Hintergründe der Tarifauseinandersetzung bei Amazon
Angela Bankert. Lunapark21 – Heft 26
Bei Amazon ist schon der Firmenname Programm. Unternehmensgründer Jeff Bezos – mittlerweile auf Platz 19 der Forbes Reichen-Liste – hat ihn vom größten Fluss der Welt, dem Amazonas, abgeleitet. Er will das weltgrößte Online-Kaufhaus aufbauen. Wo es nichts gibt, was es nicht gibt. Bereits heute ist der US-Konzern mit Hauptquartier in Seattle der größte Onlinehändler weltweit. Von Tierfutter und Tablets über Cloud Computing bis zu eigenen Buchverlagen und Filmproduktionen ist alles im Angebot.
Im vergangenen Jahr steigerte Amazon seinen Umsatz weltweit um satte 22 Prozent – auf rund 56,06 Milliarden Euro, erwirtschaftet von rund 120000 Beschäftigten in knapp 100 Niederlassungen in einem Dutzend Länder. Der Umsatz in Deutschland, dem zweitgrößten Amazon-Markt nach den USA, wuchs 2013 um 20 Prozent, von 6,5 auf 7,8 Milliarden Euro. Die nächstgrößten deutschen Versandhändler Otto und Zalando bringen es gerade auf 2,2 bzw. 1,8 Milliarden. Ein Drittel des Geschäfts wird als Dienstleistung für andere Händler abgewickelt. Darin liegt enormes Erpressungspotenzial, wie die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Amazon und Buchverlagen um höhere Rabatte zeigen. Damit beherrscht Amazon ein Viertel des deutschen Webhandels, in einigen Segmenten deutlich mehr – bei Büchern und CDs zum Beispiel bis zu 80 Prozent.
In welches Land Amazon auch vorgestoßen ist, sehr rasch hatte das Unternehmen durch seine aggressive Expansionsstrategie die Nase vorn. Lediglich in China und Japan gibt es mit der Onlineplattformen Alibaba und Rakuten erfolgreichere Konkurrenz.
Bei einem globalen Umsatz von 75 Milliarden Dollar (56 Milliarden Euro) in 2013 ist der Gewinn mit 345 Millionen Dollar eher mager. In manchen Quartalen wurden gar Verluste eingefahren. Trotzdem kannte die Aktie jahrelang nur eine Richtung: nach oben. Erst in letzter Zeit kommen manchen Aktionären offenbar Zweifel, ob und wann sie jemals Dividenden einstreichen. Das Amazon-Papier fiel vom Höchststand 408 Dollar (299 Euro) auf zeitweilig 262 Dollar (192 Euro).
Die ersten deutschen Versandhandelszentren in Bad Hersfeld und Leipzig betreibt Amazon seit 2001 bzw. 2006. In den vergangenen drei Jahren kamen mit Graben bei Augsburg, Rheinberg und Werne in Nordrhein-Westfalen, Pforzheim, Koblenz und Brieselang bei Berlin Schlag auf Schlag sechs weitere Standorte hinzu. Jeder Standort ist formal als eigenständige GmbH organisiert, man sei angeblich kein Konzern. Die Muttergesellschaft ist eine Holding in Luxemburg.
Infrastrukturleistungen der öffentlichen Hand werden gern eingestrichen. Steuerzahlungen fallen dagegen mager aus. Bei einem Umsatz von 6,5 Milliarden Euro im Jahr 2012 zahlte Amazon hierzulande nur 3,2 Millionen Euro Steuern. Im gleichen Jahr erhielt der Konzern laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion Wirtschaftsförderung in Höhe von mindestens rund 14 Millionen Euro, je zur Hälfte vom Bund und von zwei Bundesländern (BT-Drs. 17/12569). Darin sind kommunale Infrastrukturleistungen wie zum Beispiel eine Buslinie zum Werk in Koblenz noch gar nicht enthalten.
Arbeitsbedingungen
Amazon siedelt sich gezielt in strukturschwachen Regionen an, fegt dort den Arbeitsmarkt fast leer, vom Arbeitlosengeld-II-Bezieher über den 50-jährigen Langzeitarbeitslosen bis hin zum ehemaligen Selbständigen in Privatinsolvenz. Alle sind froh, eine Arbeit gefunden zu haben. Das Arbeitsamt hilft bei der Rekrutierung und gibt noch Eingliederungsbeihilfen obendrauf.
Die Masse der Beschäftigten wird grundsätzlich befristet eingestellt, oft mit Kettenbefristungen bis zu zwei Jahren. Deutschlandweit arbeiten um die 10000 Festangestellten bei Amazon, 6000 bis 7000 mit Befristungen. Zum Weihnachtsgeschäft verdoppelt sich die Belegschaft, mit Saisonbeschäftigten und Leiharbeitern. Immer wieder gibt es Stichtage, an denen ein Schwung Befristeter vor die Tür gesetzt wird. Im Amazon-Jargon heißt das „Ramp Down“. Die Betroffenen wissen bis zum letzten Tag nicht, ob sie dabei sind.
Alle Beschäftigten müssen „Amazonisch“ wie Vokabeln lernen. Sie sind nicht Warenverräumer, Packer oder Kommissionierer, sondern „Receiver“, „Stower“ und „Picker Packer“. Ihre Gruppenleiter sind „Leads“ und die Abteilungsleiter „Area Manager“. Amazon orientiert sich am Lohnniveau des regionalen Arbeitsmarkts und zahlt Einstieglöhne zwischen 9,55 und 10,10 Euro brutto pro Stunde. Hinzu kommen eine monatlich schwankende, geringe Bonuszahlung sowie nach zwei Jahren ein paar Unternehmensaktien.
