Die ungeschriebene Geschichte des Wirtschaftswunders Schweiz
Phonethisch werden Swiss Made und Swiss Maid gleich ausgesprochen, haben aber eine unterschiedliche Bedeutung. Swiss Made kommt einem Label gleich und steht für Produkte, die in der Schweiz hergestellt werden; sie geniessen ein bestimmtes Ansehen. Maid bedeutet im Englischen sowohl Magd als auch junge Frau. Das Wortspiel Made und Maid inspirierte die Autorin Margrit Zinggeler, ihr vor kurzem erschienenem Buch über die ungeschriebene Geschichte des Wirtschaftswunders Schweiz den Titel «Swiss Maid. The Untold Story of Women’s Contributions to Switzerland’s Success.» zu geben. Mit ihrem Buch schreibt Zinggeler die Komplementärgeschichte zum sogenannten Wirtschaftswunder Schweiz. Sie zeigt auf, dass die Schweiz ohne die Arbeit, den Einsatz der Frauen, deren politische Partizipation in Erziehungs-, Medien-, Gemein- und Ernährungswesen, deren grosse Teilnahme in Gewerkschaften und Frauenverbänden und die Aktivitäten der unzähligen Unternehmerinnen nicht möglich gewesen wäre.
«Den Frauen wurde nicht nur die Zunge, sondern auch die Feder gelöst»
Die Interessensgruppen Frauen und Freischaffende der Gewerkschaft Medien und Kommunikation, syndicom, nahmen die Buchpublikation zum Anlass, die Autorin zu einer Diskussionsveranstaltung einzuladen. Erste Frage an sie: Wie kommt eine Schweizerin, die seit über 35 Jahren in den USA lebt, die Doppelbürgerin ist und an der Universität in Minnesota seit bald 20 Jahren eine Professur für Deutsch innehat, dazu, ein Buch über die ungeschriebene Geschichte des sogenannten Wirtschaftswunders Schweiz zu schreiben?
Die Frage wird von Margrit Zinggeler gründlich beantwortet. Sie habe von einer Studentin das Buch «Swiss Made. The Untold Story Behind Switzerland’s Success» von James Breiding geschenkt bekommen. Mit Interesse habe sie das Buch gelesen und musste dabei feststellen, dass Frauen nicht vorkommen. Im Index seien etwa 500 Männer aufgeführt, aber nur vier Frauen. Und von diesen sind wiederum nur zwei Schweizerinnen. Die eine von den beiden ist Nelly Hedwig Diener (1912 bis 1934). Sie war die erste Flugbegleiterin bei der Swissair; sie verlor bei einem Flugzeugabsturz früh ihr Leben. Die Swissair war auch die erste Fluggesellschaft, die Frauen als Flugbegleiterinnen beschäftigte.
ei der Lektüre habe sie sich immer mehr geärgert, so die Autorin, denn es war eine Geschichte, die von Männern für Männer geschrieben wurde, die vor allem von Schlachten, Kriegen, Verträgen, Allianzen handelt. Dazu gebe es auch genügend verschriftlichtes Quellenmaterial.
Zinggeler nutzte 2016 ihr Sabbatical, um für ihr Buchprojekt in der Schweiz zu recherchieren. Im ersten Kapitel beschreibt sie ihre Suche nach den Frauen in der Schweizer Geschichte. Sie resümiert, dass die meisten Frauen während Jahrhunderten keine Ausbildung gehabt hätten, was dazu führte, dass sie keine Schreibkultur entwickeln konnten, um ihre eigene Geschichte darzustellen. Ab 1971 habe sich das grundlegend geändert. Ab diesem Jahr sei viel an Geschichte über die Stellung der Frauen in der Gesellschaft und ihre Arbeit aufgearbeitet worden.
Für die Schweizer Frauen habe das Jahr 1971 grosse Bedeutung, vergleichbar mit einem Meilenstein in ein neues «Zeitalter». Es ist nicht nur das Jahr, das das Erstarken der autonomen Frauenbewegung nach 68 hervorbrachte, sondern es ist auch das Jahr, in dem den Frauen nach langen Jahren unermüdlicher politischer Arbeit von den Stimmbürgern, den Männern, das Stimm- und Wahlrecht zugestanden wurde. Dazu meint Zinggeler: «Im Jahr 1971 wurde den Frauen nicht nur die Zunge, sondern auch die Feder gelöst.»
Warum steht das Thema Frauen und Religion am Anfang?
