Pharma.Macht.Krank

Zu Struktur und Wirken der Pharma-Konzerne
Winfried Wolf. Lunapark21 – Heft 22

Vom Pillendreher und Kurpfuscher zum Blockbuster-Hersteller und Pharma-Riesen ist zweifellos ein weiter Weg. Sicher ist jedoch: Die Pharma-Konzerne sind im gegenwärtigen Kapitalismus eine Weltmacht. Und diese Macht wurde ständig größer – und zwar absolut in Dollar-Euro-Yen und Schweizer Franken gemessen. Und vor allem auch relativ: als Anteil an der Weltökonomie.

Die weltweiten Ausgaben für Arzneimittel werden spätestens im Jahr 2014 die gigantische Summe von einer Billion US-Dollar übersteigen. Das sind 1000 Milliarden Dollar bzw. knapp 800 Milliarden Euro. Das ist das Doppelte dessen, was vor 20 Jahren ausgegeben wurde. Und das sind 50 Prozent mehr als das, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts – vor gut zehn Jahren – dafür gelöhnt wurde. Ähnlich die Situation in Deutschland: Im Jahr 2000 betrug der Arzneimittelumsatz 30 Milliarden Euro; 2012 waren es mehr als 40 Milliarden Euro. Nach der jüngsten – erstaunlich revidierten! – Statistik ist die Bevölkerungszahl in diesem Zeitraum sogar rückläufig.

Gewaltiger Markt
Dieser gewaltige Umsatz konzentriert sich weitgehend auf rund zwei Dutzend weltweit agierende Pharmakonzerne (siehe Tabelle 1). Wenn immer wieder behauptet wird, wir lebten in einer „Dienstleistungsgesellschaft“, so ist das eigentlich Unsinn. Diese „Dienstleistungen“, die damit angesprochen werden, gibt es seit Jahrhunderten. Richtig ist jedoch, dass seit wenigen Jahrzehnten Dienstleistungen, die früher zum „privaten Bereich“ (Haushalte; Frauenarbeit) oder zum öffentlichen Sektor zählten und die deshalb in der kapitalistischen Ökonomie und Statistik in der Regel nicht auftauchten oder nur am Rande Erwähnung fanden, nunmehr privatkapitalistisch organisiert, oft von großen Konzernen kontrolliert sind. Im Gesundheitssektor ist dies die neue „Gesundheitsindustrie“, sind dies die großen Krankenhausbetreiberkonzerne.

Spannend ist nun das Folgende: Pharma-Konzerne und die eben skizzierte „Gesundheitsindustrie“ (Krankenhausbetreiber usw,) waren noch vor gut einem Jahrzehnt in der Weltökonomie eine zu vernachlässigende Größe. In der Gruppe der 500 größten Konzerne („Global 500“) brachten sie es auf einen Anteil von knapp 3 Prozent; der innere Kern dieses Komplexes, die Pharma-Konzerne, hatte damals einen Global-500-Anteil von 1,9 Prozent. Im Jahr 2011 hat sich diese Struktur erheblich, ja fast radikal verändert. Das ist bereits rein absolut der Fall: Der Umsatz der Pharmakonzerne hat sich verdreifacht und derjenige der „Gesundheitsindustrie“ vervierfacht. Vor allem aber hat sich dabei das spezifische Gewicht dieses Komplexes Pharmakonzerne/ Gesundheitsindustrie von 2,8 Prozent im Jahr 1999 auf 5,2 Prozent 2011 knapp verdoppelt. (Siehe Grafik S. 39)

Vergleicht man in der Gruppe Global 500 die Pharma-Konzerne mit anderen Branchen, dann ergibt sich: Die Pharma-Konzerne bringen es inzwischen auf einen drei Mal so großen Umsatz wie die Chemie-Konzerne (unter den Global 500); der Pharma-Konzern-Umsatz erreicht bereits 40 Prozent des Umsatzes der Autokonzerne. Noch ausdrucksstärker: Die Profitsumme der 18 Pharmakonzerne, die zu den Global 500 zählen, macht 77 Prozent der Profitsumme der 38 Autokonzerne unter den Global 500 aus. Dabei wählte ich jetzt immer ausschließlich die Pharmakonzerne und klammerte noch die Krankenhausbetreiber-Unternehmen aus … Es handelt sich also wirklich um eine kapitale Weltmacht Pharma.

