Kirchenbeschäftigte fordern Tarifverträge
Fabian Rehm. Lunapark21 – Heft 22
Die Bedeutung der Kirchen als Arbeitgeber im Sozial- und Gesundheitswesen ist kaum zu überschätzen. Mit mehr als einer Million abhängig Beschäftigten und Tausenden Einrichtungen sind sie nach dem öffentlichen Dienst der größte Arbeitgeber. Das Spektrum reicht von kleinen Kirchengemeinden mit nur einer Kita bis hin zum fünftgrößten Klinikkonzern, Agaplesion, mit mehr als einer Milliarde Euro Umsatz.
Für Beschäftigte sind die Probleme in den verschiedenen Einrichtungen mannigfaltig. Sie fangen bei der marktbeherrschenden Stellung der Kirchen an und reichen über die gesetzlichen Sonderrechte bis hin zur eigenen Form der Arbeitsrechtssetzung, dem sogenannten Dritten Weg. Als Ursachen dieser Probleme sind die unzureichende Trennung von Kirche und Staat zu nennen, sowie das mit dem Sozialstaat verbundene und zunehmend ausgeweitete „Subsidiaritätsprinzip“, wonach Sozialleistungen nicht vom Staat, sondern vorrangig durch Dritte (private oder freigemeinnützige Einrichtungen) zu erbringen sind.
Subsidiarität bedeutet in dem hier gegebenen Zusammenhang letztlich Privatisierung und Abbau des Sozialstaats. Obwohl die karitativen Einrichtungen der Kirchen meist zu hundert Prozent öffentlich finanziert werden – und nicht wie häufig angenommen durch die Kirchensteuer – rechnet sich die Fremdvergabe einer Kita durch die Kommune, da freigemeinnützige Träger höhere Landeszuschüsse erhalten. Mit der Fremdvergabe öffentlicher Aufgaben wird allerdings auch die Mitsprache aufgegeben.
Kirchliches „Selbstordnungsrecht“
Das eigene Arbeitsrecht der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände ist für diese ein wesentlicher Kostenvorteil. Die staatlicherseits zugestandenen Eigenheiten haben ihre Begründung in Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung, der in Art. 140 Grundgesetz übernommen wurde: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“ Aus dieser Formulierung lässt sich eigentlich keine rechtliche Sonderstellung ableiten. Dennoch finden weder das Lebenspartnerschaftsgesetz noch das Antidiskriminierungsgesetz oder das Betriebsverfassungsgesetz in den Kirchen Anwendung. Im Gegenteil: Nichteinstellungen wegen falscher oder fehlender Religionszugehörigkeit sind ebenso möglich wie Kündigungen aufgrund der Lebensführung – in der katholischen Kirche kann sogar eine künstliche Befruchtung eine Entlassung nach sich ziehen, da die Morallehre diese ablehnt. Die Einschränkung fundamentaler Grundrechte wird von weiten Teilen der Politik akzeptiert.
Ein zentraler Aspekt dieser „Kirchenautonomie“ ist die eigene Arbeitsrechtsgestaltung mittels des „Dritten Weges“. Diese Konstruktion beruht auf einer dem nationalsozialistischen „Gesetz zur Ordnung der Arbeit in Öffentlichen Verwaltungen und Betrieben“ entlehnten Wortschöpfung: der „Dienstgemeinschaft“. Bestehend aus Dienstgebenden und Dienstnehmenden kennt diese keinen Antagonismus von Arbeit und Kapital und folglich auch keinen Arbeitskampf. Entsprechend „konsensorientiert“ ist der Weg der Arbeitsrechtssetzung ausgestaltet.
„Kollektives Betteln“
Kernstück sind die „Arbeitsrechtlichen Kommissionen“ (ARK) in der evangelischen bzw. die „Kommissionen zur Ordnung des Arbeitsvertragsrechts“ (KODA) in der katholischen Kirche. Eine Kommission ist meist für eine Landeskirche oder ein Diakonisches Werk zuständig. Die paritätisch besetzenden Kommissionen werden arbeitnehmerseitig meist von Verbänden bzw. Gewerkschaften bzw. Mitarbeitervertretungen (MAV) besetzt.
