Merkantilismus. lexikon

Georg Fülberth. Lunapark21 – Heft 25

Historisch versteht man unter Merkantilismus die im 17. und 18. Jahrhundert in Europa vorherrschende Praxis, durch Förderung der Ausfuhr und Beschränkung der Einfuhr Handelsüberschüsse zu erzielen, die auf dem Weg über Steuern und Abgaben dem Staatshaushalt zugute kamen. Zu den Mitteln, die dabei eingesetzt wurden, gehörten Zölle und die Unterstützung einheimischer Industrien, in denen Güter erzeugt werden sollen, deren Einfuhr vermieden und deren Export erleichtert werden konnte. Einen Widerspruch enthielt diese Wirtschaftsstrategie insofern, als bei einer Verallgemeinerung der Zollpolitik Ausfuhren generell erschwert wurden. Im Ergebnis war die Außenpolitik der absolutistisch regierten Staaten – denn diese waren es, die merkantilistisch wirtschafteten – in der Regel aggressiv: durch Eroberungen konnte das Territorium, auf dem die eigenen Zölle galten, vergrößert und konnten die Zollmauern anderer Staaten niedergelegt werden. Die moderne politische Ökonomie seit Adam Smith entstand in der Auseinandersetzung mit dem Merkantilismus, dem der Freihandel entgegengestellt wurde. Letzterer ist seitdem herrschende Außenwirtschaftsdoktrin.

So weit zur Geschichte. Merkantilismus ist aber nicht nur ein historisches, sondern in gewisser Weise auch ein zeitloses Phänomen, das – scheinbar paradoxerweise – gerade aus seiner Negation, dem Freihandel und dem ungehinderten Wettbewerb, immer wieder entsteht. Zu diesem Ergebnis kann man kommen, wenn man die staatliche Ebene zunächst verlässt und sich auf die der Unternehmen begibt. Diese konkurrieren gegeneinander. Kann ein Unternehmen sich auf Dauer einen Wettbewerbsvorteil sichern, indem es das bessere, billigere und begehrtere Produkt anbietet, gewinnt es eine Monopolstellung.

Staaten werden ein Interesse daran haben, dass die Industrie in ihrem Land eine solche auch international dominierende Stellung einnimmt, jetzt allerdings nicht mehr aus handelspolitischen, wohl aber z.B. aus arbeitsmarktpolitischen Gründen und im historischen Vergleich unverändert auch deshalb, weil auf diese Weise die Steuereinnahmen hoch sein können. In der Doktrin des Freihandels versucht man dies durch eine Theorie der internationalen Arbeitsteilung zu vereinbaren: wenn jedes Land sich auf die Produktion derjenigen Güter spezialisiert, für deren Herstellung es die besten Voraussetzungen besitzt, sei Austausch möglich, bei dem es keine Verlierer gibt. Dieses Axiom verbindet das Gesetz der komparativen Kosten von David Ricardo (1817) mit einem Satz aus der Neujahrsansprache der deutschen Bundeskanzlerin 2013: „Wenn wir etwas können, was andere nicht können, dann erhalten und schaffen wir Wohlstand.“

Angesichts solcher Kontinuität mag es verwundern, dass weltweiter Freihandel noch nicht durchgesetzt ist, dass über zweihundert Jahre nach dem Tod von Adam Smith erst eine Welthandelsorganisation (WTO) gegründet wurde und dass diese in den nunmehr bald 20 Jahren ihrer Existenz bislang noch recht weit von der Erreichung ihrer Ziele entfernt ist.

Dies mag man mit historischen immer neu auftretenden Sonderereignissen – etwa Kriegen – erklären, die perfekten Freihandel von Fall zu Fall verhinderten. Dann muss allerdings an der Triftigkeit einer Theorie gezweifelt werden, die sich in der geschichtlichen Wirklichkeit nur begrenzt wiederfindet. Ricardo nahm als Modell seines Gesetzes der komparativen Kosten den Methuen-Vertrag von 1703: Wenn England sich auf die Produktion von Leinwand konzentriere, Portugal aber auf die Herstellung von Portwein, werde die Wohlfahrt in beiden Ländern gleichermaßen gefördert. Das Gegenteil trat ein: Großbritannien beherrschte lange Zeit den Weltmarkt, während Portugal zurück fiel. Eine Ursache war die unterschiedliche Arbeitsproduktivität: die mit geringen Kosten erzeugte Leinwand überschwemmte den portugiesischen Markt, verhinderte dort die Entwicklung einer eigenen Industrie und hielt das Land auf dem Status einer Agrargesellschaft, die allenfalls noch billige Arbeitskräfte anzubieten hatte. Gleichheit im Freihandel setzt Gleichheit der Voraussetzungen auf dem Gebiet der industriellen Entwicklung voraus. Bisher schwache Länder können erst konkurrenzfähig werden, wenn sie ihre Industrie zunächst vor Konkurrenz schützen, zum Beispiel durch Zölle. Wirklich fairem Freihandel ginge in diesem Fall seine zeitweilige Suspendierung voran, also eine klassisch merkantilistische Maßnahme.

Als Verstoß gegen die reine Lehre mag auch die Wiederkehr von Währungskriegen gelten. Wenn eine Zentralbank ihr Geld schwach hält, verbilligt sie die Ausfuhr und erschwert die Einfuhr — klassisch merkantilistisch. Einem solchen Kurs mögen oft tatsächlich handelspolitische Ziele zugrunde liegen (etwa im Fall Chinas), manchmal aber hat er vor allem konjunkturpolitische Ziele: Anreiz von Investitionen durch niedrige Zinsen und reichliche Geldschöpfung. Eine auf den Binnenmarkt gezielte Maßnahme hätte dann außenwirtschaftliche Auswirkungen, die den Freihandel nicht begünstigen.

Ähnliches gilt für eine ehrgeizige Bildungs- und Forschungspolitik, insbesondere wenn sie die naturwissenschaftlich-technischen Fächer fördert: sie kann mittelbar Produkt- und Prozessinnovation voranbringen und bedeutet also einen Wettbewerbsvorteil.

Noch ein Beispiel: In der Bundesrepublik stiegen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Reallöhne, aber sie blieben hinter der Arbeitsproduktivität zurück und ermöglichten dadurch Exportoffensiven. Die Agenda 2010 war der Versuch, diese Bedingungen beizubehalten.

Es ist wohl ähnlich wie mit dem Verhältnis von Plan und Markt: keines von beiden kann im Kapitalismus für sich allein bestehen. Dies gilt auch für den Freihandel und — offenen oder verdeckten — Merkantilismus.

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