Die Atom-Illusion

Riesen Bohei um kleine Reaktoren. Was steckt hinter „Small Modular Reactors“?

„Wir bieten eine Option, um die Welt zu retten“, verspricht Boris Schucht. Der 54-Jährige ist CEO des britisch-deutsch-niederländischen Atomkonzerns Urenco. Das Unternehmen, das im nordrhein-westfälischen Gronau die zweitgrößte Urananreicherungsanlage der Welt betreibt, gehört zu den Marktführern für nukleare Brennstoffe.

Seit einigen Jahren arbeitet Urenco außerdem intensiv an der Entwicklung eines Mini-Reaktors und liegt damit voll im Branchentrend. Kleine Reaktoren sollen die angeschlagene Atomindustrie retten oder – glaubt man den Verheißungen der Atomlobby – das Klima, die Energieversorgung, den Wohlstand, die Menschheit oder eben auch gleich die ganze Welt.

Die kleinen Reaktoren, sogenannte Small Modular Reactors (SMR), haben eine elektrische Leistung von maximal 300 Megawatt. Das entspricht etwa einem Viertel der Leistung eines mittleren AKW. Viele SMR-Konzepte liegen aber deutlich darunter, oftmals nur im ein- oder zweistelligen Megawattbereich.

SMR – so zumindest die Theorie – werden in Fabriken serienmäßig in großer Stückzahl für die kommerzielle Nutzung produziert und in fertigen Einheiten ausgeliefert. Das unterscheidet sie von den bislang entwickelten Mini-Kraftwerken. Denn kleine modulare Reaktoren an sich sind keine neue Erfindung. Sie werden bereits seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts unter anderem als Antriebstechnik für U-Boote oder Eisbrecher eingesetzt.

Ob die Atomindustrie ihre Mini-Meiler allerdings wirklich jemals en masse herstellen wird, ist weder technisch noch ressourcenmäßig geklärt. Sicher ist, dass dies nicht innerhalb der nächsten 15 Jahre geschehen wird. Sicher ist auch, dass bis dahin steuerfinanziert noch viele Milliarden Euro in die SMR-Forschung und -Entwicklung fließen werden – auch aus der EU. Dabei ist die Motivlage mehr als zweifelhaft, denn auch Small Modular Reactors räumen die grundlegenden Probleme der Atomenergie nicht aus.

Sicherheitsfragen ungeklärt

Wenn statt rund 400 großer AKW Tausende kleiner Reaktoren über den gesamten Globus verteilt sind, funktionieren die bisherigen Kontroll- und Überwachungsmechanismen nicht mehr – weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Das betrifft den Schutz vor Unfällen und Terrorangriffen ebenso wie Sicherheitsmaßnahmen gegen den Missbrauch von Atomtechnik für militärische Zwecke oder die Entnahme und Verbreitung von radioaktivem Material zur Herstellung von Atomwaffen (Proliferation). Es ist unklar, wie einzelne Staaten oder auch die Internationale Atomenergiebehörde den Betrieb von SMR sicherheitstechnisch regulieren wollen. Allerdings sind bei kleinen Reaktoren allein schon aus Kostengründen Abstriche in puncto Sicherheit wahrscheinlich. Das könnte insbesondere mit Blick auf Proliferationsrisiken fatale Folgen haben. Zumal viele SMR-Programme höhere Uran-Anreicherungen bei den Brennstoffen anstreben, um die Reaktoren über mehrere Jahre wartungs frei betreiben zu können. Je höher der Anreicherungsgrad, desto geringer ist der technische Aufwand, um waffenfähiges Uran herzustellen.

Mit der Anzahl von Reaktoren steigt unweigerlich auch die Wahrscheinlichkeit schwerer Unfälle. Aufgrund des geringeren radioaktiven Inventars bei niedriger Leistung wären die Auswirkungen zwar weniger schwerwiegend und lokal begrenzt, hätten aber möglicherweise dennoch dauerhafte Konsequenzen für Mensch und Umwelt. Bei den leistungsstärkeren SMR im Bereich von 300 Megawatt ist auch nicht mehr die Rede von geringem radioaktiven Inventar – hier wären die möglichen Folgen eines Unfalls katastrophal.

Das Atommüllproblem bleibt

Auch kleine Reaktoren produzieren Atommüll, der dauerhaft geschützt gelagert werden muss. Das Konzept der tiefengeologischen Lagerung von radioaktiven Abfällen verspricht bislang den besten Schutz. Es garantiert aber nicht, dass die über Jahrtausende hinweg lebensbedrohlichen Stoffe ausreichend lange zurückgehalten werden können. Mit anderen Worten: Atommüll bleibt eine Ewigkeitslast für nachkommende Generationen.

