Gnadenlos billig

Verlierer des historischen Strukturwandels im Einzelhandel sind die Beschäftigten
Jörn Boewe/Johannes Schulten. Lunapark21 – Heft 26

Wer wissen will, wohin sich der deutsche Einzelhandel entwickelt, sollte dieser Tage genau nach Ingolstadt und in den Großraum Bonn schauen. Dort ließ die Deutsche Post vor vielen Hauseingängen Paketboxen aufstellen. Der DHL-Bote, so die Idee der Post-Tochter, kann die Plastikkisten mit einem elektronischen Schlüssel öffnen und die Pakete deponieren, danach nimmt er die Retouren des Kunden wieder mit. Die Logistikbranche sucht nach Wegen, die Bestellflut übers Internet in den Griff bekommen.

Eigentlich sind DHL, GLS oder UPS die großen Gewinner des Internetbooms. Die Bewältigung der Millionen Sendungen täglich stößt allerdings an logistische Grenzen, besonders auf den letzten Metern vor der Wohnungstür: Wenn der Postbote klingelt, ist meist niemand da.

Der große Verlierer des Onlinebooms dürfte indes der traditionelle Einzelhandel sein – und mit ihm Millionen Beschäftigte. Seit praktisch alles vom Auto bis zur Wohnzimmercouch im Internet bestellt werden kann (und wird), sehen sich sowohl der stationäre als auch der klassische Versandhandel gefährdet. Ehemalige Branchenriesen wie Quelle oder Otto verschwinden bzw. werden bedeutungslos; Ketten wie Hugendubel oder Thalia, die vor zehn Jahren noch den gesamten Buchhandel in Angst und Schrecken versetzten, schließen reihenweise Filialen. Sogar Media Markt und Saturn arbeiten fieberhaft – und bislang erfolglos – an Onlineplattformen, um die Verluste im stationären Handel irgendwie zu kompensieren. Wer nicht online geht, so das Credo der Stunde, hat verloren.

Einer Erhebung des e-web Research Center der Hochschule Niederrhein zufolge wurde im vergangenen Jahr mehr als jeder vierte Euro für Medien, Tonträger sowie Computer und Zubehör online ausgegeben. Bei Büchern sollen es sogar 40 Prozent sein. Aktuell liegt der Onlineanteil am gesamten Non-Food-Einzelhandel bei neun Prozent, bis 2020 soll er auf über 20 Prozent ansteigen. Es erscheint keineswegs übertrieben, wenn Handelsexperten wie Jürgen Glaubitz von ver.di den e-commerce und seine Folgen als größte Veränderung „seit der Einführung der Selbstbedienung“ bezeichnen (siehe Grafik).

Tarifkonflikt der Zukunft
Die Folgen des Strukturwandels für die Beschäftigung sind immens. Internethändler brauchen keine Verkäuferinnen und Verkäufer, der Großteil der Arbeit fällt im Lager an. Deshalb sehen sich Amazon und Co. auch nicht als Einzelhändler, sondern als Logistiker. Folglich sind sie auch nicht im Interessenverband des Einzelhandels HDE organisiert; jedwede Verhandlung über eine entsprechende Tarifbindung wird verweigert. Für die Beschäftigten ist das ein Problem, denn die Unterschiede zwischen den Tarifverträgen sind gewaltig. Im Einzelhandel liegt die monatliche Vergütung zwischen 100 und 300 Euro pro Monat über der in der Transport- und Logistikbranche. Betroffen sind aber nicht nur die über 10.000 Beschäftigten der Amazon-Logistikzentren. Mit seiner enormen Marktmacht – fast jede vierte Onlinebestellung wird über den US-Konzern abgewickelt, bei Büchern sind es acht von zehn – setzt der Branchenführer den gesamten, ohnehin durch harten Wettbewerb gekennzeichneten Industriezweig unter erheblichen Kostendruck. Warum sollten sich Zalando und Co. bereit erklären, über den Tarifvertrag Einzelhandel zu verhandeln bzw. überhaupt Tarifverträge abzuschließen, wenn der größte Konkurrent es nicht tut?

Der im März 2011 begonnene Streik bei Amazon ist deshalb kein normaler Arbeitskampf. Es ist ein Tarifkonflikt über die Definitionsmacht. Verliert ver.di, droht der e-commerce-Sektor mit seinen Beschäftigten langfristig außerhalb des Tarifsystems zu verbleiben. Weil in ein paar Jahren der Großteil der Einzelhändler auch im Internet verkauft, wären die Folgen erheblich.

