Quartalslüge II/MMXVIII: „Die Flüchtlinge wurden zur untragbaren Last“

Die Medien kennen fast nur ein Thema. Das Thema droht die Regierung in Berlin bzw. die Kanzlerin zu Fall zu bringen, weil die CSU die Bayern-Wahlen gewinnen will. Die EU kennt fast nur ein Thema. Das Thema droht die EU zu sprengen, weil die Regierung der wichtigsten EU-Macht in einer politischen Krise steckt, weil die CSU die Bayern-Wahlen gewinnen will. Das Thema ist: Migration; Flüchtlinge. Die Behauptung lautet: Die Last mit den Flüchtlingen wurde untragbar. Die Grenzen müssen dicht gemacht werden. Doch dies ist, wie die Fakten belegen, eine Quartalslüge. Die Zahl der Flüchtlinge ist rückläufig – in der EU; und insbesondere in Deutschland.
Sehen wir uns hierzu die Grafik an. Hier ist zunächst feststellbar: Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Kriegen und der Zahl der Flüchtlinge. Dieser Zusammenhang wurde in einer vorausgegangenen LP21-Quartals-Lüge (in Heft 40) bereits dargestellt, indem wir dort die weltweit registrierten Flüchtlinge in einen Zusammenhang mit den weltweiten Rüstungsexporten brachten. In der hier wiedergegebenen LP21-Grafik werden die Asylanträge in Deutschland mit den im „Hintergrund“ laufenden Kriegen in Verbindung gebracht. Es gab in den letzten knapp 30 Jahren zwei große Migrationswellen. Eine erste fast Zehnjährige im Zeitraum 1990 bis 1999 mit den Spitzenwerten 1991-1993. Diese Periode war geprägt von der (vom Westen wesentlich mit betriebenen) Aufspaltung Jugoslawiens (1990) und den Balkankriegen – mit dem Kosovo-Krieg 1999. In dieser Zeit lagen die Asylanträge pro Jahr jeweils über 130.000. Es gab 1992 den Spitzenwert von knapp 440.000. Die meisten Flüchtlinge kamen damals aus den Balkanländern; teilweise auch bereits aus dem Nahen Osten, wo es 1990/91 den Irak-Krieg gab. Die zweite Welle setzte 2013 ein. 2015 und 2016 gab es die bekannten dramatischen Spitzenwerte mit 476.000 und 745.000 Asylanträgen. Bei dieser Migrationswelle bildeten der Afghanistan-Krieg, der seit 2001 andauert, der ebenfalls andauernde Krieg im Irak und insbesondere der Krieg in Syrien den entscheidenden Hintergrund. Fast 45 Prozent aller Asylanträge, die 2017 in Deutschland gestellt wurden, entfallen auf Geflüchtete aus diesen drei Ländern. Hier wird oft eingewandt, es handle sich bei den Auseinandersetzungen im Irak und in Syrien um „Bürgerkriege“. Das ist nur zu einem Teil zutreffend. In beiden Ländern spielen massive Waffenlieferungen des Westens – in Syrien auch Russlands – eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass in Syrien, im Irak und in der gesamten Nahost-Region der Westen – über Saudi Arabien, die Golfstaaten und die Türkei – ursprünglich den IS aufrüstete, sodass dieser in den Jahren 2014 bis 2016 riesige Gebiete besetzen, eine Schreckensherrschaft errichten und Hunderttausende Menschen in die Flucht treiben konnte.
Ganz offenkundig ist die Zahl der Asylanträge seit 2017 drastisch rückläufig; für 2018 wird ein Wert von unter 200.000 Asylanträgen erwartet – ein Viertel des 2016er Werts und weniger als 40 Prozent des 2015er Werts. Wobei es natürlich zu einer neuen Migrationsschub kommen kann. Beispielsweise aus dem Jemen. Dort wurden die von Riad aus gesteuerten Angriffe auf das Land in den Monaten Mai und Juni 2018 deutlich gesteigert; es droht eine Hungersnot durch die Mitte Juni erfolgte Einnahme und Besetzung der Hafenstadt Hodeidah (Wir berichteten in Lunapark21 Heft 36 über die verschlungenen Pfade, über die der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall mit seinem Werk auf Sardinien die Bomben liefert, die über der jemenitischen Bevölkerung abgeworfen werden).