Kranke machen gesunden Profit
Da diese Pharma-Welt-Wirtschaft eine kapitalistisch verfasste ist, besteht das oberste Ziel des Wirtschaftens nicht darin, gute Arzneimittel herzustellen und die Gesundheit zu fördern, sondern darin, maximale Profite zu erzielen. Das kann durchaus darauf hinauslaufen, dass viele Krankheiten viel Gewinn bedeuten, dass die Gesundheitsindustrie vor allem profitiert vom Krankmachen oder vom Verdienen daran, dass die Menschen sich in der kapitalistischen Gesellschaft krank fühlen, dass sie krank gemacht werden und dass sie dauerhaft krank sind.
Auf die Frage „Investiert die Pharmaindustrie an der falschen Stelle?“, antwortete Professor Peter Sawicki, zum damaligen Zeitpunkt Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG): „Sie investiert nur dort, wo sie einen Return erwartet.“ Er verdeutlichte dabei, was dies praktisch bedeutet: „Ein großes Problem sind seltene Krankheiten. Ein Beispiel: Enzymdefekte bei Kleinkindern. Man kennt die Enzyme; man könnte sie ersetzen. Sie werden aber schlicht nicht hergestellt. Es lohnt sich nicht. Das Kind einer Freundin ist gestorben, obwohl man genau weiß, welches Enzym ihm fehlt. Aber das wird nicht hergestellt, es sind zu wenige Kinder. Mittel gegen Demenz dagegen wären super für den Gewinn. Das ist ein Riesenmarkt. Ihrer ethischen Verantwortung stellt sich die Pharmaindustrie nicht genügend.“[1]

Es lässt sich auch sagen: Gegen diese „ethische Verantwortung“ wird systematisch verstoßen. Greifen wir ein repräsentatives und höchst aussagekräftiges Beispiel heraus: die Antidepressiva. Vor vier Jahrzehnten gab es so gut wie keine Arzneimittel gegen Depressionen. Diese „Krankheit“ wird – zu Recht – als etwas angesehen, das systemische Ursachen hat und das nicht ausschließlich mit Chemie und Pharmaka behandelt werden kann. Doch im Jahr 2012 nehmen in Deutschland mehr als 400000 Menschen Arzneimittel gegen Depressionen ein. Das sind viermal mehr als vor einem Jahrzehnt. Die Medikamentengruppe Antidepressiva, darunter die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), mit den Medikament-Bezeichnungen Fluctin (auch bekannt als Prozak), Paxil, Fluvoxamin, Celexa, Zoloft, Fluoxetin u.a.m. – zählt zu den „Top Five“, zu den fünf am häufigsten verkauften Arzneimitteln. Allein in Deutschland beträgt der Umsatz mit dieser Arzneimittelgattung 700 Millionen Euro; weltweit sind es mehrere Milliarden Euro.

Und warum verfiel eine knappe halbe Million Deutsche in derart kurzer Zeit in tiefe Depressionen? Ist es Trauerarbeit aufgrund der nicht allzu üppig „blühenden Landschaften“ in Ost & West? Sind dies die Resultate der Massenerwerbslosigkeit? Einiges spricht dafür, dass diese Mittel mit Marktgewalt und Betrug in den Markt gedrückt wurden. Oder in den Worten von John Goetz und Christian Fuchs, die Anfang 2013 für den Norddeutschen Rundfunk und die Süddeutsche Zeitung eine entsprechende Recherchearbeit erstellt hatten: „Die Methoden (zur Durchsetzung des Antidepressivums Fluctin; W.W.) erinnern an die eines Geheimdienstes im Kalten Krieg: täuschen, manipulieren, lügen.“[2]

Nach Geheimdienst-Art
Dieser kalte und heiße Krieg fand auf den folgenden drei Ebenen statt:
Es gab eine direkte Beeinflussung der Kommission, die für die Zulassung des ersten wichtigen Antidepressivums zuständig war, durch den Hersteller. Eines der ersten Antidepressiva von Bedeutung mit der Bezeichnung Fluctin wurde vom US-Pharmakonzern Eli Lilly Anfang der 1980er Jahre entwickelt. Das Bundesgesundheitsamt der damaligen Bundesrepublik Deutschland lehnte 1984 eine Zulassung mit der Formulierung ab: „Unter Berücksichtigung des Nutzens und Risikos halten wir dieses Präparat zur Behandlung der Depression für völlig ungeeignet.“ Eigentlich eine klare Ansage und Absage. Fünf Jahre später erteilte die gleiche Behörde die uneingeschränkte Zulassung. Was war passiert? Im Vorfeld, am 21. August 1989, hatte die „Kommission A“, das wichtige Beratergremium des Bundesgesundheitsamts, eine Zulassung befürwortet – einstimmig.

Inzwischen weiß man: Eli Lilly hatte Mitte der 1980er Jahre, nach der zitierten Ablehnung einer Zulassung, einen „action plan“ entwickelt und dabei u.a. „mit allen wichtigen Meinungsführern der Kommission Treffen“ durchgeführt. Dokumentiert ist, dass zumindest zwei Kommissionsmitglieder in Kontakt mit dem Pharmakonzern standen. Einer wirkte sogar als Informant für Eli Lilly; der Vergleich mit „Geheimdienstaktivitäten“ trifft zu: Das, was der NDR-ARD-Film über das Kommissionsmitglied Hartmut Lode berichtet, entspricht den Aktivitäten, wie sie für einen Stasi- oder Verfassungsschutz-IM typisch sind.
Dabei ist genau dies laut Geschäftsordnung des Bundesgesundheitsamtes verboten. Der damalige – für das Verfahren besonders wichtige – Berichterstatter für Antidepressiva, Professor Hans-Jürgen Möller, hatte, so die Süddeutsche Zeitung, 1989 „keine Geschäftsverbindung mit Eli Lilly“. Heute gibt er unter dem Punkt ´Interessenskonflikt´ preis, dass er oder sein Institut auch Geld von Eli Lilly erhalten hat. Außerdem sei er Berater und Referent des US-Konzern.“