Verdrängungswettbewerb
Dabei ist das Internet nicht die einzige Veränderung, mit der die drei Millionen Einzelhandelsbeschäftigten zu kämpfen haben. Shopping Center und Discounter breiten sich aus, Supermärkte werden moderner und größer. Zu den Verlierern des Strukturwandels gehören mit Warenhäusern wie Karstadt und Hertie oder der Drogeriekette Schlecker ausgerechnet die Hochburgen gewerkschaftlicher Organisation. In den vergangenen fünf Jahren haben knapp zehn Einzelhandelsfirmen mit zusammen mehr als 80000 Beschäftigten Insolvenz angemeldet, darunter Max Bahr, Praktiker, Hertie, Quelle, Neckermann, Schlecker, Karstadt und Woolworth.

Stagnierende oder lange Zeit sogar fallende Reallöhne und der demographische Wandel lassen die Konsumausgaben seit einigen Jahren stagnieren. Der Wettbewerb wurde entsprechend härter. Viele Unternehmen halten dem nicht stand, was in den vergangenen Jahren enorme Konzentrationsprozesse in Gang setzte: 1990 kamen die Top 5 des Lebensmittelhandels auf einen gesamtdeutschen Marktanteil von 44,7 Prozent. Zehn Jahre später waren es bereits 62,1 Prozent. 2010 beherrschten sie 73,2 Prozent des deutschen Marktes. Die Situation des mittelständischen Einzelhandels verschlechtert sich demgegenüber stetig. 80 Prozent der (Klein-)Unternehmen erwirtschaften gerade einmal acht Prozent des Gesamtumsatzes.

Wer sich in diesem Rennen behaupten will, muss gnadenlos billig sein. Das geschieht zum einen, indem man mit seiner Marktmacht die Lieferanten auspresst, zum anderen die eigenen Angestellten. Für die drei Millionen Beschäftigten heißt es seit langem: Leistungsdruck, minimale Personalbesetzung und geringe Bezahlung. 1,2 Millionen Einzelhandelsbeschäftigte bezogen 2012 ein Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle. Der Anteil der Vollzeitstellen fiel zwischen 2000 und 2012 von über 52 auf rund 40 Prozent. Der Anteil der Minijobs stieg wiederum zwischen 1994 und 2009 von 15 Prozent auf 33 Prozent. Weil es nur wenige Betriebsräte gibt, ist das Gros der geringfügigen Beschäftigten nicht tarifgerecht eingruppiert.

Tarifflucht bei Edeka
War es lange den Discountern vorbehalten, das Prinzip Billig auch auf ihre Belegschaften anzuwenden, gehen inzwischen auch immer mehr Supermarktketten diesen Weg. Zum Beispiel die Edeka-Gruppe – mit 327900 Beschäftigten einer der größten privaten Arbeitgeber in Deutschland: Seit 2003 gliedert der genossenschaftlich organisierte Konzern in großem Stil Märkte aus. Nach Schätzungen des Berliner Einzelhandelsforschers Bert Warich, der die Ausgliederungen von Edeka für die Hans-Böckler-Stiftung untersuchte, handelt es sich bisher um 1200 Märkte mit rund 50000 Beschäftigten.

Edeka begründet diese „Privatisierungen“ mit einer Rückbesinnung auf das ursprüngliche Firmenkonzept der Einkaufsgenossenschaft. Für die Beschäftigten bedeuten sie aber in den meisten Fällen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Einmal raus aus dem Konzern fallen die Märkte häufig nicht mehr unter den Tarifvertrag. Im selbständigen Einzelhandel von Edeka liegt der Anteil der Super- und Verbrauchermärkte mit Betriebsrat nur bei etwa einem Prozent, vielfach komme es durch Tarifflucht der selbständigen Kaufleute zu Lohndumping. Das liege auch daran, dass zahlreiche Eigentümer Betriebsräte ablehnten und im Extremfall die Gründung von betrieblichen Vertretungen behinderten, so Warich.

Immerhin hat ver.di in der letztjährigen Tarifrunde des Einzelhandels und bei Amazon gezeigt, dass die Gewerkschaft mobilisieren kann. Der Konflikt bei Amazon hat sich aber offensichtlich festgefahren. Der Ausgang dürfte für die Zukunft der Branche in jedem Fall wegweisend sein.

Jörn Boewe und Johannes Schulten betreiben gemeinsam das Berliner Journalistenbüro work in progress: work-in-progress-journalisten.blogspot.com

Literatur:
Glaubitz, Jürgen (2011): Auf allen Kanälen: Handel 2020 Fakten, Trends, Potenziale. Eine Analyse zur Entwicklung im deutschen Einzelhandel. ver.di Bildung und Beratung GmbH, Düsseldorf. · Warich, Bert (2011): Umstrukturierung im Lebensmitteleinzelhandel am Beispiel der Handelskonzerne REWE und EDEKA. Auswirkungen auf die Mitbestimmung und Arbeitsbedingungen, Arbeitspapier 228 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf. · Voss-Dahm, Dorothea (2009): Über die Stabilität sozialer Ungleichheit im Betrieb. Verkaufsarbeit im Einzelhandel, Berlin.