Nicaragua:

Das traurige Ende der Sandinistischen Revolution

Das politische Experiment, das am 19. Juli 1979 mit der Eroberung der Macht der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN begann, wurde nach einer völlig manipulierten Wahlfarce und der erneuten Übernahme der Präsidentschaft durch Daniel Ortega am 10. Januar 2022 unwiderruflich zu Grabe getragen. Der gesellschaftliche Aufbruch der 1980er Jahre, der als Sandinistische Revolution in die Geschichte einging, sollte den sozialen Wandel, politische Freiheit und Christentum miteinander verschmelzen. Er wurde mehrheitlich von einer enthusiastischen Bevölkerung getragen und erwarb weltweite Unterstützung bis weit in das liberale Lager hinein. Von einer ganzen politischen Generation der Linken wurde diese Revolution als Modell für kommende Emanzipationsprozesse angesehen. Davon ist nichts mehr übriggeblieben. Ortega und seine Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo haben das Land in ein großes Gefängnis verwandelt. Es herrschen Angst und Schrecken. Anfang Februar d ieses Jahres begannen Scheinprozesse gegen eine Reihe von politischen Häftlingen. Die ersten von ihnen wurden wegen friedlicher oppositioneller Meinungsäußerungen zu Gefängnisstrafen zwischen 8 und 15 Jahren verurteilt. Der ehemalige Guerillakommandant der FSLN Hugo Torres ist am 12. Februar 2022 im Gefängnis verstorben. Ortega kann seine Herrschaft nur noch mittels seiner Kontrolle über das Militär, die Polizei und die ihm treu ergebenen Paramilitärs aufrechterhalten.

Wahlen ohne Wahl

Im August 2021 hat der von Ortega besetzte Oberste Wahlrat auch noch die letzte legale Oppositionspartei Ciudadanos por la Libertad (Bürger für die Freiheit) illegalisiert. Sieben potentielle Kandidaten für die Präsidentschaft wurden verhaftet oder unter Hausarrest gestellt und von einer Kandidatur ausgeschlossen. Über 30 weitere Repräsentanten der politisch und sozial breit gefächerten Opposition wurden ebenfalls in den Knast gesteckt. Ihnen allen wurde unter dem Vorwand von absurden Beschuldigungen wie Geldwäsche, Landesverrat oder Terrorismus, nicht nur ihre Freiheit genommen sondern sie wurden auch von jeglicher Teilnahme am politischen Geschehen Nicaraguas ausgeschlossen.

Das Regime rühmt sich, pluralistische Wahlen durchgeführt zu haben, an denen sich insgesamt 15 verschiedenen Parteien beteiligten. Aber acht von ihnen haben auf einer gemeinsamen Liste mit der FSLN kandidiert. Sie sind völlig unbekannt, sie haben vor der Wahl keinerlei Rolle gespielt, sie werden auch nach den Wahlen keine Rolle spielen, sie haben kein eigenes Programm und sie bestehen meistens lediglich aus ihrem Vorsitzenden und einigen seiner Familienmitglieder oder engsten Freunde. Die übrigen sechs Parteien werden offiziell gerne als Oppositionsparteien dargestellt. Sie besitzen jedoch enge Verbindungen zum Regime, ihre Mitglieder bekleiden vielfach hohe Positionen im Staatsapparat. Sie werden im Volksmund auch Zancudos (Moskitos) genannt, weil sie sich – mit der Unterstützung der FSLN – wie Blutsauger an den öffentlichen Geldern bereichern. Auch diese Parteien haben keine eigenen Programme und auch deren Kandidaten sind weitgehend unbekannt. Ihre einzige Existenzberechtigung beziehen sie daraus, dass der Orteguismus sie international als Beweis für den angeblich bestehenden politischen Pluralismus im Lande vorzeigen kann und dass sie dafür mit einigen gut bezahlen Posten oder anderen Pfründen belohnt werden.

Wo auch immer man das Kreuz auf dem Wahlzettel machte, man hatte nur die Wahl zwischen Orteguismus und Orteguismus. Eine Wahl ohne Wahl. Allein schon deswegen gibt es keinen Grund, deren Ergebnis als legitimen Ausdruck des Willens des nicaraguanischen Volkes anzuerkennen.

Massive Wahlfälschung

Offiziell wurde das Ergebnis der Abstimmung – von Wahlen konnte unter diesen Bedingungen nicht die Rede sein – mit einer Beteiligung von 65,26 Prozent und einem Ergebnis von 75,87 Prozent für die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) angegeben. Dies ist jedoch völlig unglaubwürdig.

