Zypern ein Jahr nach dem Sündenfall
Hannes Hofbauer. Lunapark21 – Heft 26
Die Nacht zum Samstag, den 16. März 2013, hat Europa verändert. Brüssels offen vorgetragene Erpressung eines seiner schwächsten Mitgliedsländer, des nicht einmal territorial gefestigten Inselstaats Zypern, hat wirtschaftliche und politische Grundlagen der Europäischen Union über Bord geworfen. Unmittelbare Kapitalinteressen obsiegten über demokratische Mindeststandards und volkswirtschaftliche Vernunft. Ausnahmslos alle sozialen Schichten erlitten meist hohe Einkommensverluste, mit denen vor allem der Finanzsektor in den großen EU-Staaten gestärkt wird. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte bis 2016 um bis zu 30 Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosenquote hat sich bereits binnen Jahresfrist vervierfacht. Die vermeintliche finanz- und währungspolitische Rettungsaktion weist zudem im Ringen um die Insel als russische Offshore-Bastion eine geopolitische Dimension auf, die tiefe historische Wurzeln hat.
Nikosia, 16. März 2013. Zehn Stunden lang setzten die Finanzminister der Euro-Zone mit Rückendeckung der Europäischen Zentralbank und des IWF Nicos Anastasiades, der erst zwei Wochen zuvor in das Amt des zypriotischen Präsidenten gewählt worden war, unter Druck, bis seine Regierung klein beigab und einem sogenannten Rettungsplan zustimmte, der nach einer Modifikation zwei Wochen später den Bankenplatz Zypern auslöschte, das Land an die Kandare Brüssels und Washingtons legte und seine Bevölkerung für Jahre bluten lässt. Die von Nikosia benötigten Mittel für die Begleichung des Schuldendienstes und die Abwendung der Staatspleite waren mit 17 Milliarden Euro berechnet; die Troika aus IWF, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank war allerdings nur bereit, über 10 Milliarden zu reden. Jeder Cent mehr hätte zum Rückzug des IWF geführt, der es sich zwischenzeitlich zum Prinzip gemacht hatte, Kredite für marode Ländern nur dann zu gewähren, wenn deren Schuldenstand maximal 90 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betrug. 17 Milliarden Euro Kapitalbedarf wären rechnerisch 120 Prozent des BIP gleichgekommen. Die benötigen weiteren 7 Milliarden Euro musste Zypern also aus Eigenleistungen beisteuern. Dazu sollten 5,8 Milliarden unmittelbar aus allen Bankguthaben abgesaugt werden, der Rest über Privatisierungen hereinkommen. Wer unter 100000 Euro zur Verfügung hatte, dem wollten die Herren der Troika 6,75 Prozent davon wegsteuern, alle Beträge darüber sollten um 9,9 Prozent reduziert werden.
Es herrschte die blanke Erpressung. Eine Ablehnung hätte die sofortige Einstellung einer bereits im April 2012 gewährten Geldspritze für das zypriotische Bankensystem bedeutet. Die EZB drohte offen damit, dem zweitgrößten Geldinstitut des Landes, der Laiki-Bank, den Geldhahn zuzudrehen, was deren Schließung am darauffolgenden Montag bedeutet hätte. Zehn Tage später war es allerdings ohnehin soweit. Zwischenzeitlich wurden – mit sofortiger Wirkung ab 18. März – sämtliche elektronischen Finanztransaktionen gestoppt, die Banken blieben zwölf Tage lang geschlossen.
Während in Deutschland und anderswo im Euroland den durch die 2008er-Krise höchst beunruhigten Menschen versichert worden war, dass der Staat für eine Einlagenhöhe bis zu 100000 Euro garantieren würde, strafte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble im Verein mit seinem zypriotischen Kollegen Michalis Sarris das Versprechen Lügen. Seine Botschaft vom 16. März 2013 lautete: Die Rede von gesicherten Spareinlagen gilt nur bei schönem Wetter, in Krisenzeiten darf sie getrost vergessen werden. Mehr noch: Der große Tabubruch der Troika bestand darin, Spareinlagen per Beschluss eines von niemandem legitimierten Organs – der Troika eben – über Nacht als Bankenkapital zu definieren. Dieses wurde, so die Logik weiter, in zypriotischen Banken eben riskant angelegt, weswegen ein „Haircut“ notwendig sei. Der in Zypern dafür Verantwortliche, Finanzminister Michalis Sarris, hat diese bislang in Europa undenkbar gewesene Maßnahme politisch nicht lange überlebt. Nach ganzen 30 Tagen im Amt ist er am 2. April 2013 zurückgetreten.