Wenn viele kleine Reaktoren an vielen unterschiedlichen Orten entstehen, stellt sich auch die Frage nach der sicheren Zwischenlagerung der Abfälle. Einige Modelle sind so konzipiert, dass kein Brennstoffwechsel vorgesehen ist, das hätte sicherheitstechnische Vorteile.

Andernfalls wäre eine entsprechende Infrastruktur an den betreffenden Standorten notwendig, was die Kosten in die Höhe treiben würde. Unabhängig von der Zwischenlagerung steht völlig außer Frage, dass sich die Anzahl der Atomtransporte mit der Verbreitung von SMR vervielfachen würde. Auch das hätte massive Auswirkungen für die Sicherheit.

SMR sind keine „Atommüllfresser“

Insbesondere im Rahmen der Diskussion um zukünftige Reaktorlinien taucht in den Medien immer wieder die Behauptung auf, es sei möglich, Atomkraftwerke mit radioaktiven Abfällen zu betreiben und auf diese Weise den Atommüllberg abzubauen. Mit der Realität hat das jedoch wenig zu tun. Es existiert kein Verfahren, das die tiefengeologische Lagerung auch von langlebigen radioaktiven Abfällen erübrigen würde.

Techniken etwa, die Plutonium „erbrüten“ oder abtrennen, um dieses dann weiter als Brennstoff einzusetzen, sind nicht neu. Sie schaffen erhebliche Proliferationsrisiken und Umweltschäden. Das Atommüllproblem aber beseitigen sie nicht. Grundsätzlich gilt: Atomkraftwerke verursachen Atommüll.

Auch SMR hängen am Subventionstropf

Atomkraft ist die teuerste Art der Energie-Erzeugung. Rein ökonomisch betrachtet, sind Investitionen in den Bau von Atomanlagen kompletter Unsinn. AKW-Projekte sind allenfalls attraktiv für Investor:innen, wenn sie staatlich gefördert werden. Kostenmäßig kann die Atomindustrie weder aktuell noch zukünftig mit der Erneuerbaren-Branche mithalten. Ihre Kraftwerke sind sogar um ein Vielfaches teurer als Solar- oder Windkraftanlagen. Das gilt für große Reaktoren und erst recht für kleine, die aufgrund der geringeren Leistung Nachteile hinsichtlich der Produktions- und Betriebskosten aufweisen. Auch die von der Atomindustrie angepeilte Serienproduktion von Mini-Reaktoren würde daran nichts ändern. Das Öko-Institut hat am Beispiel eines geplanten 225 Megawatt Druckwasser-Reaktors der Firma Westinghouse aufgezeigt, dass sich die Produktion im Verhältnis zu einem AKW mit fünffacher Leistung erst ab einer Stückzahl von 3000 rechnen würde. Diese G rößenordnung ist allerdings sowohl produktions- als auch absatztechnisch unvorstellbar. SMR sind selbst gegenüber Atomkraftwerken mit großer Leistung nicht wettbewerbsfähig, von Anlagen erneuerbarer Energie ganz zu schweigen. Fazit: Das Interesse von Staaten an der Entwicklung von Small Modular Reactors lässt sich nicht mit wirtschaftlichen Motiven erklären. Gleichzeitig ist klar, dass der aktuelle SMR-Hype maßgeblich von Subventionen und Fördergeldern getragen ist, mit denen die marode Atomindustrie ihre Wiederbelebung anstrebt.

Fürs Klima zu spät

Die Atomlobby preist ihre kleinen Zukunftsreaktoren auch als Antwort auf die Klimakrise an. Allerdings unterschlägt sie in ihrer Erzählung sämtliche Unsicherheitsfaktoren, allem voran den Zeitaspekt. Denn trotz jahrzehntelanger Forschung und Entwicklungsarbeit sind SMR von der Serienreife weit entfernt. Viele der in den Medien diskutierten Reaktortypen existieren nur auf dem Papier. Tatsächlich neu und innovativ ist keine der Ideen. Es sind alte Konzepte oder Techniken, die wegen sicherheitstechnischer Probleme bereits mehrfach gescheitert sind, wie etwa Hochtemperatur-Reaktoren oder „Schnelle Brüter“. Sollten diese SMR-Linien jemals realisiert werden, läge ihre kommerzielle Nutzung um einige Jahrzehnte in der Zukunft.