Die Firmengelände haben üblicherweise eine Größe von 15 Fußballfeldern, sind eingezäunt und streng bewacht. Täglich müssen die Arbeiter wie am Flughafen durch Sicherheitsschleusen, vorher alles im Spind verstauen, inklusive Handy, Bonbons, Schmuck und Getränkeflaschen. Wasser bekommt man drinnen.
Mindestens ebenso ärgerlich wie die niedrigen Gehälter sind für die Amazon-Beschäftigten die teils rüden Umgangsformen des Managements und die Arbeitsbedingungen. Kilometerlange Laufwege sind zu bewältigen, bis zu 25 Kilometer bei den Pickern – an jedem Tag. In den geschlossenen Hallen ist die Luft oft schlecht und staubgesättigt. Im vergangenen Sommer fielen reihenweise Kollegen um. Die Pausenzeiten sind durch lange Wege reduziert.
Die Überwachung per Kameras und Handscanner ist fast total. Der Scanner sagt, wo Waren eingeräumt oder gepickt werden. Die Beschäftigten sollen akkordähnliche Vorgaben erfüllen, die laufend höher geschraubt werden, nicht mit Kollegen plaudern und nicht sitzen, auch wenn wenig zu tun ist. Ist man zu langsam oder hat fünf Minuten nichts gepickt, bekommt man eine Nachricht auf den Scanner: „Was ist los? Zum Leadplatz kommen.“
Trotz widriger Bedingungen haben viele Beschäftigte den Mut gefasst, sich gewerkschaftlich zu organisieren und aktiv zu werden, sei es bei Aktionstagen vorm Werk oder bei Streiks. Auch wenn noch keine Tarifbindung erreicht wurde, musste Amazon auf den gewerkschaftlichen und öffentlichen Druck reagieren: Seit ver.di-KollegInnen aktiv sind, gibt es von Zeit zu Zeit Lohnanpassungen, erhalten Leiharbeiter den gleichen Einstiegslohn. Klimaanlagen und dezentrale Pausenräume wurden eingebaut, erstmals in der Firmengeschichte ein bisschen Weihnachtsgeld gezahlt. Auch gibt es mittlerweile an allen Standorten Betriebsräte. Diese werden zwar von der Geschäftsleitung öffentlich als Sozialpartner gelobt. Tatsächlich verfährt man mit ihnen aber nach dem Motto: einerseits umarmen und pampern – andererseits Rechte erstmal ignorieren und warten, ob einer aufschreit.
Tarifkonflikt
Amazon Deutschland behauptet, das Unternehmen sei kein Händler, sondern Logistiker. Aber es zahlt auch keine Logistiktarife, sondern „orientiert“ sich nur daran. Mit dem Streit, ob das Unternehmen nun Händler oder Logistiker sei, lenkt Amazon davon ab, dass man gar keinen Tarifvertrag will – auch nicht den der Logistikbranche.
Gemessen an den Tarifverträgen des Einzel- und Versandhandels würden Beschäftigte durch die entsprechend höheren Löhne, Zuschläge, Urlaubs- und Weihnachtsgeld jährlich bis zu 9000 Euro mehr verdienen. Dies variiert regional; am Standort Koblenz bezahlt Amazon 9,90 Euro pro Stunde. Der Einstieglohn für Lagerarbeiter im Versandhandel Rheinland-Pfalz liegt dagegen bei 12,95 Euro.
Im Frühjahr hat ver.di-Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger das Management von Amazon Deutschland ein Spitzengespräch zur Lösung des Tarifkonflikts angeboten. Die Antwort ließ wochenlang auf sich warten und kam erst, nachdem am Standort Rheinberg über 800 Beschäftigte die Geschäftsführung per Unterschriftliste zu Gesprächen mit ver.di aufforderten.
Amazon lehnte im Antwortschreiben jedes Gespräch mit Gewerkschaften über eine Tarifbindung ab und machte damit deutlich: Es geht überhaupt nicht um die Frage, ob man Onlinehändler oder Nur-Logistiker sei. Der Konzern bezeichnet Gewerkschaften als „dritte Partei“ und will sie nach schlechter US-Tradition schlicht und ergreifend draußen halten, Löhne und Arbeitsbedingungen weiter einseitig nach Gusto festlegen.
Ver.di kann nicht zulassen, dass sich der Marktführer einer Tarifbindung verweigert. Dies würde eine Abwärtsspirale im gesamten Handel in Gang setzen. Tausende Amazon-Beschäftigte haben sich in den vergangenen Monaten in der Gewerkschaft organisiert. Die beiden ältesten Standorte Bad Hersfeld und Leipzig sind bereits mehrfach in Streik getreten. Es wird daran gearbeitet, auch die anderen Standorte aktions- und streikfähig zu machen. An drei Standorten hat die Gewerkschaft Organizing-Projekte aufgelegt. Die deutschlandweite Koordination und internationale Vernetzung mit Gewerkschaften in Frankreich, Polen und den USA wird auf- und ausgebaut.
Die Begleitung des Tarifkonflikts durch eine kritische Öffentlichkeit ist wichtig; auf Imageprobleme reagiert der Konzern höchst empfindlich. Ver.di ruft allerdings nicht zum Boykott von Amazon auf. Bei Bestellungen gibt es die Möglichkeit, im Kundenforum Produktrezensionen einzugeben, in denen man deutlich machen kann, dass man auch als Kunde an anständigen Arbeitsbedingungen und Tarifverträgen interessiert ist.
Angela Bankert ist Gewerkschaftssekretärin im ver.di-Fachbereich Handel für das Projekt Amazon Koblenz
Weitere Infos: http://amazon-verdi.de