Der Pharmahersteller flutete Fachleute und Fachzeitschriften mit von ihm in Auftrag gegebenen pro-Fluctin-Studien. Teil des „action plan“ von Eli Lilly war es, die „Kommission A“ mit Hilfe von neuen, positiven Studien von der Sinnhaftigkeit und Risikolosigkeit einer Fluctin-Zulassung zu überzeugen. So gab Eli Lilly nach der Zulassungs-Ablehnung eine Studie bei einem deutschen „opinion leader“ in Auftrag. Professor Otto Benkert, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Universität Mainz, präsentierte 1989 das Ergebnis. Darin heißt es schlicht, Fluctin sei „ein segensreiches Antidepressivum“. Es gebe „nur wenig Nebenwirkungen von untergeordneter Schwere.“ Letzterer Verweis ist besonders hervorzuheben, denn…

… systematisch verschwiegen wurde bei den öffentlichen Informationen und später auf den Hinweisen der Packungsbeilagen die erhöhte Selbstmordgefahr, die mit diesem Antidepressivum und mit anderen SSRI-Medikamenten verbunden ist. Bereits in einer frühen Studie zur Wirkungsweise des „Stimmungaufhellers“ Fluctin war festgehalten worden, dass 16 von den 1427 Probanten – den Versuchspersonen, die das Medikament einnahmen – während der Therapie versucht hatten, sich umzubringen, zwei mit Erfolg. Dabei waren selbstmordgefährdete Patientinnen und Patienten von vornherein von der Studie ausgeschlossen worden.
In der erwähnten Recherche-Arbeit werden einzelne Selbstmorde, zu denen es später kam, dokumentiert. Dabei heißt es mit Verweis auf das Antidepressivum Zoloft des US-Pharmakonzerns Pfizer: „Wie jetzt bekannt wurde, lagern in den Aktenschränken von Pfizer etliche Hundert Berichte von Fällen in Deutschland, in denen Ärzte einen Zusammenhang zwischen versuchten Selbstmorden sowie Suiziden und der Einnahme von Zoloft vermuten. Weltweit geht es um Tausende Fälle.“[3] Im April 2005 sieht sich die Europäische Arzneimittelagentur, zugleich die europäische Zulassungsbehörde, veranlasst, vor Selbstmordrisiken der SSRI-Tabletten zu warnen; vor allem Patienten unter 25 Jahren sollten damit nur mit äußerster Vorsicht und unter ständiger Aufsicht behandelt werden. 1997 empfahl die deutsche Zulassungsbehörde dem US-Konzern Pfizer, im Zoloft-Beipackzettel auf die Gefahr möglichen selbstmörderischen Verhaltens hinzuweisen. Pfizer antworte aus guten Gründen, ein solcher Hinweis „verunsichere“ die Patienten nur. Inzwischen – nach einem in der Recherche dokumentierten Selbstmord – wurde Pfizer gezwungen, eine entsprechende Warnung in die Packungsbeilage aufzunehmen.

Gewalt im Markt
In den USA wiederum gibt es gewichtige Hinweise darauf, dass Antidepressiva nicht nur den Selbsthass, sondern auch aggressives Verhalten gegenüber anderen Menschen fördern.
Im Zusammenhang mit einem Massenmord im Jahr 1989 – ein gewisser Joseph Wesbecker, der mit dem Antidepressivum Fluoxetin behandelt worden war, tötete acht Menschen mit einer Kalaschnikow und dann sich selbst – kam die US-Medikamentenbehörde FDA (Food and Drug Administration) zur Feststellung, dass Antidepressiva ein derartiges „Aktivierungssyndrom“ auslösen können, das durch Panikattacken, Schlaflosigkeit und Aggressivität gekennzeichnet ist. Die aktuellen Fachinformationen zu Prozac in den USA enthalten inzwischen einen entsprechenden Hinweis. Dort werden die Angehörigen inzwischen sogar aufgefordert, auf derartige Verhaltensänderungen zu achten, obwohl ein kausaler Zusammenhang mit der Einnahme von Prozac laut Fachinformation nicht belegt sei. In den deutschen Fachinformationen findet sich ein derartiger Hinweis nicht.

Gleichwie: Das Antidepressiva-Business läuft längst gut, rund & global. Mit und ohne Hinweise auf Suizidgefahren und Aggressionsschübe im Kleingedruckten. Dazu trug auch bei, dass der deutsche Medikamentenmarkt, ähnlich wie derjenige in den USA, eine Art Leitmarktfunktion für die ganze Welt hat.

Anmerkungen:

[1] Interview in: Frankfurter Rundschau vom 5. Februar 2010. Der Mann verlor seinen Job 2010, ganz offensichtlich, weil er zu kritisch gegenüber den Pharmakonzernen war.

[2] John Goetz und Christian Fuchs, Die Pille zum Glück, in: Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2013; ARD-Sendung Gefährliche Glückspillen vom 18. Februar 2013.

[3] Goetz/Fuchs, Süddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2013.

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