Vom schweizerischen Vorzeigemodell der Altersvorsorge zu Renten im Sinkflug
Das schweizerische Drei-Säulen-Modell in der Altersvorsorge kann 2022 auf eine 50-jährige Geschichte zurückblicken. Vor einem halben Jahrhundert sprachen sich drei Viertel der Stimmbevölkerung für die Einführung dieses Modells aus, das auf der Alters- und Hinterbliebenenversicherung, AHV (obligatorische Versicherung nach dem Umlageverfahren), betrieblichen Pensionskassen und freiwilliger Eigenvorsorge fußt. Ein Modell, das jahrelang auch international eine Vorzeigerolle in der Altersvorsorge eingenommen hat. Nun ist dieses Modell nach 50 Jahren heftigeren Angriffen ausgesetzt als je zuvor.
Die Renten im Sinkflug
Die Neurentenstatistik des Bundesamtes für Statistik brachte es Mitte Januar 2022 an den Tag: Die Renten sinken – mittlere Renten der Pensionskassen seit 2015 um 135 Franken monatlich. Das sind 7,5 Prozentpunkte. Finanziell gehe es den Pensionskassen besser als nur gut, meint Gabriela Medici vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. Dank den Aktien konnten die Kassen richtig Kohle schaufeln; und konnten dabei im letzten Jahr im Durchschnitt acht Prozent Rendite erzielen. Kurz und (nicht) gut: Die Kassen rentieren und die Renten sinken. Und eine weitere feststellbare Entwicklung: die mittlere AHV-Rente liegt rund 100 Franken höher als jene der Pensionskasse, der zweiten Säule. Das gab es bisher noch nie.
Die Rentensituation von Frauen
Mit einer AHV-Rente von derzeit zwischen 1195 Franken (Minimalrente) und 2390 Franken (Maximalrente), für Ehepaare 3585 Franken (Maximalrente) kann nicht von existenzsichernden AHV-Renten geredet werden, wie in der Bundesverfassung festgeschrieben.
Die AHV ist für gut 26 Prozent der Rentnerinnen, die Haupteinnahmequelle im Alter inklusive Ergänzungsleistung und Hilflosenentschädigung. 2019 betrug die durchschnittliche AHV-Rente für Frauen 1875 Franken. Das heisst also nichts anderes, als dass nach dem aktuellen System der Altersvorsorge für gut ein Viertel aller Rentnerinnen nach ihrer Pensionierung lediglich eine AHV-Rente unter 2000 Franken üblich ist.
Mit der Einführung der Gutschriften für Betreuung von Kindern und pflegebedürftiger Angehöriger sowie des Rentensplittings innerhalb der Ehe im Jahr1997 hat sich die Rentensituation für viele Frauen in der AHV verbessert. Die durchschnittliche AHV-Rente zwischen Männern und Frauen ist ungefähr gleich, das heisst, es gibt kaum mehr eine Rentendifferenz zwischen den Geschlechtern. Somit findet mit dem AHV-System die unbezahlte Sorge- und Versorgungsarbeit der Frauen Anerkennung und wird in die Rentenberechnung mitberücksichtigt.
Allerdings ist der grosse Rentenunterschied zwischen Frauen und Männern in der Pensionskasse angelegt: Die Medianrente aus der zweiten Säule ist für Frauen knapp halb so hoch wie diejenige der Männer. Die mittlere Pensionskassenrente der Frauen, die 2019 pensioniert wurden, betrug monatlich 1160 Franken, bei den Männern 2144 Franken. Knapp 40 Prozent aller Rentnerinnen erhalten eine Rente aus AHV und Pensionskasse; eine mittlere Altersrente aus AHV und Pensionskasse liegt für Frauen um die 2900 Franken im Monat. Insgesamt verfügen Frauen über ein Drittel weniger Rente als Männer – das sind fast 20.000 Franken weniger Renteneinkommen pro Jahr und Rentnerin. Niedrige Renten führen dazu, dass bei Renteneintritt eine von zehn Frauen Ergänzungsleistungen beantragen muss. Im Jahr 2019 waren insgesamt 140‘000 Frauen – und nur halb so viele Männer – auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Altersvorsorge nach dem Solidarprinzip
Wie keine andere Sozialversicherung geniesst die AHV seit ihrer Einführung nach dem Zweiten Weltkrieg hohes Ansehen in der schweizer Bevölkerung. Das Umlageverfahren der AHV ist ein Sozialversicherungssystem, das aktuell von gut 70 Prozent durch Prämienbeiträge (Lohnprozente) von Erwerbstätigen und Arbeitgeberschaft finanziert wird und zu 27 Prozent vom Bund (Mehrwert- und Spielbankensteuern). Die Prämienbeiträge werden als Altersrenten an Menschen nach der Pensionierung weitergegeben, im Unterschied zu den Erträgen und den Investitionen der Pensionskassen, welche von den Gewinnerträgen und Spekulationsgewinnen abhängig sind. Die AHV beruht auf dem Prinzip der Generationensolidarität. Sie AHV basiert nicht auf individuellem Sparen, sondern auf dem Umlageverfahren: Jeder Sozialaufwand wird immer aus dem erwirtschafteten Volkseinkommen einer laufenden Zeitspanne gedeckt. Allerdings unterliegt dieser Vereinbarung die Annahme, dass das erwirtschaftete Vol kseinkommen unabhängig davon sei, was beispielsweise an Betreuungsarbeit bezahlt wird. Es gilt zu beachten, dass Frauen, vor allem junge zu Hause und ältere als Großmütter mit sehr viel unbezahlter Arbeit überproportional dazu beitragen, dass Kinder aufwachsen können. In Schweden wird beispielsweise sehr viel mehr Care-Arbeit für Kinder und für Kranke bezahlt; demnach stünde mehr Volkseinkommen zur Bezahlung der AHV zur Verfügung. Aus feministischer Sicht müssen solche Aspekte im solidarischen Gesellschaftsvertrag mit einbezogen werden.