Die unabhängige Organisation Urnas Abiertas (Offene Wahlurnen) hatte in allen Departamenten des Landes eine stille Wahlbeobachtung durchgeführt und kam dabei zu dem Ergebnis, dass über 80 Prozent der Wahlberechtigen sich nicht an dieser Abstimmung beteiligt hatten.

Selbst das Staatsfernsehen konnte keine längeren Schlagen an den Wahlurnen zeigen. An Stelle von international anerkannten Wahlbeobachtern nahmen lediglich von der Regierung eingeladene internationale Wahlbegleiter – ausdrücklich keine Beobachter – an diesem Prozess teil. Diese erklärten später die leeren Wahllokale mit der guten Organisierung der Abstimmung, wodurch es – im Gegensatz zu vorherigen Wahlen und auch im Gegensatz zu Wahlen in anderen lateinamerikanischen Ländern – zu keinerlei Schlangenbildung gekommen sei. In den Berichten dieser Begleiter war nichts zu lesen, was nicht vorher schon auf den Propagandaseiten der Regierung veröffentlicht worden wäre. Sogar deren Wortwahl deckte sich häufig mit derjenigen der offiziellen Staatsorgane. Von all den in diesem Artikel genannten Problemen ist in deren Berichten auch nichts zu finden.

International sind die Ergebnisse der Wahlen vom 7. November weitgehend als nicht legitim bewertet worden. Auch in der lateinamerikanischen Linken mehren sich die Stimmen, die das Regime Ortega-Murillo als undemokratisch kritisieren, so beispielsweise die ehemaligen Präsidenten José Mujica (ex-Tupamaro) von Uruguay und Lula (ehemaliger Gewerkschaftsführer) von Brasilien, der gerade neu gewählte Präsident Chiles Gabriel Boric (ehemaliger Anführer der Studentenbewegung und sozialer Proteste) und andere mehr. Plattformen wie das Nicaragua-Forum Heidelberg oder amerika21, die das Regime Ortega lange kritiklos unterstützt hatten, veröffentlichen inzwischen auch kritische Kommentare zu Nicaragua. Dennoch gibt es immer noch Nischen der Linken, wie etwa die DKP oder die junge Welt, die unreflektierte Jubelberichte über die Wahlen verbreiten. Insgesamt ist das Regime Ortega aktuell jedoch so isoliert wie noch niemals zuvor.

Ortegas Wutausbruch

Am Tag nach der Wahl war ein Ortega zu erleben, wie man ihn noch nicht gesehen hat. Er hielt vor handverlesenem Publikum eine Rede, in der er die politischen Gefangenen als Vaterlandsverräter und als hijos de perra (Hundesöhne) bezeichnete. Er sprach ihnen damit nicht nur das Recht auf ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft ab, sondern sogar ihre Qualität als Menschen. Es war eine wütende Rede, eine Rede ohne Kontrolle, die Rede eines Verlierers. Er zeigte, dass er mit seinem gefälschten Wahlergebnis von fast 76 Prozent keineswegs glücklich war. Um sich selber und auch den anderen zu zeigen, wie beliebt er trotzdem ist, begrüßte er nach seinem Wutausbruch diverse geladene Gäste mit Handschlag und ließ sich von ihnen feiern. Besonders herzlich umarmte er den Musiker, der das ungewollt hintersinnige Lied „Daniel bleibt, auch wenn es schmerzt“ intoniert hatte.

Vor dem Wahltag waren alle öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen verboten. Die kandidierenden Parteien sollten sich auf virtuelle Aktivitäten übers Internet beschränken. Es gab keinerlei Wahlplakate, keine Transparente, keine Parolen auf den großen Werbeflächen an den Straßen, keine Fahnen, keine Bilder der Kandidierenden, keine Lautsprecherwagen, keine Autokaravanen … nichts, was hätte darauf hindeuten können, dass in Nicaragua gerade Wahlkampf herrschte. Trotzdem bekamen die teilnehmenden Parteien insgesamt 23,4 Millionen Dollar als Erstattung für ihre „Wahlkampfkosten“ ausgeschüttet. 17,4 Millionen davon bekam die FSLN und die restlichen 6 Millionen wurden an die übrigen Parteien als Dank für ihre Beteiligung an dieser Farce verteilt.