Einen deutlichen Entwicklungsvorsprung haben SMR-Modelle, die auf der klassischen Leichtwasser-Reaktortechnik basieren – mit all ihren Problemen. Aber selbst hier ist eine serielle Produktion frühestens ab 2035 denkbar – das Klima müsste solange pausieren.

Ebenso wie große Atomkraftwerke sind auch Mini-AKW kein sinnvoller Beitrag zum Klimaschutz. Die Transformation des Energiesektors muss längst vollzogen sein, bevor neue Reaktoren, egal ob groß oder klein, einsatzbereit wären. SMR werden weder als Backup für Solar- und Windkraft benötigt, noch – wie mitunter vorgeschlagen – als Ersatz für Diesel-Generatoren in entlegenen Gebieten. Erneuerbare Energien, intelligente Netze, Microgrids (dezentrale, kleine Solarmodule für den Hausgebrauch) und Speichertechnologien sind zuverlässiger, schneller und kostengünstiger verfügbar als Atomenergie.

Dennoch pumpen einzelne Länder wie die USA, Russland oder China und Staatenbündnisse wie die EU viele Milliarden Euro in die Erforschung und Entwicklung neuer Reaktorlinien und verkaufen das als Nachhaltigkeits-Offensive. Dieses Geld ist für die Energiewende und somit für den Klimaschutz verloren.

Zivil-militärische Abhängigkeiten

Small Modular Reactors sind weder sicher noch sauber, noch billig. Sie werden weder für die Energieversorgung gebraucht, noch leisten sie einen positiven Beitrag zum Klimaschutz. Vor diesem Hintergrund müssten die beteiligten Regierungen jegliche Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Bereich neue Reaktoren und SMR eigentlich stoppen. Es ist daher völlig klar, dass die gesamte Reaktorforschung inklusive der Bestrebungen im Bereich Mini-Reaktoren andere Interessen verfolgt. Die USA, China, Russland, Großbritannien oder die EU pumpen nicht Millionen und Milliarden in die Nuklearforschung, weil sie sich geirrt haben. Dahinter stecken vor allem militärische und geopolitische Interessen. Es ist kein Zufall, dass einige Unternehmen, die an SMR-Entwicklungen beteiligt sind, gleichzeitig im Rüstungsbereich tätig sind. Rolls Royce etwa stellt Flugzeugturbinen und Schiffsantriebe für den militärischen Bereich her. Das Unternehmen liefert seit Jahrzehnten Minireaktoren für Großbritanniens Atom-U-Boote. Die nukleare Antriebstechnik ermöglicht langes Abtauchen und eine nahezu geräuschlose und somit unentdeckte Fahrt durch die Weltmeere. Es ist wenig überraschend, dass alle sechs Militärmächte, die über Atom-U-Boote verfügen, auch SMR-Programme verfolgen. Wenn Großbritannien das zivile SMR-Programm von Rolls Royce mit 250 Millionen Euro bezuschusst, dient das vor allem der Querfinanzierung zur Entlastung des britischen Verteidigungshaushaltes. Die Atomindustrie und auch die nuklearen Forschungseinrichtungen profitieren ebenfalls. Auch Urencos Mini-Reaktor „U-Battery“ wird von der Britischen Regierung mit zehn Millionen Euro gefördert und soll unter anderem Militärstützpunkte mit Strom versorgen.

Die zivile und die militärische Atomenergie-Nutzung sind nicht voneinander zu trennen. Mit der Förderung der zivilen Atomindustrie halten Atommächte wie Frankreich oder die USA den nuklear-militärischen Sektor am Leben. Der ist abhängig von Forschung, Lehre, Entwicklung und der industriellen Infrastruktur des zivilen Sektors. Umgekehrt ist die Atomin-dustrie ohne den militärischen Bereich und den Griff in die Staatskassen nicht überlebensfähig. Beim russischen Staatskonzern Rosatom sind die zivile und die militärische Atomkraftnutzung gleich in einer Hand. Und auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat die wechselseitige Abhängigkeit 2020 bei einem Besuch in der Atomschmiede von Le Creusot klar benannt: „Ohne zivile Atomkraft keine militärische Atomkraft und ohne militärische Atomkraft keine zivile.“

Angela Wolff lebt in Flensburg und schreibt regelmäßig Artikel zu energiepolitischen Themen. Sie war Campaignerin bei der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt und arbeitet aktuell als Referentin für Atompolitik beim BUND in Berlin.