50 Jahre nach Einführung des Drei-Säulen-Modells steht die Altersvorsorge vor entscheidender Weichenstellung. Für Frauen und Männer mit niedrigen und mittleren Einkommen – und entsprechend geringeren Pensionskassenguthaben müssen die Renten verbessert werden. Das heisst, die AHV-Renten müssen gestärkt werden und den Verfassungsauftrag nach existenzsichernder erster Säule muss eingefordert werden. In den Gewerkschaften wird heute von Minimallöhnen von 4000 bis 4200 Franken geredet. Also müsste die Minimalrente in der AHV für eine Person in dieser Größenordnung angesetzt werden. In diese Richtung muss die Diskussion gehen, um die reale Problematik der ungenügenden Renten anzupacken.
Vor 50 Jahren reichten Gewerkschaften, Sozialdemokratische Partei und die Partei der Arbeit Volksinitiativen ein, welche die Leistungen der Altersvorsorge grundsätzlich verbessern sollten. Im Sinne, dass nach der Pensionierung eine Altersrente bezogen werden kann, die ein würdiges Leben im Alter garantiert. Der politische Druck dieser Initiativen war groß, so dass der Bundesrat ein Drei-Säulen-Modell als Gegenvorschlag ausarbeitete. Darin enthalten waren nicht nur existenzsichernde AHV-Renten (BV, Art. 112, erste Säule) nach dem Umlageverfahren, sondern auch die Pensionskassen (zweite Säule) mit klaren Leistungsgarantien, die die Weiterführung der bisherigen Lebensweise ermöglichen soll. Aus heutiger Sicht schon fast vergessen: Die Leistungen waren als Prozentsatz des letzten Gehaltes festgelegt (Leistungsprimat) und nicht der heutigen Lotterie der Finanzmärkte ausgesetzt. Der Stimmbevölkerung wurde damals versprochen, dass eine solidarische Rentenerhð 6hung für jene Personen vorzusehen sei, die kein hohes Guthaben ansparen konnten – um die Generationengerechtigkeit der Vorlage zu sichern. Auch ein solidarisch finanzierter Teuerungsausgleich der Renten aus der zweiten Säule wurde den Stimmberechtigten damals versprochen. Tatsächlich wurde in den 70er-Jahren ein Teil dieser Zusicherungen realisiert. Insbesondere wurden aber die die AHV-Renten vom Parlament einstimmig verdoppelt. Andere Versprechen von damals wurden bis heute nicht eingelöst. In einem zehnjährigen Verzögerungsprozess durch das Parlament wurde die Vorlage der zweiten Säule vollständig umgekrempelt. Fortschrittlich denkende Gewerkschaftsgenoss:innen mussten feststellen, dass dieses Gesetz nicht zum Wohle von Arbeitnehmern und vor allem auch nicht von Frauen ist.
Die dritte Säule wurde für die Selbstvorsorge der einzelnen Einwohnenden geschaffen. Sie ist freiwillig und individuell. Es werden lediglich über die Fiskalgesetzgebung Anreize für zusätzliche Vorsorge geschaffen. Gemäss Verfassung soll sie von Bund und Kantonen insbesondere durch Maßnahmen der Fiskal- und Eigentumspolitik gefördert werden. Kurz, bei der dritten Säule geht es um gesetzlich geregeltes privilegiertes Ansparen von Guthaben im Hinblick auf das Alter.
Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig, und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten. Sie lebt in Bern.