Unsozial und ineffektiv

Das Gesundheitssystem muss dringend reformiert werden. Eine Bürgerversicherung wäre ein erster richtiger Schritt, aber nicht mehr.
Rainer Balcerowiak. Lunapark21 – Heft 22

Die Diagnose ist niederschmetternd: Das deutsche Gesundheitssystem ist unsozial und ineffektiv. Die oft beschworene Zwei- oder gar Drei-Klassen-Medizin ist längst Realität. Einer durch diverse „Reformen“ abgespeckten Grundversorgung seitens der gesetzlichen Kassen steht ein differenziertes System von privaten Voll- und Zusatzversicherungen gegenüber.

Die umfassende Implementierung „marktwirtschaftlicher Elemente“ hat zu absurden Formen der Fehl-, Unter- und Überversorgung geführt: Sinnlose, kostenintensive Mehrfachdiagnosen und Operationen auf der einen Seite, die Gefährdung der Grundversorgung in immer mehr Regionen sowie die Verweigerung von Leistungen wie Augengläser und Zahnersatz auf der anderen. Das System der freiberuflich tätigen Apotheker und Ärzte (in der ambulanten Versorgung) ist – besonders im Verbund mit der Pharmaindustrie – extrem korruptionsanfällig.

Jenseits von CDU/CSU, FDP und den vom System profitierenden Unternehmen, Berufs- und Lobbyistengruppen ist diese Diagnose sowie die Forderung nach Reformen weitgehend unumstritten. In Mittelpunkt steht dabei die so genannte Bürgerversicherung; ein Konzept, das unter anderem von der SPD, den Grünen, der Linken, den DGB-Gewerkschaften sowie von Sozialverbänden und kritischen Ärztegruppen unterstützt wird. Kerngedanke ist dabei die Ausweitung der Beitragserhebung auf alle Einkunftsarten. Damit würden nicht mehr wie bisher nur Abzüge vom Bruttolohn abhängig Beschäftigter in den Topf der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) fließen – auch der so genannte Arbeitgeberanteil ist Bestandteil des Lohns – sondern auch entsprechende Abgaben von Beamten, Selbständigen und Freiberuflern. Ferner sollen auch Gewinne aus Unternehmen, Mieteinnahmen und Kapitaleinkünfte einbezogen werden. Konsequent umgesetzt, würde eine derartige Bürgerversicherung der Privaten Krankenversicherung (PKV) die Existenzgrundlage entziehen und die Finanzierung der gesetzlichen Kassen nicht nur konsolidieren, sondern auch auf eine sozialere Grundlage stellen.

Bürgerversicherung greift zu kurz
Das wäre sicherlich ein erster wichtiger Schritt in Richtung eines solidarischen, einheitlichen Systems der Gesundheitsversorgung. Aber er reicht nicht aus. Denn die Frage der Verteilung der Gelder wird durch das Konzept der Bürgerversicherung nicht im Geringsten berührt. Derzeit gibt es in Deutschland 134 konkurrierende gesetzliche Krankenkassen mit insgesamt rund 70 Millionen Mitgliedern. Das sind exakt 133 zu viel, denn jede Kasse leistet sich aufwändige Apparate mit gut dotierten Vorständen und beträchtlichen Etats für Verwaltung und Werbung, was dem System horrende Summen entzieht. Der Wettbewerb funktioniert nach dem Prinzip der Rosinenpickerei: Umworben werden vor allem junge Gutverdiener mit sicheren Arbeitsplätzen, die man mit allerlei mehr oder weniger sinnvollen Zusatzleistungen zu ködern versucht.

Das macht weder volkswirtschaftlich noch gesundheitspolitisch Sinn. Um eine umfassende, einheitliche Gesundheitsversorgung zu organisieren, bedarf es – wenn überhaupt – nur einer Krankenkasse als Körperschaft öffentlichen Rechts. Jeder Versicherte hätte dann Zugang zu allen Leistungen, die medizinisch notwendig sind und dem wissenschaftlichen Stand entsprechen. Der Leistungskatalog müsste möglichst von unabhängigen Experten unter demokratischer Kontrolle permanent überprüft und weiterentwickelt werden. Ganz zu Ende gedacht, bräuchte es nicht einmal eine Krankenkasse, sondern eine Überführung dieser Aufgabe in die öffentliche Verwaltungen. Selbst eine komplette Abschaffung des Krankenversicherungssystems und die ausschließliche Finanzierung des Gesundheitswesens aus Steuermitteln sollte als Zukunftsoption nicht aus den Augen verloren werden.