Wird beispielsweise bei Lohnverhandlungen keine Einigung erzielt, können beide Seiten die Schlichtung anrufen. Ein etwaiger Spruch ist bindend. So erzielte Ergebnisse unterliegen im Gegensatz zu Tarifergebnissen keiner Rückkoppelung mit den Beschäftigten. Eine demokratische Entscheidung ist hier explizit nicht vorgesehen. Gegen die Arbeitgeber ist schon alleine aufgrund der vorgeblichen Parität kein Ergebnis zu erzielen. Zudem verringern die oftmals bestehende Fraktionierung des Beschäftigtenlagers sowie die mangelnden Druckmöglichkeiten die Durchsetzungsfähigkeit. Die Verhandlungen werden daher oftmals als „kollektives Betteln“ erlebt.
Offiziell kennt die Arbeitgeberseite keine eigenen Verbände, inoffiziell hat der Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (V3D oder VdDD) längst die Funktion eines Arbeitgeberverbandes angenommen. Der V3D verdeutlicht die Ungleichgewichte im „Dritten Weg“: Mit ca. 160 Mitgliedseinrichtungen und Konzernen bestimmt der V3D maßgeblich die Tarifpolitik der Diakonie und forciert die Entwicklung einer Unternehmensdiakonie. Hierzu zählt auch die Einflussnahme auf die formal unabhängigen Arbeitgebervertreter in den Kommissionen. Konkrete Ziele sind eine Flexibilisierung der Löhne, Differenzierung nach Branchen, Einsatz von Leiharbeit. Diesen vom V3D als „moderne Personalwirtschaft“ bezeichneten Methoden bedienen sich die Mitgliedsunternehmen exzessiv. Ausgründungen zum Zwecke der Lohnabsenkung, Aufspaltung von Belegschaften, Leih- und Zeitarbeit etc. sind an der Tagesordnung.
Gegen Konzerne wie den „knallharten Samariter“ (kma) Agaplesion ist auf Kirchenseite kein Kraut gewachsen. So hat beispielsweise das Verbot von Leiharbeit durch den Evangelischen Kirchengerichtshof mitnichten zu einem Ende dieser Beschäftigungsform geführt.
Willkür bei der Vergütung
Insbesondere im Bereich der Pflege zeigt die Diakonie in weiten Teilen keinerlei Interesse an einer Regelung im Sinne der Beschäftigten. Galt früher der Bundesangestellten-Tarifvertrag (BAT) als Leitwährung im Gesundheits- und Sozialwesen, haben insbesondere die Kirchen den Wechsel zum Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) nicht nachvollzogen. Stattdessen haben sie zahlreiche, regional stark differierende Vergütungsrichtlinien eingeführt, die insbesondere für untere Lohngruppen eine deutlich schlechtere Bezahlung vorsehen. Kirchlich-diakonische Vergütungen liegen deutlich unterhalb des TVöD und können nahezu beliebig gewählt werden. Agaplesion bezahlt beispielweise meist nach der KDAVO – nicht nur in deren eigentlichen Geltungsbereich Hessen-Nassau, sondern auch in Stuttgart, Heidelberg oder Berlin. Zudem gibt es weitere, zahllose Absenkungsmöglichkeiten. Erst von einigen Monaten wurde in Hessen-Nassau eine Kürzung der Löhne in der Altenpflege um bis zu 15 (!) Prozent ermöglicht. Das Lohndumping wird vom V3D explizit begrüßt, Mindestlöhne werden als „Wettbewerbsverzerrung“ diffamiert.