Die ungeschriebene Geschichte des sogenannten Wirtschaftswunders Schweiz von Margrit Zinggeler ist in zwölf Kapitel unterteilt. Es geht um Religion, Hauswirtschaft, Mitarbeit in bäuerlichen und handwerklichen Familienbetrieben, Bildung, Frauen und frühe Industrialisierung, Frauen und Armee, Frauenpolitik und Frauen in der Politik, Krankenpflege, Frauen und moderne Dienstleistung, Frauen als Unternehmerinnen und um feministische Ökonomie.
Es liegt geradezu auf der Hand, danach zu fragen, warum die Publikation mit dem Thema Religion beginnt. Dazu meint die Autorin, sie habe ein Buch zur Schweizer Geschichte geschrieben und dabei den Schwerpunkt auf Leben und Wirken der Frauen gelegt. Für die Bildung der Nation und für die politische Entstehung der Demokratie seien die Frauen wichtig gewesen. Die Bedeutung und die kontinuierliche Geschichte der Frauenklöster seit dem zwölften Jahrhundert bis heute, habe sie fasziniert, insbesondere ihr «Geschäftsmodell». Die Frauenklöster hätten es im Lauf der Zeit immer wieder verstanden, sich den Umständen bis heute anzupassen. Wie viele Firmen gibt es, die es schafften, über Jahrhunderten hinweg zu bestehen? Da gilt es hervorzuheben, dass die heutigen Frauenklöster die Zeichen der Zeit erkannt haben. Neben ihrem Klosterleben bieten sie beispielsweise Gästezimmer und bestens ausgerüstete Seminarräume an oder sie haben sich zu Orten der Rehabilitation gewandelt.
Frauenklöster waren damals für viele Frauen neben der Heirat eine Auswegmöglichkeit. Oder aber sie lebten als unverheiratete Frau am Rande der Gesellschaft, die in der Regel für den Familienverband arbeiten musste. Frauenklöster waren auch die ersten Einrichtungen, die Mädchen eine Ausbildung ermöglichten. Zwar wurden im Mittelalter die Mädchen oft zu unterwürfigen Hausfrauen herangezogen. Aber es gingen auch Lehrerinnen und Krankenschwestern aus den Klosterschulen hervor. Es waren die ersten von Frauen ausgeübten Berufe, die im neunzehnten Jahrhundert gesellschaftlich Anerkennung fanden. Bekannt ist auch, dass etliche Krankenschwestern in dieser Zeit Krankenhäuser gründeten.
Aus Berichten wissen wir, dass beispielsweise in Basel im Mittelalter Mädchen als Schreiberinnen ausgebildet wurden. Erwähnt wird dies vor allem im Quellenmaterial zum Konzil in Basel, das 1431 bis 1449 stattfand. Im Zusammenhang mit dem Konzil mussten viele Schriftstücke erstellt werden und da wird erstmals der Beruf der Schreiberin erwähnt.
In der Diskussion erinnert Zinggeler an das Kloster Fraumünster in Zürich, das bis zur Reformation grosse Macht in der Stadt innehatte. So sei die Äbtissin jeweils die stärkste Frau in der Stadt gewesen. In ihrer Funktion war sie zuständig für das Münzrecht und es lag in ihrer Kompetenz, jeweils den Bürgermeister der Stadt zu bestimmen. Im Zuge der Reformation seien etliche Frauenklöster aufgelöst worden. Somit verstummte die Stimme der Frauen in der Öffentlichkeit. Erst mit der Einführung des Frauenstimmrechtes 1971 fanden die Frauen in der Politik wieder zur öffentlichen Stimme zurück.
Übereinstimmend ziehen die Diskussionsteilnehmerinnen den Schluss, dass mit der Reformation einerseits die Kirche erneuert wurde. Dass sie andererseits auch ein Schlag war gegen die Frauen, vor allem in den Frauenklöstern, die den Frauen eine bestimmte Autonomie gewährten. Mit der Auflösung der Frauenklöster verloren sie ihre Machtstellung, ihren Einfluss und ihre Stimme im öffentlichen gesellschaftlichen Raum. Damit wurde die Rolle der Hausmutter und die Trennung zwischen Privatbereich und Öffentlichkeit verstärkt.
Ein zweiter Schlag gegen die Frauen vollzog sich im neunzehnten Jahrhundert mit der der Bildung der Nationalstaaten. Unter anderem erhielten die Männer das Stimmrecht; jede neue Nation schrieb nun rückwirkend ihre Geschichte neu. In der Folge geriet die Geschichte der Frauen der vergangenen Jahrhunderte, wie auch Wirken und Verdienste von bekannten und namhaften Frauen, in Vergessenheit.
