Ein Documenta-Besuch
Das Werk sei „auf politischen Druck hin“ abgehängt worden, kritisierte Documenta-Forums-Chef Jörg Sperling den Schritt. Es gehe in dieser Debatte um Politik, nicht um Kunst. Das Bild sei eine Karikatur und seiner Meinung nach von der Kunstfreiheit gedeckt. „Die Kunst hat ein Thema aufgebracht, das außerhalb der Kunst liegt: das Verhältnis von Palästinensern und Israelis. Dieses Problem kann die Kunst nicht lösen, das kann auch die Documenta nicht lösen.“
Forderungen, die ausgestellten Kunstwerke hätten vorab überprüft werden müssen, lehnte Sperling kategorisch ab. „Das wäre Zensur.“ Angesichts der Menge der ausgestellten Objekte an mehr als 30 Orten sei das zum einen nicht leistbar. Zum anderen widerspreche es der Idee der Documenta. Zwei Tage nach seiner Stellungnahme musste Sperling den Vorsitz des Documenta-Forums, dem 1972 gegründeten Freundeskreis der Documenta, abgeben.
Ich bin mir sicher, der egozentrische Joseph Beuys hätte zumindest um das leere Segment, dieses Stahlskelett über dem zuvor das Banner „People‘s Justice” hing, gekämpft. Darum gekämpft, es als Monument der Zerrissenheit, des repressiven Umgangs mit Kunst dort stehen zu lassen, wo jetzt rein gar nichts mehr war, als wir vom entlegenen modernistischen ICE-Halt kommend, nach sieben Straßenbahnhaltestellen endlich den Platz vor dem Museum erreichten. Fast haptisch erfahrbar, ein weiter sinnentleerter Platz gesäumt von Fressständen an der einen Seite und zwei kleinfenstrigen Abgabestationen für Rucksäcke und Großgepäck auf der anderen. In der Mitte vor dem Haupteingang zwei der Beuys-Eichen, denen man in diesem Hitzesommer einen fast nur noch mitleidig-skeptischen Blick ins dürre Blattwerk schenken mochte. Welch ein symbolischer erster Eindruck der Welt-Kunst-Schau, den auch der graffiti-verzierte klassizistische Säuleneingang des Fridericianums nicht erhellen konnte.
Fakt ist, mit der frühzeitigen Demontage des „People‘s Justice”-Aufmacher gelang auch eine erste Beschädigung des Grundsatzes der Kurator:innengruppe ruangrupa, ihre Sicht des globalen Südens offensiv in die Öffentlichkeit tragen zu können. „Der Skandal” überschattete alles. Grund genug sich bei einem documenta-Rückblick für Lunapark21 vorrangig auf Beispiele zu konzentrieren, die exemplarisch für diesen anderen, selbstbestimmten Ansatz der Kurator:innengruppe stehen:
St. Kunigundis
eine 1927 in Spannbeton-Bauweise errichtete Kirche im Kasseler Stadtteil Bettenhausen, in deren freigemachtem Innenraum nun eine Religionen-übergreifende künstlerische Installation mit haitianischem Vodoo und katholischer Opulenz eine kultische beziehungsweise spirituelle Weltperformance zu den großen Menschheits-Themen wie Tod, Liebe, Verrat, Verführung, Hass und Dämon gezeigt wurde. Irrational und weltlich zugleich und voller versteckter Überraschungen. Initiiert von Atis Rezistans (Künstler:innen des Widerstands) aus Port-au-Prince. Magisch.
Das Hallenbad-Ost
wurde zum „Badehaus” der Weltrevolutionen von Taring Padis Bilik Archiv, mit davor liegendem Schaugarten lebensgroßer Pappfiguren (Bilik interaktiv), die auf Workshops in Deutschland, Indonesien, den Niederlanden oder Australien mit Migrant:innen, Straßenkünstler:innen und Schüler:innen erarbeitet und bei Aktionen erprobt wurden. Sinnvolles Recycling und sinnhafte Umwidmung von Verpackungsmaterialien zu aufmunternden Demo-Eyecatchern. Welch eine Freude durch diesen kleinen inspirierenden Skulpturenpark zu wandeln, um sich dann dem Erlebnis im ehemaligen Hallenbad zuzuwenden, eines durch die Umwidmung zur Documenta-Halle vor dem Abriss geretteten Gebäudes im Bauhaus-Stil. Im Innern des Bades, die versammelten Großbanner und Demoelemente aus den vergangenen 22 Jahren. Objekte einer Kunst, die sich vor allem als „Katalysator sozialen Wandels” versteht und so gar nicht als dollarschweres Sammelobjekt.
Hervorheben möchte ich eine Arbeit, die sich in Stilistik und Bildsprache an die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution anlehnt und auf der linken Bildseite das gleichberechtigte Zusammenwirken aller Religionen beim Ringen um ein besseres Leben der arbeitenden Klassen aufzeigt. Und ja, diese großformatige und auch formal auffällige Arbeit fand in der zugespitzten medialen Erörterung keinerlei Beachtung.
