Rechtsentwicklung und Migration in Europa

Es geht hier nicht um Fakten. Betrieben wird eine knallharte rassistische Politik

Nicht nur die deutsche Regierung, die EU droht am Thema Flüchtlinge und Migration zu zerbrechen. Während das britische Ja zum Brexit und das katalanische Ja zur Unabhängigkeit sich aus unterschiedlichen, auch fortschrittlichen Quellen speisen, ist die aktuelle Krise der Europäischen Union ausschließlich ein Produkt rechter, rechtsextremer und rassistischer Strömungen. Sie stellt damit eine große Gefahr für Frieden und Demokratie dar.

Die Zahl der Flüchtlinge und die Größe der Migration sind nicht der Grund für die aktuelle Krise. Hier gibt es seit mehr als 18 Monaten eine deutlich rückläufige Bewegung. Das gilt für Deutschland (siehe Seiten 4/5) ebenso wie für die EU als Ganzes. Die Ankünfte von Flüchtlingen über die Seerouten an den EU-Außengrenzen lagen 2016 um 65 Prozent und 2017 um weitere 54 Prozent unter den jeweiligen Vorjahreswerten. Konkret: Im Zeitraum Januar bis Mai 2018 waren es 32.800. Im gleichen Monatszeitraum 2016 waren es 206.500. Wobei dieser Rückgang in erheblichem Maß Resultat der unmenschlichen Frontex-Politik ist. Wichtig ist hier jedoch festzuhalten: Es geht nicht um objektive Verhältnisse, sondern um knallharte rechte Politik. Diese wird personalisiert mit Markus Söder, Sebastian Kurz und Giuseppe Conte.

Was diese Politik der Rechtsausleger möglich machte, ist das totale Versagen der EU in der Flüchtlingspolitik. Dieses Versagen hat einen Namen: Dublin (I, II und III).[1] Die Dublin-Regelungen der EU besagen verkürzt: Derjenige EU-Staat, in dem ein Flüchtling erstmals den Boden betritt, ist für diesen verantwortlich. Damit wurde die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz auf wenige EU-Randstaaten abgeschoben. Je größer deren Grenzlinien, je weiter sie ins Mittelmeer ragen, ja, je sonniger ihr Gestade und Inseln sind, desto stärker sind sie von der Flüchtlingskrise betroffen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl konstatiert: Mit Dublin motiviere die EU diese Länder, „Flüchtlinge an den Grenzen abzuwehren. Oder sie so schlecht zu behandeln, dass sie in andere EU-Staaten weiter fliehen. Die Folge: Flüchtlinge irren durch Europa und werden wie Stückgut hin und hergeschoben.“ Eine indirekte Folge der Dublin-Vereinbarungen ist die faktische Verweigerung von einem halben Dutzend EU-Staaten, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen und geordnete Asylverfahren durchzuführen – bis hin zu neuen Gesetzen, mit denen – wie nun in Ungarn erfolgt – eine „Beihilfe zur illegalen Migration“ strafbar gemacht und damit Menschenrechtsorganisationen kriminalisiert werden sollen.

Menschen flüchten nicht aus freiem Willen. Schon gar nicht treten Menschen Fluchtwege an, auf denen das eigene und das Leben ihrer Kinder massiv bedroht werden. Es gibt eine Ökonomie der Migration, die im Wesentlichen drei Quellen kennt: Kriege, aufgezwungener Freihandel und Unrechtsregimes mit Verfolgung und Folter.

Kriege, Waffenexporte Die EU ist direkt mitverantwortlich für eine Vielzahl von Kriegen. Warum ist z.B. Libyen heute ein wichtiges Ausgangsland von Migration und zugleich ein Land mit KZ-ähnlichen Gefängnissen für Flüchtlinge? Das militärische Eingreifen des Westens in den Bürgerkrieg 2011 mit massiven Bombardements u.a. durch britische und französische Kampfflugzeuge ist dafür mitverantwortlich. Wobei hier Öl- und Gas-Interessen eine wichtige Rolle spielten: Mit den Bombardements wurde der starke Einfluss von italienischem Kapital in Libyen – vor allem dasjenige des Ölkonzerns ENI – zurückgedrängt; der Einfluss der französischen und britischen Ölkonzerne Total und BP ist seither deutlich erstarkt. Der Ende 2017 gefasste Beschluss von 23 EU-Staaten, darunter Deutschland und Österreich, sich in der gesonderten Militärstruktur PESCO zusammenzuschließen, bedeutet, dass die Rüstungsindustrie ausgebaut, die Rüstungsexporte gesteigert und die militärischen Interventionen dieser PESCO-EU vermehrt werden. Das läuft auf die Schaffung neuer Flüchtlingsströme hinaus.

Erzwungener Freihandel Die EU betreibt seit langer Zeit eine Politik, afrikanischen Ländern bilaterale Freihandelsabkommen aufzuzwingen und sie mit – mit Steuergeldern subventionierten – EU-Agrarüberschüssen zu überschwemmen.[2] Selbst der Versuch einzelner afrikanischer Länder, die zerstörerischen Altkleider-Exporte zu unterbinden und eine eigene Textilindustrie aufzubauen, wird massiv bekämpft (siehe S.24). Die Folgen: Lokale Wirtschaften kollabieren, die Arbeitslosigkeit steigt, die Jugend hat keine Perspektive. Menschen begeben sich auf die Flucht.