«Frauen wirtschaften – Männer erwerben»
Margrit Zinggeler erinnert in der Diskussion daran, dass nicht vergessen werden dürfe, dass Frauen ihre Stärke aus ihrer Rolle in der Hauswirtschaft bezogen. Oft verfügten sie sogar über die Schlüsselgewalt. 1895 sei in der Schweiz als einzigem Land das geschlechtsspezifische Fach Hauswirtschaft als Schulfach und Fortbildung nach der obligatorischen Schulzeit sowie eine Hauswirtschaftslehre mit einem Diplom eingeführt worden. Mädchen aus einfachen Verhältnissen, eben die Swiss Maids, konnten so eine Ausbildung absolvieren. Die Autorin illustriert diese Erkenntnis am Beispiel ihrer Grossmutter, die mit 25 Jahren einen 50-jährigen Junggesellen mit einem heruntergekommenen Bauernhof heiratete. Die Ausbildung in Hauswirtschaft sei ihr bei dieser Heirat zu Gute gekommen. Und es darf nicht vergessen werden, die grosse Arbeit, die Frauen unbezahlt als Hauswirtschafterin an der Seite ihres Ehepartners in bäuerlichen und handwerklichen Betrieben mit Mitarbeitenden am Essenstisch leisteten. Diesen Frauen hat Zinggeler ein ganzes Kapitel in ihrem Buch gewidmet.
Lange Zeit wurden Frauen als Zuarbeiterinnen gesehen. Demzufolge wurden sie auch schlechter ausgebildet. Es waren vor allem dienstleistende Berufe wie Hauswirtschaft, Krankenpflege oder Hauslehrerinnen, die für Frauen zugänglich waren. Es sind aber auch diese Tätigkeiten, die gesellschaftlich wenig Anerkennung fanden. Trotzdem sind es genau diese Tätigkeiten, die für unsere Gesellschaft sehr wichtig sind. Zinggeler beschreibt diese Betätigungen in ihrem Buch als primäre Infrastruktur, denn es sind genau diese Dienstleistungen, die dem wirtschaftlichen Erfolg zu Grunde liegen. Weiter verweist die Autorin auf eine Erklärung in der Präambel der Bundesverfassung: „[…] die Stärke des Volkes wird gemessen am Wohl der Schwachen“ – und wer anders als die Frauen kümmert sich um die Schwachen, die Kinder, die Kranken, die Betagten, die Flüchtlinge?
Die Autorin kritisiert das Bruttosozialprodukt als einen sehr schlechten Index, um das Wohl einer Nation zu messen. Es brauche einen Social Process Index, der die folgenden drei Themen umfasst: Basic Human Needs (grundlegende menschliche Bedürfnisse), Foundations of Wellbeing (Grundlagen des Wohlbefindens) und Opportunity (Chancen). Diese primäre Infrastruktur, wie sie Zinggeler nennt, wird bis heute nicht anerkannt. Es ist zu hoffen, dass bald einmal mit den vorhandenen Berechnungen des statistischen Amtes die gesamte Volkswirtschaftsrechnung um die Kriterien des Social Process Index erweitert werden. Dazu meinte eine Diskussionsteilnehmerin, Pflegeberufe seien die Zukunft. Sie verlangt, dass Arbeit mit Menschen höher zu bezahlen sei, als Arbeit mit Daten.
Die Autorin spricht in ihrem Buch auch von Innovationen, die von Frauen ausgegangen sind. In einem Kapitel geht sie auf die frühe Industrialisierung in der Schweiz und die von Frauen geleistete Arbeit ein. Das beste Beispiel ist die Textilindustrie. Der Frauenanteil unter den Beschäftigten betrug in der Regel mehr als die Hälfte bis zu siebzig Prozent. Folglich ist es ein grosses Verdienst der Textilarbeiterinnen, die diesen Industriezweig zum Blühen brachten. Jede Industrialisierung sei über die Textilindustrie entstanden. Ihr folgten die Farb- und Chemieindustrie wie auch die Eisenbahn, ergänzt eine Diskussionsteilnehmerin.
Zinggeler hält fest, dass die Frauen ebenso viel wie die Männer zur Bruttowertschöpfung beigetragen haben. Nach den Worten von Max Weber seien die Frauen die wirklichen Wirtschafterinnen, die immerwährenden Arbeiterinnen. Die Männer seien Erwerber, sie erwerben einen Job, sie erwerben Einkommen.
Margrit Zinggelers Buch ist ein Lesemuss – nicht nur für die Schweiz.
Zinggeler, Margrit V., 2017: Swiss Maid. The Untold Story of Women’s Contributions to Switzerland’s Success. Peter Lang, New York. Zurzeit nur in Englisch, eine deutsche Übersetzung ist in Planung.
Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig und gehört der Redaktion von Lunapark 21 an. Therese Wüthrich lebt in Bern.
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