Return to Sender
Auf dem langen Rückweg vom Bettenhausener Hallenbad-Ost zum Fridericianum gab es auf halber Strecke, auf den ehemaligen Flanierwiesen des Schlosses, wie als lost place einen in der Hitze kühl gebliebenen Unterstand. Eine Hütte – deren Wellblechdach auf „Mauern” aus Altkleider-Stoffballen ruhte – als Installation der kenianischen Gruppe Nest Collective aus Nairobi, um auf den abgelieferten Wahnsinn von jährlich etwa 150.000 Tonnen Altkleider hinzuweisen. Ein Import, der nicht nur die dortigen Müllberge vergrößert, sondern auch den Aufbau einer regionalen Textilindustrie verhindert, wie ein im Innern der Hütte gezeigtes Video erklärte. Es gehört zu den bizarren medialen Verrenkungen, dass gerade diese Hütte wegen ihrer pittoresken Anmutung zu den meist verwendeten Bilddokumenten über die Documenta gehörte.
Roma MoMA
Wenige Tage vor meinem Documenta-Besuch wurde in 3sat ein Dokumentarfilm von Peter Nestler über das selbstbewusste und widerständige Leben der Roma gezeigt – einer Minderheit zwischen Trauma und Selbstbehauptung, die die gesamte Nachkriegszeit hindurch bis in die Gegenwart hinein Gewalt und behördliche Schikanen erlitt und nur dank der Bürgerrechtsbewegung Anerkennung erfuhr. Im ersten Stock des Fridericianums gab es nun einen Einblick in die zugehörige vielfältige Kunst der Roma und ein extra dazu verfasstes Manifest der US-amerikanischen Soziologin Ethel Brooks mit dem Titel: KULTURERBE UND BILDUNG. „Woher wissen wir das? Unser Wissen – unser Romanipe – wurde über Generationen hinweg, über Zeit und Raum hinweg, durch Völkermord und unserer Geschichte hindurch weitergegeben. Unsere Körper, unsere Beziehungen, unsere Familien und unser tägliches Leben sind unser kulturelles Erbe: Wir teilen die Sprache, wir teilen die Arbeit, wir teilen die Art zu sein und die Art zu wissen, die Art zu verkörpern und die Art ein Zuhause zu schaffen. Unser kollektives Teilen ist unser Erbe …”
ruangrupa haben den Roma dafür den Raum geöffnet, wie sie auch ihre offiziellen Erklärungen in einem Hannoveraner Obdachlosenmagazin veröffentlichten, nicht als Werbegag sondern als Wertschätzung dieser Personengruppe und ihres kulturellen Ausdrucks.
„Unser Verständnis von Kunst hat viel mit der Frage zu tun, wie wir in unserem alltäglichen Leben auf politische, soziale und gesellschaftliche Herausforderungen reagieren. Wir versuchen Menschen und Künstler anzuregen, mit den historischen und sozialen Verhältnissen angemessen in Bildern, Plastiken, Installationen oder Projekten umzugehen. Nicht in Form einer Hierarchie, sondern in einem kollektiven Prozess, den wir im Lumbung-Prozess umgesetzt sehen. (…) die gesellschaftlichen Verhältnisse erzwingen es in unserem alltäglichen Leben, dass wir sowohl Künstler als auch Aktivisten sind.”
Dieses Credo umgesetzt und nicht nur erklärt zu haben, macht den besonderen Wert der Arbeit von ruangrupa und der nun schon wieder historischen Documenta 15 aus. Allen Verantwortlichen, die mithalfen, dieses Konzept auf den Weg zu bringen, gebührt großer Respekt.
Taring Padi
Das „Institut für bürgernahe Kultur Taring Padi” wurde 1998 von einer Gruppe progressiver Kunststudierenden und Aktivist:innen als Antwort auf die gesellschaftspolitischen Umwälzungen der indonesischen Reformasi-Ära gegründet. Zu Taring Padis Praxis kollektiver und individueller Kunstproduktion gehören Straßenproteste, Holzschnitt-Workshops, Kunstkarnevals und Ausstellungen an ungewöhnlichen Orten. Taring Padi zeigte auf der Documenta 15 Aktionskunst aus den vergangenen 22 Jahren.
Lumbung
lumbung ist das indonesische Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert wird. lumbung ist eine Praxis des Teilens, aber auch eine Form der Architektur, ein Gebäude, in dem nicht nur die Ernte gelagert wird, sondern der auch Wohnraum und Treffpunkt für alle ist. ruangrupa und die Künstler:innen widmeten den ersten Stock des Fridericianums ihrem lumbung.
ruangrupa
Erstmals kuratierte ein Künstlerkollektiv die Weltkunstausstellung. ruangrupa, ein im Kern zehnköpfiges Kollektiv aus Künstlerinnen, Künstlern und Kreativen aus dem indonesischen Jakarta wurde von der internationalen Findungskommission einstimmig zur Künstlerischen Leitung der Documenta 15 ausgewählt und vom Aufsichtsrat ernannt. Die achtköpfige Findungskommission begründete ihre Wahl wie folgt: „Wir ernennen ruangrupa, weil sie nachweislich in der Lage sind, vielfältige Zielgruppen – auch solche, die über ein reines Kunstpublikum hinausgehen – anzusprechen und lokales Engagement und Beteiligung herauszufordern. Ihr kuratorischer Ansatz fußt auf ein internationales Netzwerk von lokalen community-basierten Kunstorganisationen.” ruangrupa formulierte ihren Ansatz so: „Wenn die Documenta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der Documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzungen zu richten. Insbesondere solche, die ihren Ausgang im Kolonialismus, im Kapitalismus oder in patriarchalen Strukturen haben. Diesen möchten wir partnerschaftliche Modelle gegenüberstellen, die eine andere Sicht auf die Welt ermöglichen.“