Es war einmal ein Kanzlerkandidat Martin Schulz, der das Thema soziale Gerechtigkeit zu seiner Kernbotschaft auserkor. Damit weckte er erfolgreich Hoffnungen auf eine anti-neoliberale Kehrtwende der deutschen Sozialdemokratie. Dass er diese Hoffnungen enttäuschen würde, machte er gleichwohl früh klar. Im Mai des Wahljahrs 2017 legte er in einer wirtschaftspolitischen „Grundsatzrede“ bei der Industrie- und Handelskammer Berlin ein klares Bekenntnis zur deutschen Exportorientierung ab: „Die Kritik an unseren hohen Handelsbilanzüberschüssen halte ich für falsch. Wir müssen uns nicht dafür schämen, erfolgreich zu sein. Unsere Exporte sind das Ergebnis der guten Arbeit, die hier im Lande geleistet wird. Wir sind erfolgreich und wir werden es bleiben.“
Wenn ein Land einen Exportüberschuss aufweist, es also mehr Waren und Dienstleistungen exportiert, als es importiert, dann müssen andere Länder zwingend mehr importieren, als sie exportieren. Schließlich ist der Export des einen Landes stets der Import eines anderen. Auf den ersten Blick erscheint es vorteilhaft, wenn ein Land mehr exportiert, als es importiert: Die hinter dem Überschuss stehende Beschäftigung kann als Export der eigenen Arbeitslosigkeit interpretiert werden. Außerdem müssen sich die Importüberschuss-Länder verschulden, um ihren Importüberschuss zu finanzieren – das Exportüberschuss-Land baut ihnen gegenüber entsprechende Forderungen auf und wird zum Gläubiger. Bei genauerer Betrachtung aber erweist sich diese Vorteilhaftigkeit als Trugschluss: Dauerhafte Exportüberschüsse destabilisieren die Weltwirtschaft und die globalen Handelsbeziehungen. Sie befördern Krisen, die in die Vernichtung der Forderungen gegenüber dem Ausland münden. Vor allem aber werden Exportüberschüsse im Inland teuer erkauft – durch weniger soziale Gerechtigkeit und mehr Ungleichheit.
Um dies zu verstehen, ist ein genauerer Blick in volkswirtschaftliche Zusammenhänge notwendig, als ihn Schulz in Berlin vorgetragen hat. Tatsächlich nämlich beruhen die deutschen Exportüberschüsse nicht auf „guter“ oder „erfolgreicher“ Arbeit, sondern auf einer unzureichenden Binnennachfrage. Denn ein Land mit einem starken Wachstum der Binnennachfrage wird im Regelfall auch seine Importe stark ausweiten. Die Binnennachfrage setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Investitionen der Unternehmen, staatliche Ausgaben und privater Konsum. Wenn etwa der private Konsum aufgrund einer guten Lohnentwicklung boomt, dann stärkt dies die Binnennachfrage und damit auch die Importe.
Deutschland wies allerdings seit den 1990er Jahren eine extrem schwache Entwicklung der Binnennachfrage auf. Dies gilt für alle drei Komponenten: Der Konsum war gehemmt aufgrund einer sehr schwachen Lohnentwicklung und der Zunahme unsicherer Arbeit, die staatliche Nachfrage aufgrund einer massiv gebremsten Entwicklung der Staatsausgaben und der öffentlichen Investitionen. Auch die Unternehmensinvestitionen wiesen eine schwache Entwicklung auf – und zwar nicht trotz, sondern wegen massiver Umverteilung zu Gunsten der Profite.
Der hohe deutsche Exportüberschuss ist folglich Ergebnis einer Strategie, die auf eine hohe Auslandsnachfrage nach deutschen Produkten zielt und die zugleich die Binnennachfrage und damit die Nachfrage nach Importen ausbremst. Eine im Verhältnis zum Ausland schwache Lohnentwicklung dämpft dabei überdies nicht nur die Konsumnachfrage und damit die Nachfrage nach importierten Konsumgütern. Sie verbessert vielmehr auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Im Inland produzierte Waren und Dienstleistungen werden im Verhältnis zu denen des Auslands billiger. Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt in einer Währungsunion (wie dem Euroraum), in der es keine währungspolitischen Möglichkeiten mehr gibt, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.
Eine solche Exportstrategie, wie sie Deutschland seit Jahrzehnten betreibt, ist mit sozialer Gerechtigkeit nicht in Einklang zu bringen. Denn sie geht vor allem auf Kosten der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten: Die Schwächung der Binnennachfrage beruht auf politischen Maßnahmen, die auf niedrigere Löhne, unsichere Arbeit, Sozialabbau, eine Schwächung der Gewerkschaften und auf Umverteilung von unten nach oben zielen. Mit „guter“ oder „erfolgreicher“ Arbeit oder mit guter Wirtschaftspolitik hat all das nichts zu tun.