Kapitalismus mit Drehtüren

Branko Milanović sieht den Kapitalismus auf der Suche zu neuen Ufern

Der aktuelle Zusammenstoß zwischen kapitalistischen Großmächten wird immer wieder mit Begriffen des Kalten Kriegs beschrieben. Das Buch „Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht“ des Ökonomen Branko Milanović gibt die Möglichkeit, auch solche Verwerfungen in eine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung einzuordnen – und zwar so sehr, dass sie im Einzelnen gar nicht mehr erwähnt werden müssen.

Der Autor wurde 1953 in Belgrad geboren, studierte dort Ökonomie und promovierte 1987 über soziale Ungleichheit in Jugoslawien. Später war er leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Schwerpunkt seiner Untersuchungen blieb die Verteilungs-Ungleichheit.

Milanović unterscheidet zwei aktuelle Varianten des Kapitalismus: einen „liberalen meritokratischen“ und einen „politischen“. Beide haben jeweils ihre eigene Vorgeschichte. Heute gelte:

„Der wichtigste Vertreter des liberalen meritokratischen Kapitalismus sind die Vereinigten Staaten, der Vorreiter des politischen Kapitalismus ist China.“.

Die erste Variante entstand nach einer mehrhundertjährigen Geschichte, in der zunächst in Großbritannien, dann in anderen Gesellschaften ein „westlicher Entwicklungspfad“ beschritten worden sei. Mit der Industriellen Revolution des 18. und19. Jahrhunderts entstand der „Klassische Kapitalismus“, gekennzeichnet durch zunehmende Ungleichheit der Einkommen und, mit Einschränkungen, geringe soziale Mobilität. Im „Sozialdemokratischen Kapitalismus“ der USA und Westeuropas ab 1945 seien diese Merkmale modifiziert worden. Danach traten im „liberalen meritokratischen Kapitalismus“ wieder mehr Merkmale der ersten Phase hervor.

Die Terminologie zur Bezeichnung dieser jüngsten Phase ist kompliziert. Das Wort „meritokratisch“ bezeichnet den Selbstanspruch der Unternehmer im klassischen Kapitalismus: Durchsetzung der Tüchtigsten auf dem Markt, „liberal“ folgt dem US-amerikanischen Sprachgebrauch und meint das, was in Deutschland wohl eher als „sozialliberal“ bezeichnet wird. Dieses Element ist jetzt weitgehend zurückgedrängt, verschwindet aber nicht völlig. Gängiger ist der in diesem Buch nicht benutzte Terminus „Neoliberalismus“. Nunmehr habe sich die steuerpolitische Dämpfung von Einkommensunterschieden und Sozialtransfers weitgehend erschöpft. Ebenso wie Thomas Piketty sieht Milanovi ´ c in der zunehmenden Ungleichheit eine Gefahr. Er schlägt deshalb vor: „Wir sollten einen egalitären Kapitalismus mit einer annähernd gleichmäßigen Verteilung von Kapital und Fähigkeiten in der Bevölkerung anstreben.“ Eine durch politische Maßnahmen herbeigeführte „egalisierende Kapital- und Qualifikationsausstattung“ könne die Ungleichheit zwischen Arbeitsentgelten einerseits, Gewinnen aus Vermögen und aus selbständiger Erwerbstätigkeit andererseits zwar nicht beheben, aber dauerhaft mäßigen. Die Eingriffe zwecks Erreichung dieses Ziels – Kapitalstreuung, Bildungsinvestitionen bei gleichzeitiger Beibehaltung des Privateigentums an den wichtigsten Produktionsmitteln –, nennt er „protokommunistisch“. Gegenwärtig komme Taiwan dem von ihm genannten Ziel am nächsten.

Der „Westliche Entwicklungspfad“, von liberalen Theoretikern lange Zeit idealisiert, erfuhr seine Katastrophe laut Milanovi ´ c 1914. „Der Erste Weltkrieg brach nicht aus heiterem Himmel über die Menschheit herein; die Bedingungen um die Jahrhundertwende enthielten seinen Keim. Nach dem Ökonomen John Hobson (…) hatte der europäische Imperialismus – der schließlich in den Krieg münden sollte – seinen Ursprung in der vom globalisierten Kapitalismus erzeugten extremen Einkommens- und Vermögensungleichheit“. Danach bahnte sich eine Spaltung des bisherigen einheitlichen Kapitalismus an: neben dem klassischen und – ab 1945 – dem „sozialdemokratischen“ und schließlich dem „meritokratisch liberalen“ Typus entstand im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts der „politische“. Gemeint sind die – grob gesprochen – postsowjetischen Gesellschaften, insbesondere China seit den Reformen Deng Xiaopings 1978.

