Frauen wurden erwerbstätig und ersetzten Männer, die als Soldaten eingezogen worden waren. Das reichte nicht aus, deshalb wurden die Arbeitszeiten verlängert. Der gestiegenen zahlungskräftigen Nachfrage aufgrund erhöhter Lohnsumme stand ein verknapptes Warenangebot gegenüber. Das hätte Lohnraub bedeutet, den die Gewerkschaften nicht hinnehmen konnten.
Die Idee, dass die Reichen für den Krieg zahlen sollten, war Keynes nicht unsympathisch. Aber die Summe, die dadurch aufgebracht werden konnte, genügte nicht. Gewiss, es gab Riesenvermögen und sehr hohe Einkommen. Aber selbst deren konfiskatorische Besteuerung hätte nur einen Teil der Kriegskosten decken können. Hinzukommen musste ein Preis- und Lohnstopp. Der Teil des Arbeitseinkommens, für den auf dem verengten Konsumgütermarkt kein Angebot bereitlag, sollte durch Zwangssparen öffentlichen Fonds zugeführt und erst nach dem Krieg verzinst ausgezahlt werden. Ihre Verwaltung könne bei unterschiedlichen Stellen liegen, nicht nur staatlichen, sondern auch gewerkschaftlichen.
Die Rechnung bitte …
Keynes stellte detaillierte Berechnungen an über alle finanziellen Ressourcen, die zum Kriegseinsatz genutzt werden konnten, und kam zu dem Schluss, dass die großen Einkommen und Vermögen in höherem Maße herangezogen werden müssten als die kleinen. Das bedeutete eine, wenngleich wohl gelinde, Umverteilung von oben nach unten.
Tatsächlich kam es im Zweiten Weltkrieg zu einem gesellschaftlichen Umbau in Großbritannien. 1940 trat die Labour Party dem Allparteienkabinett Winston Churchills bei. Ihr Arbeitsminister Ernest Bevin beauftragte den Ökonomen William Henry Beveridge mit einer Untersuchung der Sozialsysteme. Der Beveridge-Report von 1942 zeigte den Weg zu einem keynesianischen Wohlfahrtsstaat. Friedrich August von Hayek warnte 1944 davor in seinem Buch »Der Weg zur Knechtschaft« und munitionierte so den Wahlkampf Churchills 1945. Vergebens: Im Jahr seines größten außenpolitischen Triumphs – Sieg im Weltkrieg – unterlag der konservative Premier dem Labour-Führer Clement Attlee.
Diese Erfolgsstory zeigt zugleich, weshalb aus dem Green Deal Joe Bidens und Ursula von der Leyens nichts werden konnte. Es fehlt bei ihnen die Finanzierung durch Umverteilung von oben nach unten. Ergebnis der permanenten Überakkumulation im Neoliberalismus war eine sich ständig vergrößernde Ungleichheit von Arm und Reich. Die »marktkonforme Demokratie« (Angela Merkel) tendiert zur plutokratischen Herrschaft: Befreiung des ganz großen Geldes von gesetzlichen Beschränkungen und sein noch direkterer Zugriff auf die Staatsapparate als bisher.
Spätestens seit 2013 publiziert der französische Ökonom Thomas Piketty detaillierte steuerpolitische Vorschläge, wie die sich immer weiter öffnende Schere zwischen oben und unten geschlossen werden könne. Der Ertrag soll für Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Umweltschutz und direkte Transfers zur Schaffung von Chancengleichheit eingesetzt werden. Der Plan hatte ein großes öffentliches Echo, aber keine Wirkung auf die praktische Regierungspolitik. Sie fügt sich längst den angeblichen Sachzwängen des Neoliberalismus.
… oder lieber noch einen Tee trinken?
Hinzu kommt der Zeitfaktor. Seit dem Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 ging der Zweite Weltkrieg in ein neues Stadium über: Churchill kündigte die Unvermeidlichkeit einer sofortigen Kraftanstrengung an. Keynes rechnete der britischen Bourgeoisie vor, dass sie Zugeständnisse machen müsse. Der Klimawandel heute dagegen erscheint großen Teilen der Volksmassen immer noch nicht als akutes, sondern als ein schleichendes Problem, der Kipppunkt längst nicht erreicht. Das Mauern der ökonomischen Eliten gegen einen sozialökologischen Umbau gelingt deshalb noch. Robert Habecks Heizungsgesetz galt als gegenwärtiges Übel, der Klimakollaps als vielleicht zukünftiges und gar auch noch irgendwann durch technische Innovationen vermeidbar.
Dieser Zustand löste 2011 bei dem Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman einen Wutanfall aus. In einer Fernsehdebatte mit einem obstinaten Neoliberalen rief er: Wenn jetzt eine Falschmeldung über einen unmittelbar bevorstehenden Angriff von Aliens eine Panik auslöse, würden im Handumdrehen die Mittel für dessen Abwehr aufgebracht sein.
Wie später bei Ulrike Herrmann wird hier der Krieg zum ökonomischen Zuchtmeister. Dies mag die Fixigkeit erklären, mit der nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 der Green Deal durch eine Aufrüstungsoffensive ersetzt wurde. Propaganda und Schock erzeugten den Eindruck von Alternativlosigkeit. Steigen die Zumutungen und werden sie mehrere Jahre aufrechterhalten, kann die so zusammengetrommelte Volksgemeinschaft brüchig werden. Ist ein großer Krieg lange genug herbeigeredet, reicht es nicht aus, den Mund zu spitzen, es muss gepfiffen werden.
Es sei denn, es finden sich friedliche Zwänge, um gesellschaftliche Vernunft durchzusetzen. Oder die Aliens kommen doch noch.
Georg Fülberth lebt als Hochschullehrer im Ruhestand in Marbug.
* Dank an Ralf Blendowske für Hinweis auf diese Schrift: Keynes, John Maynard: How to Pay for the War. A Radical Plan for the Chancellor of the Exchequer. London 1940.