„Wir haben es mit Entscheidungen zu tun gehabt, die bereits zuvor als fait accompli getroffen worden waren“, kommentierte der zypriotische Präsident Anastasiades seinen Kniefall vor der Troika und entschuldigte sich mit der Aussage, damit „noch Schlimmeres“ abgewehrt zu haben.[1] Weniger diplomatisch formulierte es der Chef der Handelskammer, Philokypros Andreou, in Anspielung auf die Teilung der Insel: „Wir fühlen uns so wie 1974, als die Türken einmarschiert sind, nur werden diesmal statt Waffen Finanzinstrumente eingesetzt.“[2]
Volk und Parlament erteilten dem „Rettungsplan“ vom 16. März eine Abfuhr. Massendemonstrationen über das Wochenende forderten die Ablehnung. Die Menge skandierte: „Wir wollen nicht die Sklaven des 21. Jahrhunderts sein“. In der Volksvertretung fand sich am 19. März 2013 kein einziger der 56 Abgeordneten, der der Zwangssteuer seine Zustimmung gegeben hätte. Beim Dreiergespann aus EU-Kommission, IWF und EZB machte dies keinen Eindruck. Weder die Straße noch das Parlament, so der Tenor, können den Vormarsch erzwungener Austerität aufhalten. Und so war es dann auch.
25. März 2013: Schicksal besiegelt
EZB, IWF und EU-Kommission erhöhten den Druck. Von Volksvertretern, so die Überzeugung des Triumvirats, könne man sich doch nicht vorschreiben lassen, auf welche Weise man einen Staat zu sanieren und die Bevölkerung daran zu beteiligen gedenke. Wenn Brüssel (EU-Kommission), Frankfurt (EZB) und Washington (IWF) jetzt klein beigäben, dann könnte morgen jedes andere Land auf demokratische Entscheidungen pochen. Dafür hatten die hohen Herren – mit Christine Lagarde als weibliche Ergänzung – nicht jahrelang den Aufbau internationaler Finanz- und Kapitalinstitutionen betrieben, um sich dies jetzt, im Angesicht der Krise, von gewählten Volksvertretern kaputt machen zu lassen. Folgerichtig schaltete die Troika einen Gang höher und beschleunigte das Erpressungsszenario. Am 21. März ließ EZB-Chef Mario Draghi ein weiteres Mal verlauten, den Kredithahn für Zypern und seine Banken zum 25. März abdrehen zu wollen, wenn nicht bis dahin die soziale und finanzielle Selbstkasteiung in der Höhe von 7 Milliarden Euro gewährleistet sei.
Tags darauf, am 22. März, trat das zypriotische Parlament erneut zusammen und stimmte einer „Restrukturierung“ der maroden Laiki-Bank und der Errichtung einer „Bad Bank“ zu, in die wertlose Papiere und Konten ausgelagert werden könnten. Dieses völlig unkonkrete Mandat der Volksvertreter genügte dem Dreigespann aus EU-Kommission, WZB und Weltbank, um Legitimität vorzutäuschen. Über das genaue Prozedere, wer welche Verluste zu tragen habe und wer seine Schäfchen ins Trockene retten könne, waltete fürderhin die Troika.
