Nur in Europa möglich: kontinentweites Bahnreisen

Ein echtes europäisches Bahnnetz als Alternative zum Fliegen

In Anbetracht der Klimakrise können wir uns zukünftig nur noch einen Bruchteil der heutigen Flugreisen leisten (siehe dazu auch „Flüge statt Züge“ in Lunapark21 56, S. 52/53). Diese wenigen Reisen müssen zudem aus Gerechtigkeitsgründen auf wesentlich mehr Menschen als bisher aufgeteilt werden, da ein großer Teil der Menschheit bis heute noch nie in einem Flugzeug gesessen hat, während ein kleiner Teil aus den reichen Industrieländern massive Emissionen mit teilweise mehreren Flugreisen pro Jahr verursacht. Wenn wir einigermaßen klimafreundlich leben wollen, wird für jede und jeden von uns maximal eine Flugreise im Abstand mehrerer Jahre möglich sein. Diese Flüge machen dann nur für solche Strecken Sinn, die kaum anders zurückgelegt werden können – etwa Transatlantikreisen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir auf Flugreisen innerhalb Europas weitgehend verzichten müssen. Ein solcher Verzicht würde sogar breite Unterstützung finden: Fast zwei Drittel der EU-Bürger gaben in einer Umfrage an, dass sie ein Verbot von Kurzstreckenflügen als Klimaschutzmaßnahme befürworten würden – sogar mit einer sehr großzügigen Definition von „Kurzstrecken“ als solchen mit 12 Stunden Bahnfahrt.1

Ein Teil der Reisen kann im Sinne der notwendigen Abkehr vom Paradigma des Wachstums und des „Immer Mehr-Reisens“ wegfallen. Die Covid-19-Pandemie hat hier in gewisser Weise als Katalysator der Entwicklung gewirkt, weil deutlich geworden ist, dass nicht jede Reise wirklich notwendig ist – und dass ein Verzicht manchmal auch ein Gewinn an Zeit und Lebensqualität sein kann. Viele Besprechungen finden auch europaweit inzwischen per Videokonferenz statt, was noch vor zwei Jahren kaum genutzt wurde und vielen technisch zu schwierig schien. Trotzdem bleibt ein Bedarf nach Reisen durch Europa: Urlaubsreisen, kultureller Austausch und Bildung, Besuche sowie berufliche und politische Treffen wird es auch weiterhin geben. Das geeinte Europa lebt auch davon, dass wir andere Länder und Menschen kennenlernen können.

Das naheliegende klimaschonende Verkehrsmittel für Reisen in Europa ist die Bahn. Europa hat das Glück, dass es – anders als beispielsweise Nord- und Südamerika – ein relativ dichtes und gut ausgebautes Schienennetz hat, auch wenn es hier an vielen Stellen erheblichen Verbesserungsbedarf gibt. Bisher ist das grenzüberschreitende Reisen aber oft beschwerlich, teuer und manchmal fast unmöglich. Das Schienennetz ist vielfach eher für den nationalen als für den internationalen Verkehr ausgebaut, und zu oft gibt es keine durchgehenden grenzüberschreitenden Züge. Die Kombination mehrerer Züge ist jedoch unkomfortabel und mit Wartezeiten und Verspätungsrisiken verbunden. Vor allem zahlreiche Nachtzugverbindungen – darunter klassische Züge wie zwischen Paris und Berlin oder zwischen Amsterdam und Warschau – sind in den letzten Jahren leider weggefallen; von dem früheren Netz internationaler Züge ist nur noch ein Bruchteil übrig.2

Immer wieder werden Visionen eines europaweiten Super-Hochgeschwindigkeitsschienennnetzes mit Geschwindigkeiten von 350 km/h und mehr präsentiert.3 Dagegen sprechen jedoch gewichtige Argumente: Zuerst einmal würde es Jahrzehnte dauern, ein solches Netz zu realisieren, denn es würde letztlich fast auf einen kompletten Neubau hinauslaufen – und diese Zeit haben wir in Anbetracht der akuten Klimakrise nicht mehr. Dazu kommt das Klima selbst als Argument: Da solche Hochgeschwindigkeitsstrecken weitgehend gerade verlaufen müssen, führen sie nicht nur zur Zerstörung von Naturräumen, sondern sind nur mit einer Vielzahl an Brücken und Tunnels möglich, die viel Stahl und Beton im Bau benötigen und damit für eine schlechte Klimabilanz sorgen. Bisher wird diese für den Bau von Bahnstrecken benötigte „graue Energie“ kaum berücksichtigt, sondern es wird selbstverständlich angenommen, dass neue Bahnstrecken immer positiv für das Klima seien – ein Trugschluss. Und auch der Betrieb bei solchen Geschwindigkeiten ist enorm energieaufwändig. Nicht zuletzt kosten solche Neubaustrecken viele Milliarden Euro, die an anderer Stelle – auch für viele notwendige Ausbaumaßnahmen im bestehenden Bahnnetz – sehr viel sinnvoller eingesetzt wären.

