Nemesis

Roman einer Epidemie

Inzwischen ist es zu spät. Er hat ihn nicht bekommen. Jahrelang hatten Feuilletonisten im Vorfeld der Vergabe des Literatur-Nobelpreises auf Philip Roth gesetzt. Vor vier Jahren, im Mai 2018, ist Roth im Alter von 85 Jahren in New York gestorben.

Schon sein erster Roman „Goodbye, Columbus“, den er 1959 veröffentlichte, war ein Erfolg. 26 weitere folgten. 2010 erschien „Nemesis“. Es war Roths letztes Buch. Danach fehlte ihm die Kraft für eine längere intensive Arbeit.

Mit seinen autobiographisch inspirierten Roman-Zyklen schuf er ein prägnantes Tableau US-amerikanischer Zeitgeschichte. „Nemesis“ ist mit gut 200 Seiten ein schlanker Roman, und wenn er auch ein Bestseller wurde, so kam er vielleicht doch zehn Jahre zu früh heraus.

Die Geschichte, die der Roman erzählt, spielt im Sommer 1944 in Newark, einer 400.000-Einwohner-Stadt unweit von New York City. Es ist ein heißer Sommer und es grassiert Polio, Kinderlähmung.

Im Zentrum der Handlung steht Bucky Cantor, ein 23-jähriger Sportlehrer, der während der Ferienzeit die Kinder seiner Schule, die nicht verreist sind, auf dem Sportplatz betreut. Bucky ist ein hervorragender Athlet, aber extrem kurzsichtig und untauglich für den Wehrdienst. Es belastet ihn, daheim bleiben zu müssen, während seine Kameraden im Krieg stehen.

Um so deutlicher empfindet er die Pflicht, die ihm anvertrauten Kinder zu schützen. Er achtet darauf, dass sie sich nicht überanstrengen, dass sie genügend trinken, sorgt sich um ihre Gesundheit. Doch immer wieder erkranken Kinder und einige sterben.

Polio verursacht Muskellähmungen, ein Impfstoff ist 1944 noch nicht erfunden. Bucky Cantor verliert den Kampf. Schließlich erkrankt er selbst und glaubt sogar, dass er derjenige gewesen sein könnte, von dem die Ansteckungen ausgingen.

Im Jahr 1916 erlebte der Nordosten der USA den schlimmsten Ausbruch von Polio. Danach trat in jedem Sommer in irgendeiner Region der Vereinigten Staaten eine Polioepidemie auf, besonders heftig in den 1940er und 50er Jahren. Erst mit der Entdeckung und Entwicklung von Impfstoff nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich Kinderlähmung eindämmen, und seit 1994 gilt der amerikanische Kontinent als Polio-frei.

Ähnlich verlief die Entwicklung in Deutschland. Mit dem Slogan „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ startete in Westdeutschland in den frühen 1960er Jahren eine Kampagne, Kindern den Impfstoff mit einem Löffel Zucker zu verabreichen – mit Erfolg. Nach nur etwa vier Jahren wurden in der Bundesrepublik weniger als 50 Neuerkrankungen gemeldet.

Die Menschen, besonders die Eltern von Kindern, waren erleichtert. Sie hatten zuvor erlebt, dass die Krankheit jede und jeden treffen und Tod oder lebenslange Behinderung verursachen konnte.

Nicht nur Polio weckte böse Erinnerungen. Diphterie, Keuchhusten, Typhus waren furchtbare Begleiter ihrer Jugend gewesen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts war es normal, einige Spielkameraden oder Mitschülerinnen infolge tödlicher Erkrankungen zu verlieren.

Aber von den Menschen mit solchen Erfahrungen lebt heute kaum noch jemand. Und mit ihrer erfolgreichen Bekämpfung durch Impfstoffe verloren die Krankheiten ihren Schrecken.

Mit „Nemesis“ hat Philip Roth die hohe Gefahr von Erkrankungen wieder ins Bewusstsein der Lesenden gerückt. Einen Nobelpreis aber würde er wohl auch heute nicht bekommen. Wie der Literaturkritiker Ulrich Greiner bemerkte, liebe das schwedische Komitee „Autoren, die etwas zur Verbesserung der Welt beitragen. Philip Roth trägt nur etwas zu ihrer Erkenntnis bei.“