Doch selbst wenn diese Herkulesaufgaben erledigt wären, bliebe eine gigantische Baustelle. Denn was nutzt eine ausreichende, solidarische Finanzierung der Gesundheitsversorgung, wenn auf der Seite der Leistungsanbieter private Gewinninteressen dominieren? Und das betrifft nicht nur die börsennotierten Klinik- und Pharmakonzerne, sondern auch die tragende Säule der ambulanten Versorgung. Die Rede ist von den frei praktizierenden Ärzten, die ihr einst von der NSDAP gesetzlich verankertes Monopol auf die ambulante medizinische Versorgung und das damit einhergehende Verbot öffentlicher ambulanter Polikliniken 1955 auch in der Bundesrepublik durchsetzen konnten. Die kassenärztlichen Vereinigungen verteilen in Eigenregie unter den niedergelassenen Ärzten Honorare auf der Basis anonymisierter Punktwerte für einzelne medizinische Leistungen. Eine effektive Kontrolle der tatsächlich erbrachten Leistungen ist faktisch nicht möglich.

Ärzte als Kleinunternehmer
Ein großer Teil der Gelder der gesetzlich Versicherten landet auf diese Weise bei gewinnorientierten Kleinunternehmern. Die haben zudem die Möglichkeit, ihre Einkünfte erheblich zu steigern, wenn sie viele Privatpatienten haben, denn die PKV vergütet die Leistungen deutlich höher als die GKV. Das führt zu erheblichen Verzerrungen: Während sich Ärzte einiger besonders lukrativer Fachrichtungen in gutbürgerlichen städtischen Gebieten mit entsprechender Klientel fast auf die Füße treten, herrschen in dünner besiedelten und ärmeren Teilen des Landes schon jetzt dramatische Versorgungsengpässe. Längst gehört es zum Alltag, dass GKV-Patienten manchmal monatelang auf einen Termin warten müssen, während Privatversicherte umgehend versorgt werden.

Hinzu kommt offensichtliche Korruption. Viele Ärzte lassen es sich von Pharmakonzernen gut bezahlen, dass sie bestimmte teure Medikamente verschreiben, obwohl diese keinen medizinischen Zusatznutzen gegenüber preiswerteren Arzneien haben. Die Zeche dafür zahlen die Versicherten. Der Bundesgerichtshof hat diese Praxis vor einem Jahr ausdrücklich für rechtens erklärt, da selbständige Ärzte weder Amtsträger noch Angestellte oder Beauftragte der Krankenkassen seien, und daher juristisch weder Untreue noch Korruption vorlägen. Dieser Freibrief gilt auch für die zahlenden Pharmaunternehmen.

Natürlich gibt es sehr viele freipraktizierende Ärzte mit hohem Berufsethos. Das ändert aber nichts daran, dass das gesamte System radikal umgestaltet werden müsste. Was spricht dagegen, die ambulante Versorgung in das öffentliche Gesundheitssystem zu integrieren und die dort tätigen Ärzte analog zu ihren Kollegen in den Kliniken anzustellen und qualifikations- und leistungsgerecht zu entlohnen?

Auch im Klinikbereich sollte es darum gehen, privatwirtschaftliche Interessen und Rechnungsweisen zurückzudrängen. Längst geht es in vielen Krankenhäusern nicht mehr um die bestmögliche umfassende Versorgung, sondern um möglichst viele besonders profiträchtige Behandlungen; eine Folge des Fallpauschalensystems (siehe „Kliniken in Not“ Seite 38ff).

Machtfaktor Pharmalobby
Nicht vergessen werden sollte natürlich die politisch exzellent vernetzte Pharmaindustrie, der es bis heute gelungen ist, jede ernsthafte Beschneidung ihrer horrenden Extraprofite bei patentgeschützten Medikamenten zu verhindern. Die entsprechenden Instrumente sind längst bekannt: So könnte eine so genannte Positivliste beschlossen werden, die bei Wirkstoff- bzw. Wirkungsgleichheit die Verschreibung preiswerterer Präparate vorschreibt. Doch der Pharmalobby ist es stets gelungen, politische Initiativen, die in diese Richtung zielten, zu Fall zu bringen.

Fassen wir zusammen: Die Instrumente für die Gewährleistung einer hochwertigen und effizienten medizinischen Versorgung aller in Deutschland lebenden Menschen sind bekannt. Die Finanzierung müsste solidarisch erfolgen, unter Einbeziehung aller Einkommensarten. Das System konkurrierender Krankenkassen gehört ebenso abgeschafft, wie das Monopol privatwirtschaftlich agierender Ärzte auf die ambulante Versorgung. Krankenhäuser gehören prinzipiell in öffentliche Trägerschaft und müssen bedarfsgerecht finanziert werden. Und schließlich muss die Pharmaindustrie endlich an die Leine gelegt werden. Alles eine Frage des politischen Willens – und der Machtverhältnisse.

Rainer Balcerowiak lebt und arbeitet als Journalist und Buchautor in Berlin und Wandlitz. Er schreibt u.a. regelmäßig im Neuen Deutschland sowie auf seinem Blog http://genuss-ist-notwehr.de

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