Für Strecken bis 1000 Kilometer sind Nachtzüge schon heute eine bequeme und klimaschonende Art des Reisens – ohne die Notwendigkeit von Neubaustrecken. Würde man ihre Geschwindigkeit maßvoll erhöhen und auch bereits existierende Schnellstrecken mit nutzen, wären sogar bis zu 1.600 Kilometer in einer Nacht denkbar. Eine Wieder-Ausweitung des Nachtzugnetzes ist daher eine zwingende Voraussetzung für die Verlagerung des europäischen Verkehrs auf die Schiene. Aber was ist mit noch weiteren Strecken, etwa Reisen von Deutschland nach Spanien, Süditalien, Griechenland oder Nordskandinavien? Auch hier könnte die Bahn zu einer echten Alternative werden, wenn sie auch auf den Fernstrecken als echtes Europa-überspannendes Netz konzipiert wäre: Langlaufende Tages- und Nachtzüge müssten jeweils morgens und abends (mit ausreichend Pufferzeiten) in den Knotenpunkten zusammenlaufen, so wie dies heute ansatzweise in Wien der Fall ist und für Brüssel und Berlin bereits in Studien untersucht wurde. Für die sehr langen Reisen würde man dann zunächst zum ersten Knoten in der richtigen Richtung reisen – und hätte dort die Wahl: Wer es eilig hat, wechselt direkt zwischen dem Tages- und Nachtzug (oder umgekehrt) und kann seine Reise so mit einem Umstieg fortsetzen. Wer eher nach der Philosophie „der Weg ist das Ziel“ reisen möchte, kommt mit dem ersten Nachtzug an, genießt einen Tag in der Stadt und reist am Abend mit dem nächsten Nachtzug dem Ziel entgegen. So kann das entschleunigte und klimaschonende Reisen mit der Bahn zu einem echten Mehrwert gegenüber der Flugreise werden.

An den großen Knotenbahnhöfen könnte man „Fernreise-Lounges“ einrichten, um die Umstiege so angenehm wie möglich zu machen – mit einem Frühstücksangebot und Duschen für die Ankommenden oder Weiterreisenden und Gepäckaufbewahrung für diejenigen, die erst am Abend weiterreisen möchten. Dabei sollten die Fernreisezüge jedoch nicht nur an diesen Knotenbahnhöfen halten, sondern auch viele andere Orte auf der Strecke mit anbinden, um so weitere Umsteigemöglichkeiten in die nationalen Bahnnetze zu schaffen.

Ein solches wahrhaft europäisches Bahnnetz ist zwar noch eine Utopie – aber es wäre innerhalb weniger Jahre umsetzbar. Dass es durchaus einen Bedarf für das entschleunigte, und angenehme Reisen mit dem Zug gibt, zeigen neue Slow-Travel-Zeitschriften wie „Der Passagier“. Im Wettbewerb der Bahnunternehmen, wie ihn die EU bislang propagiert, dürfte die Umsetzung jedoch schwierig werden. Notwendig wäre stattdessen eine Kooperation der Bahnen – warum nicht als großer Zusammenschluss für eine europäische Bahn, die „United Railways of Europe“?

Bernhard Knierim fährt selbst gerne entschleunigt durch Europa und ist auf diese Weise schon bis nach Lappland und nach Katalonien gereist. Mit dem Bündnis Back on Track engagiert er sich für eine bessere Bahn in Europa mit mehr grenzüberschreitenden Zugverbindungen. Das Konzept eines solchen europäischen Fernbahnnetzes soll demnächst im Rahmen eines Projekts ausgearbeitet werden.