Paradoxerweise sei es der Leninsche Bolschewismus gewesen, der sie vorbereitete. Die sozialistische Revolution siegte nicht im Westen, sondern im Osten und erzwang eine beschleunigte Industrialisierung. Danach wurden diese Gesellschaften kapitalistisch. Dies sei die „welthistorische Rolle des Kommunismus“ gewesen, der mittlerweile „seine Funktion erfüllt hat und in der Zukunft der Menschheit wahrscheinlich keine Rolle mehr spielen wird. Er ist kein System für die Zukunft, sondern ein System der Vergangenheit“.

Die Frage, ob China ein kapitalistisches Land sei, bejaht der Autor aufgrund einer „Standarddefinition des Kapitalismus nach Marx und Weber. (…) Damit eine Gesellschaft als kapitalistisch bezeichnet werden kann, muss ein Großteil ihrer Produktion unter Einsatz privater Produktionsmittel (Kapital und Boden) erfolgen; die meisten Arbeitskräfte müssen Lohnarbeiter sein (die nicht gesetzlich an den Boden gebunden sind oder unter Einsatz ihres eigenen Kapitals selbständig beschäftigt sind); und die meisten Entscheidungen über Produktion und Preisgestaltung werden dezentral gefällt (das heißt, niemand zwingt sie den Unternehmen auf). Die chinesische Wirtschaft weist alle diese Merkmale auf.“ Aufgrund der privaten betriebs- und unternehmemswirtschaftlichen Unabhängigkeit spricht Milanovi ´ c nicht von Staats-, sondern von „politischem Kapitalismus“. Die Vokabel „politisch“ wird aufgrund des gesamtgesellschaftlichen makroökonomischen Machtmonopols der kommunistischen Partei benutzt. Dieses System sei durch drei Charakteristika gekennzeichnet: erstens die Organisation des gesamtgesellschaftlichen Wachstums durch die Bürokratie, zweitens Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit aufgrund des „Fehlens eines unabdingbaren Vorrangs des Gesetzes“. Beide Charakteristika erleichtern und beschleunigen die Durchsetzung von Entscheidungen. Hinzu kommt – drittens – die „Fähigkeit des Staates, sich an den nationalen Interessen zu orientieren (ein sehr merkantilistisches Merkmal) und den Privatsektor unter Kontrolle zu halten“. Es gebe zwei Widersprüche innerhalb des politischen Kapitalismus. Der erste bestehe zwischen dessen „Angewiesensein auf eine technokratische und hoch qualifizierte Elite und der Tatsache, dass diese Elite unter den Bedingungen einer selektiven Anwendung der Gesetze operieren muss. Beide Erfordernisse widersprechen einander: Eine technokratische Elite wird dafür ausgebildet, die Regeln zu befolgen und sich im Rahmen eines rationalen Systems zu bewegen. Aber die willkürliche Anwendung der Regeln untergräbt diese Prinzipien direkt.“ Zweitens widerspreche eine „endemische Korruption“, mit der die Mitglieder der Bürokratie sich Vorteile verschaffen, der „Notwendigkeit, die Ungleichheit unter Kontrolle zu halten, da sonst die Legitimität des Systems gefährdet wird.“ Der Gini-Koeffizient für die Verteilung von Vermögen und Einkommen weist für China eine tiefere Kluft zwischen Arm und Reich aus als für die Staaten des „meritokratischen liberalen Kapitalismus“. Im unteren Teil der Gesellschaft wird das hingenommen, so lange die Lebenslage sich dort dennoch bessert. Flacht das Wachstum ab, werden die Verteilungsspielräume enger. Das gilt für beide Varianten des gegenwärtigen Kapitalismus. Das „demokratische politische System“ des liberalen Kapitalismus gebe diesem mehr Möglichkeiten, Opposition der Benachteiligten zu integrieren. In beiden Varianten wächst beim Versuch, Wachstumseinbußen durch außenwirtschaftspolitische Aggressivität zu kompensieren, das internationale Konfliktpotential. Die Gefahr einer Wiederholung einer globalen Kriegskatastrophe sei „nicht verschwindend gering“.

