Glücksspiele. Lexikon

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 29

Wenn jemand sagt, er (oder sie) wette 1000:1 – was ist damit gemeint?
Das einfachste Beispiel hierfür sieht so aus:

Der Wett-Teilnehmer A behauptet, ein bestimmtes Ereignis trete mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein, und verpflichtet sich zur Zahlung von 1000 Euro für den Fall, dass dies nicht zutrifft. Sein Gegner B spekuliert darauf, dass diese Prognose fehlschlägt. Da er sie aber ebenfalls für sehr realistisch hält, setzt er nur einen einzigen Euro dagegen. Beide Münzhaufen, also 1001 Euro, jeweils gekennzeichnet mit den Namen ihrer Besitzer, kommen in einen Hut, und die Glücksfee greift zu. Gewinnt A, bekommt er seine 1000 Euro zurück und außerdem noch den Euro von B, hat also nun 1001. Sein Einsatz hat sich mit 0,1 Prozent verzinst – Gewinn und Risiko sind gleich lächerlich klein. Umgekehrt ist es mit B: Kassiert er wider Erwarten die insgesamt 1001 Euro, hat er wenig gewagt, aber eine Gewinn von 100000 Prozent gemacht.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Wahrscheinlichkeiten nahm in Europa im 17. Jahrhundert einen Aufschwung, in dem auch die Glücksspiele sehr beliebt wurden. Den Hintergrund bildete eine bereits rund 200 Jahre alte Erfahrung: die Expeditionen nach Indien, Afrika und Amerika, bei denen zwar große Reichtümer gewonnen werden konnten, aber auch viel zu verlieren war – das Leben der Abenteurer sowie das Geld ihrer Finanziers. Der Einsatz der Letzteren mochte gar nicht so hoch sein, für Erstere war er viel Geld, mit dem sie in Europa verschuldet waren bis zu ihrer Rückkehr. Ihr Erfolg wurde an dem Reichtum an Schätzen gemessen, den sie zurückbrachten. In seinem Buch „Schulden“ erklärt David Graeber damit die ungeheure Grausamkeit der Konquistadoren. Sie wetteten 1:1000, aber die 1 stand für ihre ganze Existenz. Scheiterten sie, waren sie tot oder für immer ruiniert. Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ ist ein blutiges Drama (wenngleich mit Happy End): der Fernhändler Antonio wettet 1000:1. Sein Einsatz, den er an den Shylock (1:1000) zu verlieren droht, ist Fleisch aus seinem eigenen Körper.

Im Vergleich dazu wirkt der moderne Industriekapitalismus kalkulierbarer: Der Unternehmer wettet gegen sich selbst darauf, dass er sein investiertes Kapital wiederbekommt, und belohnt sich für dieses Risiko mit einem Profit. Den nimmt er nicht einem anderen Glücksspieler ab, sondern presst ihn als Mehrwert aus den Arbeiterinnen und Arbeitern heraus. Ähnlich kalkulierten schon vor der Industriellen Revolution reiche Leute, die Staatspapiere kauften. Die Zinsen wurden aus dem Steueraufkommen beglichen. Als zwischen 1688 und 1756 die „schwebende“ durch die „fundierte“ Staatsschuld ersetzt wurde, verzichteten sie im Grunde sogar auf die Rückzahlung: bei Fälligkeit wurde gleich eine neue Anleihe – in der Regel bei denselben Gläubigern – gegeben. Da diese annahmen, der Staat könne nie pleite gehen, waren die Papiere ihr sicheres Kapital mit berechenbarem Ertrag. Ähnlich verhielten sich einst Aktionäre („Rentiers“), wenn sie ihre Papiere lebenslang hielten und nicht mehr verkauften.

Es war ein Philosoph und Nicht-Ökonom, der darauf hinwies, dass der räuberische Konquistadoren-Kapitalismus auch im 20. Jahrhundert fortlebte. In seinen „Minima Moralia“ schrieb Theodor W. Adorno: „Es drängt der Gedanke sich auf, das deutsche Grauen sei etwas wie vorweggenommene Rache. Das Kreditsystem, in dem alles bevorschusst werden kann, selbst die Welteroberung, bestimmt auch die Aktionen, welche ihm und der gesamten Marktwirtschaft ihr Ende bereiten bis zum Selbstmord der Diktatur. In den Konzentrationslagern und Gaskammern wird gleichsam der Untergang Deutschlands diskontiert.“ An anderer Stelle im selben Buch bezeichnet Adorno die Blitzkrieg-Politik als „Hasard“. Die vermögenden Bürger, die 1914 Kriegsanleihen zeichneten, wetteten 1000:1 auf den deutschen Sieg und verkalkulierten sich. Hitler zog die Lehre daraus, 1:1000 zu setzen und mit verbrannter Erde und Millionen Menschenleben zu quittieren.

Gegenwärtig ist Hasard in das Geschäft mit Aktien und Staatsanleihen sogar in Friedenszeiten wieder eingezogen. Diese Papiere werden nicht wegen ihrer gesicherten Erträge von ihren Eigentümern auf lange Sicht gehalten, sondern spekulativ kurzfristig in der Hoffnung auf Kurssprünge erworben und weiterverkauft. Bei Staatsanleihen stehen die Zinsen in umgekehrtem Verhältnis zur Sicherheit des Papieres, also zur Wahrscheinlichkeit, dass die Schulden beglichen werden können. Ist letztere gering, stehen bei Unfähigkeit zur Rückzahlung ähnlich makabre Einsätze auf dem Spiel wie im „Kaufmann von Venedig“, nämlich die Infrastruktur ganzer Länder, die privatisiert und zum Verkauf angeboten werden muss. In der Vergangenheit konnten die Außenstände sogar gelegentlich militärisch eingetrieben werden, wie im Fall des wenig bekannten deutsch-venezolanischen Krieges von 1903, in dem das Reich zusammen mit Großbritannien und Italien Anleger, die sich verspekuliert hatten, per Kanonenboot-Politik vor Schaden zu bewahren versuchte.

In diesem Fall hatte sich die bewaffnete öffentliche Hand bereitgefunden, private Gläubiger herauszuhauen. Das geht auch zivil: Die freigebige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank seit 2012 verschafft Akteuren am Finanzmarkt Geld, um sich mit riskanten Papieren einzudecken, die sie, da die Kurse durch hohe Nachfrage steigen, mit Gewinn weiterveräußern können. Die Letzten, die am Ende auf solchen Papieren sitzen bleiben, können mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf wetten, dass ihr Risiko mit staatlicher Hilfe minimiert wird.

Sind die Würfel oder Karten auf diese Weise gezinkt, handelt es sich letztlich um kein Glücksspiel mehr, zu dessen Maximen ja gehört, dass der Zufall herrscht und nicht eine Manipulation von außen.

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