Dementsprechend hat der Vertreter der Diakonie gemeinsam mit privaten Anbietern einen höheren Mindestlohn in der Pflege verhindert. Dies ist aus zwei Gründen verwunderlich: Zum einen spricht sich die Kirche regelmäßig für existenzsichernde Löhne aus – das ist bei einem Stundenlohn von acht Euro im Osten, der ab 1. Juli dieses Jahres gilt, wohl kaum der Fall. Zum anderen würde sich die Konkurrenzsituation im Pflege- und Sozialbereich durch allgemein geltende Standards entschärfen. Ein höherer Mindestlohn würde den Druck von Tariflöhnen nehmen und wäre gleichzeitig ein Mittel gegen das ruinöse Lohndumping. Möglicherweise ist der verschärfte Wettbewerb aus Sicht der Diakonie aber gar kein Problem. Die stattfindende Marktbereinigung durch das Verschwinden öffentlicher und tarifgebundener Anbieter bietet Chancen zur Gewinnung von Marktanteilen. Der „Dritte Weg“ ist hier definitiv ein Wettbewerbsvorteil. Zudem sind die Mitbestimmungsrechte der Mitarbeitervertretungen im Vergleich zum Betriebsverfassungsgesetz erheblich eingeschränkt, was ebenfalls die Kosten verringert.
Der Druck wächst
Doch die öffentliche Stimmung befindet sich im Umschwung: Die restriktive Auslegung katholischer Überzeugungen – wie zum Beispiel die Abweisung einer vergewaltigten Frau zwei katholischen Krankenhäusern in Köln – sowie eine weitgehende Marktförmigkeit der Diakonie lassen das Verständnis für die zugestanden Sonderrechte schwinden. Entscheidend für die Änderung der öffentlichen Wahrnehmung ist aber die zunehmende Aktivität der (insbesondere diakonischen) Beschäftigten. Seit 2009 versucht ver.di gemeinsam mit der Mehrzahl der Mitarbeitervertretungen einen Wechsel vom „Dritten Weg“ zu Tarifverträgen zu forcieren. „Anlassbezogene Ausstiege“ von Beschäftigtenvertretern aus den Arbeitsrechtlichen Kommissionen haben die Arbeitsrechtssetzung weitgehend delegitimiert.
Zugleich steigt die Zahl öffentlicher und betrieblicher Aktionen bis hin zu Streiks. Mitunter haben die Arbeitsniederlegungen handfeste Erfolge: In Hamburg, Oldenburg und Hannover konnten bereits Tarifverträge erkämpft werden und in Niedersachsen wurde die Verhandlung eines Tarifvertrages für die komplette Diakonie ab April 2014 vereinbart. Somit scheint der „Dritte Weg“ zu bröckeln und die Möglichkeiten einer „verhandelten Transformation“ (Hermann Lührs) nimmt Gestalt an. An anderen Stellen können die Beschäftigten aber nur auf einen Bruch hoffen. Denn wo Profitmaximierung als ethisch gilt – so zitierte die Zeitschrift kma den früherer Agaplesion-Chef Bernd Weber im Mai 2011 mit den Worten „Wer keinen Gewinn anstrebt, handelt unethisch“ – helfen nur die klassischen Mittel der Arbeiterbewegung.
Ein weiteres Ergebnis haben die Streiks erreicht. Nach einer richtungsweisenden Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Hamm hat das Bundesarbeitsgericht jüngst über die Frage der Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen in kirchlichen Einrichtungen entschieden. Auch wenn die skizzierten Kriterien Streiks in der Diakonie weiterhin ermöglichen, hat ver.di Verfassungsbeschwerde eingelegt, da das BAG-Urteil u.a. die grundgesetzliche geschützte Koalitionsfreiheit fundamental einschränkt. Es bleibt also spannend.
Fabian Rehm lebt in Marburg und arbeitet als Gewerkschaftssekretär beim ver.di Landesfachbereich Gesundheit, Wohlfahrt, Soziale Dienste und Kirchen.
Literatur:
Eva Müller, Gott hat hohe Nebenkosten. Wer wirklich für die Kirchen zahlt, Köln, Kiepenheuer&Witsch 2013
Frank Bsirske/Ellen Paschke/Berno Schuckart-Witsch (Hrsg.), Streiks in Gottes Häusern. Protest, Bewegung, Alternativen in kirchlichen Betrieben, Hamburg, VSA 2013