Unrechtsregimes Die EU ist politisch eng verbunden mit Staaten, in denen Menschenrechte missachtet, Folter praktiziert und Kriege exportiert werden. Beschränken wir uns auf zwei. Saudi Arabien ist seit vielen Jahren gehätschelter Partner der EU-Staaten. Ungeachtet der Tatsache, dass in dem Land die Scharia gilt, dass Frauenrechte systematisch missachtet, politische Gegner gefoltert werden und Terrororganisationen wie der IS jahrelang finanziert wurden, wird das Land u.a. durch Rüstungsexporte aus Deutschland, Frankreich und Italien massiv hochgerüstet. Saudi Arabien führt gegen den Jemen Krieg, bedroht Katar militärisch und bereitet mutmaßlich einen Krieg gegen den Iran vor. Mit konkreten Exporten und Projekten ermunterten noch im ersten Halbjahr 2018 die Regierungen in Paris und Berlin die saudischen Herrscher in ihrem Tun.[3] Es handelt sich hier erneut um eine Politik, die Hunderttausende neue Flüchtlinge zur Folge haben kann. Sodann wird die Türkei von der EU massiv wirtschaftlich, politisch und durch gewaltige Waffenexporte unterstützt. Der erneute AKP-Wahlsieg und die Errichtung einer kaum verschleierten Diktatur in dem Land wurden auch dadurch ermöglicht, dass u.a. die deutsche Bundeskanzlerin Erdogan mehrmals politisch hofierte und die EU sich weitgehend einer Kritik an den flächendeckenden Menschenrechtsverletzungen in dem Land enthält. Dabei führt die Türkei in den kurdischen Gebieten im eigenen Land und in Nordsyrien Krieg. Das Resultat sind noch mehr Flüchtlinge – übrigens auch aus der Türkei.[4]

Bilanz Die vielfachen Behauptungen in Brüssel und in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsländer, man wolle „Fluchtursachen bekämpfen“, sind heuchlerisch. Das Gegenteil trifft zu. Auf allen drei Gebieten fördert die EU die Fluchtursachen. Im Übrigen ist auch die Debatte über „Wirtschaftsflüchtlinge“ scheinheilig. Es gibt graue und offizielle Wege, sich die EU-Staatsbürgerschaft zu erkaufen. Österreich verlangt für einen EU-Pass zwei bis vier Millionen Euro, die an eine Stiftung zu zahlen sind. In Malta ist ein EU-Pass bereits für 650.000 Euro zu haben. Wobei reiche Wirtschaftsflüchtlinge ebenso kriminell sein oder werden können wie weniger begüterte.

Jetzt lässt sich argumentieren: Das, was hier zu den Fluchtursachen aufgeführt wird, mag ja alles stimmen. Doch heute konkret ist die EU bzw. ist Deutschland mit der „Flut“ an Flüchtlingen „überfordert“. Weswegen die berüchtigten Söder-Kurz-Conte-Maßnahmen ergriffen werden müssten. Das ist verlogen. Allein die gigantischen Gelder, die für die „Grenzsicherungen“ ausgegeben werden, würden ausreichen, um die Geflüchteten menschenwürdig unterzubringen und geordnete Asylverfahren zu gewährleisten. Mehr noch: Mit Grenzschließungen und Rückweisungen von Flüchtlingen an den Grenzen, mit KZ-ähnlichen Lagern am Rande der EU und außerhalb der EU (beispielsweise in Nordafrika; erfreulicherweise hat Albanien ein entsprechendes Ansinnen mit würdiger Begründung abgelehnt) und mit der Verweigerung von Familienzusammenführungen werden das rassistische Klima noch mehr angeheizt und die Rechtsentwicklung in Europa beschleunigt.

Anmerkungen

[1] Das „Dubliner Übereinkommen“ ist ein völkerrechtlicher Vertrag über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem EU-Mitgliedstaat gestellten Asylantrags. Inzwischen wird „nur“ noch verlangt, dass das Erstaufnahmeland eine Registrierung und eine erste Sicherheitsüberprüfung vornimmt. Das Dublin Abkommen trat erstmals 1997 in Kraft. 2003 und 2014 folgten zwei weitere Abkommen. Einerseits heißt es in der Regel, das Dublin Abkommen sei außer Kraft. Andererseits berufen sich vor allem rechte Politiker in Deutschland und Österreich gerne auf „Dublin“, um ihre Abschottungspolitik zu rechtfertigen.

[2] Christa Müller: „Das kurz vor Inkrafttreten stehende Economic Partnership Agreement (EPA) ist Ausdruck allergrößter Rücksichtslosigkeit gegenüber dem bescheidenen Wohlstand regionaler Ökonomien. EPA verpflichtet die afrikanischen Länder, ihre Märkte nahezu vollständig für europäische Importe zu öffnen […] Die EU verfolgt eine Doppelstrategie mit ihrer Erpressung: Sie wird ihre Agrarüberschüsse los, deren Tiefkühlhaltung über den Transportkosten liegt, und erschließt zugleich neue Absatzmärkte […] Während mehr als ein Drittel des gesamten EU-Haushalts in die Subventionierung einer nicht zukunftsfähigen Industrielandwirtschaft fließt, werden anderswo auf dieser Welt lebendige Strukturen zerstört.“ In: Frankfurter Rundschau vom 10. Januar 2016. Siehe auch ausführlich das LP21-Spezial in Heft 40; dort insbesondere Seiten 42ff.

[3] Im März 2018 lieferte die BRD acht Kriegsschiffe („Patrouillenboote“) an Saudi Arabien. Im April weilte der saudische Thronfolger Mohammed bin Salman in Paris und unterzeichnete gemeinsam mit Macron Vereinbarungen über wirtschaftliche und Rüstungszusammenarbeit im Wert von 18 Milliarden US-Dollar.

[4] Unter den Asylantragstellern rangieren Menschen aus der Türkei bereits auf Rang 6 (8000 Erstanträge im Jahr 2017).