Legalisierung der Repression

Zum Zeitpunkt der Abstimmung gab es über 150 politische Gefangene. Viele von ihnen sind Opfer der von 48 Stunden auf 90 Tage verlängerten Untersuchungshaft, eine Frist die inzwischen auch schon weit überschritten ist. Häufig wird ihnen der Kontakt zu ihren Rechtsanwälten und Familienangehörigen verwehrt. Über 100.000 Personen mussten auf Grund von politischer Bedrohung oder auch direkter Verfolgung ins Exil fliehen. Es gibt keinerlei Ermittlungsverfahren, um die Umstände der über 300 Todesopfer der staatlichen Repression vom April 2018 und danach aufzuklären und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Jegliche kritische öffentliche Meinungsäußerung, selbst das Hochhalten der nicaraguanischen Nationalfahne am Straßenrand oder in Einkaufszentren, wird sofort von der normalen Polizei und von den Aufstandsbekämpfungseinheiten unterdrückt. 
55 Organisationen der Zivilgesellschaft wurden illegalisiert und ihre Besitztümer beschlagnahmt, darunter auch Organisationen der Gesundheitsversorgung, des Naturschutzes und des Schutzes der Menschenrechte.

Seit September 2020 hat das Regime Ortega vier Gesetze beschlossen, um die Opposition mit legalen Mitteln mundtot machen. Das Gesetz der ausländischen Agenten verpflichtet alle Vereinigungen, dem Staat gegenüber offenzulegen, mit welchen internationalen Institutionen sie zusammenarbeiten. Alle in Vereinigungen mit internationaler Zusammenarbeit Tätigen verlieren automatisch ihr passives Wahlrecht. Das Gesetz zu Cyberdelikten stellt alle regierungskritischen Äußerungen, die öffentlich oder privat in irgendeinem Medium oder auf irgendeiner Plattform des Internets verbreitet werden, unter Strafe von einem bis zehn Jahren Gefängnis. In dem Gesetz gegen den Hass wird jegliche Kritik an der Regierung als Verbreitung von Hass behandelt und mit einer Höchststrafe von lebenslanger Haft bedroht. Hierfür wurde sogar die Verfassung geändert, weil die Höchststrafe vorher auf 30 Jahre Gefängnis begrenzt war. Schließlich wurde im Souveränitätsgesetz fest gelegt, dass alle Personen, die eine Einmischung von außen befürworten oder Sanktionen gegen Nicaragua oder nicaraguanische Staatsbürger fordern, als Vaterlandsverräter bezeichnet werden und dadurch automatisch das Recht verlieren, für irgendwelche öffentlichen Ämter zu kandidieren.

Die Opposition hat in ihrer gesamten Breite immer den zivilen Widerstand gegen die Diktatur propagiert und auch eingehalten. Dennoch bezeichnet die Regierung Ortega-Murillo den zivilen Protest gegen ihr Regime als Terrorismus und als von außen gesteuerten Putschversuch. Dieses gesamte Gesetzespaket ist der Versuch, eine Legitimation für die völlig willkürliche staatliche Repression zu konstruieren und jegliche oppositionelle Beteiligung am öffentlichen Leben und besonders an den Wahlen auszuschließen.

Souveränität und Menschenrechte

Die Apologeten des Orteguismus verweisen darauf, dass jeder Staat das Recht besitze, die inneren Verhältnisse des Landes nach seinen eigenen Vorstellungen zu regeln. Dieses aus dem Westfälischen Frieden von 1648 hervorgegangene Souveränitätsprinzip wurde jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Verpflichtung der Regierungen ergänzt, die Menschenrechte zu respektieren. Die Erfahrung des Hitler-Faschismus führte dazu, dass die Menschenrechte zu einem Kernbestandteil des nationalen und internationalen Rechts wurden. Keine Regierung hat ein Recht darauf, die Menschenrechte im eigenen Land zu verletzen und die eigene Bevölkerung zu unterdrücken. Daher sind die Menschenrechte auch zu einem integralen Bestandteil vieler nach 1945 geschriebener Verfassungen geworden.

Durch die Verfassung des Landes ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Nicaragua zu unmittelbar geltendem Recht geworden. Dennoch gibt es kaum einen Artikel dieser Erklärung, der in Nicaragua nicht massiv verletzt wird.

Angst beherrscht das Land

In Nicaragua herrscht Angst. Angst vor den Nachbarn, vor den Gästen am Nachbartisch im Restaurant, vor den Vorgesetzten, vor den Mitfahrenden im Bus oder im Taxi, davor, auf einer der Schwarzen Listen der FSLN zu landen, und sogar Angst, im Familienkreis das Falsche zu sagen. Viele Familien fallen auseinander oder können sich nur noch dadurch zusammenhalten, dass in ihnen nicht mehr über Politik gesprochen wird. Abertausende verlassen das Land und suchen in Costa Rica, in Panamá oder in den USA, einige sogar in Europa, ihr Glück. Viele Häuser stehen leer und werden zur Miete oder auch zum Verkauf angeboten.