Am 25. März 2013 beknieten dann Barroso, Draghi und Lagarde gemeinsam mit EU-Ratspräsident Herman van Rompuy, der als Verstärkung aus Brüssel angereist war, bis spät in die Nacht Zyperns Präsident Nicos Anastasiades, bis dieser das große Bail-in, das „Hineinhauen“ in die Gruppe der Einlagebesitzer, akzeptierte. Das zweitgrößte Geldinstitut des Landes, die Laiki-Bank, wurde komplett geschlossen, nachdem man Einlagen mit weniger als 100000 Euro in die Bank of Cyprus transferiert hatte. Und bei der Bank of Cyprus, dem finanziellen Flaggschiff der Insel, blieben alle Guthaben über 100000 Euro eingefroren. Im Klartext: Jeder Konto- oder Sparbuchbesitzer der Laiki-Bank verlor sämtliche Einlagen über der 100000-Euro-Marke. Wer sein Geld bei der Bank of Cyprus deponiert hatte, dem wurden – wie sich später herausstellte – 47,5 Prozent seines Vermögens mit Ausnahme von 100000 Euro kassiert. Private waren davon genauso betroffen wie Unternehmen, Pensionskassen oder andere soziale Einrichtungen. Das Parlament durfte, so wollten es die Finanzmanager aus Brüssel, Frankfurt und Washington, dazu nicht mehr befragt werden, dessen höchst allgemeines Placet zur „Restrukturierung“ der Laiki-Bank vom 22. März musste genügen. Die Troika war zufrieden und die liberale Medienbegleitung war weitgehend gleichlautend wie jene in der Wiener Tageszeitung Die Presse: „Eine (nicht ausgesprochene) Grundvoraussetzung der internationalen Hilfstruppe scheint jedenfalls erfüllt zu sein: Dieses Mal kann das zypriotische Parlament nicht mehr dazwischenfunken, denn die Abgeordneten haben am Freitag (22. März, d. A.) die Rekonstruierung des Bankensektors bewilligt.“[3] Ein Monat später, am 30. April 2013, nachdem das große Kundenschröpfen passiert, die Laiki-Bank vom Markt genommen und die Bank of Cyprus unter Kuratel gestellt war, stimmte das Parlament dann doch noch über das längst in Kraft Getretene ab. Diese demokratische Farce endete 29 zu 27 für das Bail-in.
Bis heute: Kontoabhebungen begrenzt
In Zypern selbst war man fassungslos. So gut wie jeder hier hat mit den zwei größten Geldinstituten direkt oder indirekt zu tun gehabt. Fast 40 Prozent aller Einlagen des Landes wurden von Laiki oder Bank of Cyprus verwaltet. Mit Dienstag, dem 26. März 2013, war klar, dass bei der einen Bank 100 Prozent der Guthaben und bei der anderen fast 50 Prozent verloren waren. Die Schonung von kleinen Spareinlagen unter 100000 Euro, die ja im ersten Plan vom 16. März noch mit 6,75 Prozent „solidarbesteuert“ werden sollten, war für manche ein kleiner Trost, aber auch nicht mehr. Denn gleichzeitig wurden von der Troika auch Kapitalverkehrskontrollen vorgeschrieben. Diese verhinderten Kapitalflucht im großen Stil, trafen aber auch den viel zitierten kleinen Mann. Denn Abhebungen wurden auf 300 Euro pro Tag oder 3000 Euro pro Monat beschränkt, auch die Bankautomaten hielten sich an das enge Auszahlungskorsett. Ein Jahr später, im April 2014, galten die Kapitalverkehrskontrollen noch immer. Inzwischen liegt die Höchstsumme, die man von einem Konto an einem Tag abheben darf, bei 500 Euro (und monatlich bei 5000). Größere Anschaffungen oder gar Investitionen werden damit verunmöglicht. Der bekannte Ökonom Alexander Apostolides bezeichnet daher den 25. März als den Tag der großen Katastrophe für Zypern, was Auswirkungen für die Euro-Zone insgesamt habe. „Wir haben unsere Wettbewerbsfähigkeit auf dem Altar der Finanzstabilität geopfert“, fasst er zusammen.[4] Dem Wirtschaftsplan der Troika folgend sollen die Kapitalverkehrskontrollen mindestens bis in die zweite Jahreshälfte 2015 in Kraft bleiben.
Mit der Schließung der Laiki-Bank bzw. dem Einfrieren von zig Milliarden Euro auf der Bank of Cyprus war dem Bankenplatz Zypern von einem Tag auf den anderen die Geschäftsgrundlage entzogen.
Am 25. März 2013 schrumpften die gesamten Bankeinlagen innerhalb von 24 Stunden um mehr als die Hälfte.[5] Die Finanzplätze in London, Frankfurt und Luxemburg konnten zufrieden sein, ein unangenehmer Konkurrent war beseitigt.