Falls die Menschheit einen Atomkrieg überleben sollte, würde er „keineswegs alle technologischen Fortschritte der vergangenen Jahrhunderte zunichte machen“ Als Alternative zum liberalen meritokratischen und politischen Kapitalismus denkt er – in Anlehnung an die beiden US-amerikanischen Ökonomen Samuel Bowles und Herbert Gintis – an eine „Gesellschaft von Rentiers, die ihr Kapital an demokratisch organisierte Unternehmen vermieten oder verleihen“ und in der „die Arbeit das Kapital einsetzen würde statt umgekehrt.“ Es sei „nicht auszuschließen, dass sich die relative Stärke der Verhandlungspositionen von Arbeit und Kapital im 21. Jahrhundert ändern könnte (wenn mehr Kapital akkumuliert wird und das Wachstum der Weltbevölkerung zum Stillstand kommt) und dass ein demokratisch organisierter Arbeitsplatz eine Alternative zum liberalen und politischen Kapitalismus werden könnte.“ Dann sei nicht mehr klar, „ob wir eine solche Gesellschaft noch als ›kapitalistisch‹ bezeichnen können.“ Eine „weltweite Einkommenskonvergenz könnte auch die Gefahr eines katastrophalen globalen Krieges verringern.“

Ein „egalitärer Kapitalismus“ wäre von konkreten historischen Konstellationen abhängig: einem Überschuss anlagesuchenden Kapitals, der Knappheit von Arbeitskräften, starken Organisationen der Unterklassen. Dass ein solcher Wandel „bisher nicht stattgefunden hat, liegt nicht nur an der stärkeren Verhandlungsposition der Kapitaleigentümer (das heißt an der relativen Knappheit des Kapitals in Relation zum Angebot an Arbeitskräften), sondern auch daran, dass den Arbeitskräften die Koordinierung schwerfällt. Die Interessen einiger weniger Kapitalisten sind leichter zu koordinieren als die Tausender Arbeiter – auf diese Tatsache wies schon Adam Smith hin.“ Darüber hinaus wäre – ein Gedanke, der sich in diesem Buch nicht findet – ein „egalitärer Kapitalismus“ reversibel, sobald sich das Kräfteverhältnis wieder zugunsten des Kapitals änderte. Als historische Parallele könnte das Ende des „sozialdemokratischen Kapitalismus“ seit Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts gelten: Stagflation und beginnende Massenarbeitslosigkeit begünstigten einen erfolgreichen Strategiewechsel des Kapitals. Auf den Neoliberalismus muss nicht der „egalitäre Kapitalismus“ folgen, ihm kann auch ein autortäres Regime folgen, wenn Ungleichheit sich in rassistischen und nationalistischen Ressentiments entlädt.

So vermögen sich die drei von Milanović genannten aktuellen Typen des „Systems, das die Welt beherrscht“ einander immer wieder neu abzulösen. Der gegenwärtige Kapitalismus hat Drehtüren, die teils gut funktionieren, teils klemmen, teils blockiert sind. Niemals aber führen sie aus ihm hinaus.

Für Branko Milanović müsssen Probleme in diesem Rahmen gelöst werden, aber dies scheint ihm offenbar möglich. Naomi Kleins Alternative „Kapitalismus vs. Klima“ könnte er gewiss nichts abgewinnen. Ließe er sich darauf ein, würde er wohl bei seinem Paradigma bleiben: entweder Beibehaltung des großen Abstands von Oben und Unten bei gleichzeitiger Erweiterung der Verteilungsspielräume mittels Plünderung und Überlastung der Biosphäre oder Umweltsanierung und -schonung mit öffentlichen Mitteln, die den Reichen wegzusteuern wären.

Marxisten werden kritisieren, dass er nur die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums analysiert, nicht aber die Entstehung von Ungleichheit in der Produktionssphäre durch die Aneignung von Mehrwert.

Von einem solch gedanken- und faktenreichen Buch kann man zwar Vieles verlangen, aber nicht alles.