Manchen Personen wird jedoch auch der Pass abgenommen, und sie werden an ihrer Ausreise gehindert. Anderen, die eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzen, wird ihre nicaraguanische Staatsbürgerschaft entzogen, und sie werden ins Ausland abgeschoben. Auch die ausländischen Kräfte, die einst nach Nicaragua gegangen sind, um die Sandinistische Revolution zu unterstützen und beim Aufbau des Landes zu helfen, geraten immer stärker unter Druck. Sie werden ständig kontrolliert und schikaniert, ihre Projekte werden von der orteguistischen Bürokratie zusehends zum Scheitern gebracht. Sie müssen sich monatlich bei der Ausländerbehörde melden und dürfen sich in keiner Weise politisch äußern. Bei Zuwiderhandlung wird ihnen offen mit der Ausweisung gedroht.

Bei den demokratischen Wahlen von 1984 und 1990 legte die damals regierende FSLN großen Wert darauf, dass möglichst alle politischen Parteien sich an ihnen beteiligen und dass eine möglichst breit angelegte internationale Wahlbeobachtung deren Korrektheit bestätigen kann. Bei der Wahlfarce vom November 2021 hat die FSLN keine einzige oppositionelle Partei mehr zugelassen. Eine unabhängige nationale oder internationale Beobachtung wurde verboten. Die bereits erwähnten eingeladenen Wahlbegleiter aus verschiedenen Ländern lieferten die von ihnen erwarteten Lobeshymnen ab. Ortega und die FSLN standen in den 1980er Jahren – trotz einiger politischer Defizite – für Freiheit und Demokratie. Heutzutage sind sie – trotz einiger sozialer Verbesserungen – nur noch Ausdruck einer brutalen Familiendiktatur.

Matthias Schindler ist seit 1979 in der Nicaragua Solidarität aktiv und besuchte Nicaragua regelmäßig, das letzte Mal im Oktober-November 2021. Er ist Autor des 2019 erschienenen Buches „Vom Triumph der Sandinisten zum demokratischen Aufstand: Nicaragua 1979 – 2019“ und des Essays Abschied von Nicaragua (https://infobuero-nicaragua.org/2022/02/abschied-von-nicaragua-ein-beitrag-von-matthias-schindler)


Die „Wahlen“ vom 7. November

Ich war einer der wenigen unabhängigen Beobachter, denen es gelungen ist, zum Wahltag nach Nicaragua einzureisen. Vielen anderen Journalisten und Menschenrechtlern wurde die Einreise verweigert, darunter auch Ralf Leonhard von der taz.

Am 7. November waren die Straßen in weiten Teilen des Landes wie leergefegt. Bei meinem morgendlichen Frühsport sah ich ungewöhnlich wenig Menschen auf den Straßen, obwohl die FSLN ihre Anhängerschaft dazu aufgefordert hatte, bereits morgens um sieben Uhr in die Wahlzentren zu gehen. Viele meiner Kontakte aus verschiedenen Städten bestätigten dieses Bild. Die Fenster und Türen der meisten Häuser waren verschlossen, niemand ging hinein oder kam heraus.

Der Bericht von Urnas Abiertas, dass über 80 Prozent der Wahlberechtigten diesen Wahlen ferngeblieben sind, deckt sich mit meinen Beobachtungen. Allen, die teilgenommen hatten, wurde der rechte Daumen mit einer nicht abwaschbaren Farbe markiert. An den folgenden Tagen schaute ich den Menschen auf der Straße, auf den Märkten, in den Restaurants und sonst wo auf die Hände und konnte nur etwa bei jeder zehnten Person eine solche Einfärbung erkennen.

Nachdem nur drei Monate vor dem Wahltermin auch noch die letzte legale Oppositionspartei verboten worden war, hatte sich immer mehr die Parole „¡Quédate en casa!“ („Bleib zu Hause!“) verbreitet. Und so ist es dann auch gekommen. Die Menschen blieben massenweise einfach zu Hause. Dabei wurden alle öffentlich Beschäftigten sogar dazu gezwungen, an der Abstimmung teilzunehmen, um nicht ihren Arbeitsplatz zu riskieren. Häufig wurde von ihnen außerdem verlangt, ihren Vorgesetzten ein Selfie im Wahllokal zu präsentieren, um ihre Teilnahme an der Wahl nachzuweisen. Ich habe mit mehreren Betroffenen gesprochen, die dies entweder selbst oder in ihrer Familie so erlebt haben.