Doch halten wir fest: Es gibt seit knapp zwei Jahren einen dramatischen Rückgang der in Deutschland registrierten Migration. Es ist auf Basis der konkreten Zahlen in keiner Weise nachvollziehbar, warum das Thema Migration seit Mai zum Politikum wurde. Es sei denn … siehe Seite 6 und 7.
Gänzlich schamrot werden müssten diejenigen, die die „Lasten“, die mit der Migration in Deutschland verbunden sind, als „nicht tragbar“ bezeichnen, wenn sie die internationale Verteilung der Flüchtlinge zur Kenntnis nehmen. In der Tabelle stellten wir neun Länder zusammen, in denen eine sehr große Zahl Geflüchteter lebt. Dabei werden zwei zusätzliche Indikatoren geliefert: erstens der Anteil der Geflüchteten an der gesamten Bevölkerung und zweitens das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner (nach Kaufkraftparitäten, also mit einem Maß, das aussagekräftige Vergleiche gestattet). Bereits beim Indikator Flüchtlinge als Anteil an der gesamten Bevölkerung liegt Deutschland nur auf Rang sieben. In Jordanien liegt dieser Anteil 17 Mal höher. Wobei wir hier von der niedrigsten angenommen Zahl von Flüchtlingen, von 2 Millionen ausgehen (andere Statistiken nennen drei Millionen). Auch im Libanon liegt dieser Anteil extrem hoch – die in diesem Land lebenden Geflüchteten entsprechen einem Anteil von 16 Prozent an der Gesamtzahl der Bevölkerung (von bei 6,2 Millionen Einwohnern). Das ist fünfzehn Mal höher als der entsprechende Anteil in Deutschland. In der Türkei und in Uganda liegt dieser Wert bei 4,3 und 4 Prozent; gut drei Mal höher als in der BRD. Im Sudan liegt er doppelt so hoch. Nur in Bangladesch und in Pakistan liegt dieser Indikator niedriger.
Diese Werte müssen sodann korreliert werden mit dem Reichtum der jeweiligen Länder, viele Geflüchtete beherbergen. Deutschland ist hier das mit Abstand reichste Land mit einem BIP-pro-Kopf von mehr als 50.000 US-Dollar im Jahr. Das Land, das bei diesem Indikator Deutschland am nächsten kommt, ist die Türkei – mit einem halb so großen Pro-Kopf-Einkommen … aber einem doppelt so großen Anteil Geflüchteter. In Jordanien macht das Pro-Kopf-Einkommen ein Viertel des BRD-Werts aus. Im Libanon liegt es bei 36 Prozent des deutschen Niveaus. Ganz dramatisch sieht dann die Lage in den Ländern Uganda, Sudan, Bangladesch und Pakistan aus, deren Bevölkerungen bitter arm sind. Dennoch beherbergen diese Länder riesige Flüchtlingsheere.
Die dreifache Bilanz lautet: (1) Ja, in Deutschland leben viele Geflüchtete; doch die Zahlen von hierzulande ankommenden Flüchtlingen sind massiv rückläufig. (2) Ja, in Deutschland haben die Geflüchteten mit einem 1,2 Prozent-Anteil an der Gesamtbevölkerung inzwischen ein gewisses Gewicht. Doch dieser Anteil ist wesentlich niedriger als der entsprechende Anteil in einer größeren Zahl anderer Länder mit großer Population von Geflüchteten. (3) Vor allem gilt: In Deutschland gibt es die Kombination eines enormen gesamtgesellschaftlichen Reichtums mit einem mittelgroßen Anteil Geflüchteter. Andere Länder mit wesentlich weniger Ressourcen beherbergen deutlich mehr Geflüchtete.