Doch der Troika-Plan des EZB- und Goldman-Sachs-Mannes Draghi nahm nicht nur die zwei großen zypriotischen Banken vom Markt, sondern sorgte auch dafür, dass die bis dahin genossenschaftlich verwalteten Coop-Sparkassen notverstaatlicht wurden, um später privatisiert zu werden. Das nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete kooperative Volksbankensystem fungierte über Jahrzehnte als Sparkasse und Kreditinstitut für Landwirte und kleinere Gewerbetreibende und macht etwa ein Drittel des Bankenwesens der Insel aus. Die Mitglieder der Kooperative waren Eigentümer der Bank, jedes Mitglied besaß – egal, wie hoch die Einlagen oder Verbindlichkeiten waren – eine Stimme. Damit ist es nun vorbei. Im Zuge der 2008er Krise kamen auch die genossenschaftlich organisierten Coop-Banken ins Trudeln. Ein Kapital-Leck von 1,5 Milliarden Euro erzwang einen Sanierungsplan. Anders als bei der Laiki-Bank bestand allerdings die Troika darauf, die Coop-Banken herauszuhauen. Das Bail-out war dem Staat zugedacht, wofür er im Gegenzug die Eigentümerschaft übernahm. „Wir von AKEL kämpfen nun darum, eine geplante Privatisierung der Coop-Bank, die zigtausende Mitglieder hat, zu verhindern“, meint Bambos Papagiourgiou, seines Zeichens kommunistischer Abgeordneter und Mitglied des parlamentarischen Finanzausschusses.[6] Den Genossenschaftsmitgliedern soll die Möglichkeit gegeben werden, ihre Anteile wieder zurückzukaufen. Troika und die regierende konservativ-liberale DISY wollen davon allerdings nichts hören. Westeuropäische Investoren warten auf ein Schnäppchen wie dieses – sie werden sich eine solche Chance nicht entgehen lassen.
Sozioökonomische Auswirkungen
Von den knapp 67 Milliarden Euro, die vor dem Crash als Einlagen in zypriotischen Banken geführt wurden, können geschätzte 40 Prozent einheimischen Eigentümern zugeordnet werden. Den Rest teilten sich Griechen, Briten und Russen[7], wobei die Schätzungen, wieviel „russisches“ Geld in den Büchern stand, sehr divergieren. Das liegt auch daran, dass in den Statistiken zwar zwischen „resident“ und „foreigner“ unterschieden wird, viele „residents“ aber russischer Herkunft sind.
Realistischer wird der Überblick, wenn es um die durch die Bankschließungen und Einfrierungen blockierten Summen geht. Bei der Bank of Cyprus sind ein Jahr nach dem Bail-in – im April 2014 – noch immer 20 Milliarden Euro aus dem Verkehr gezogen. Freigegeben wurden 10 Prozent der Einlagen, 37,5 Prozent wurden zu Anteilen umdefiniert, die freilich nichts wert sind, und 52,5 Prozent bleiben blockiert.[8] Wir würden nicht im Kapitalismus leben, wenn sich rund um die teil-blockierten Konten nicht bereits ein eigener Markt entwickelt hätte.
Wer schnelles Geld braucht und nicht auf weitere, scheibchenweise Freigaben von Teilbeträgen warten kann, verkauft sein Konto im Wildwuchs der zypriotischen Krise. Abschläge von bis zu 75 Prozent der Einlagesumme müssen dabei in Kauf genommen werden.
Wie darf man sich nun die Verlierer dieses heftigen, von der Troika durchgesetzten Bail-in konkret vorstellen? Die Frage haben wir an linke und liberale Ökonomen gestellt. Interessanterweise waren ihre Antworten ziemlich ähnlich. Vom reichen Russen bis zum kleinen Pensionisten haben alle massiv verloren, während sich auf der Gewinnerseite nur ausländische Banken (wie z.B. auch die griechische Piräus-Bank) und Staatsanleihenbesitzer befinden.
Nehmen wir den Fall eines russischen Oligarchen, der mit seiner Familie seit zehn Jahren eine halbe Autostunde von Limassol entfernt auf einem Anwesen direkt an der Mittelmeerküste lebt, seine jüngere Tochter auf eine teure Privatschule schickt und ihrer älteren Schwester bei der Firmengründung hilft. Längst macht er nicht mehr Geschäfte nur in Russland, sondern ist auch in Zypern, insbesondere im Immobiliensektor, aktiv. Unser Russe hatte Anfang 2013 knapp 800 Millionen Euro in verschiedenen Anlageformen bei der Bank of Cyprus liegen. Davon waren am 26. März 2013 noch 100000 Euro gesichert. Vom großen Rest kann er 47,5 Prozent vergessen. Damit trägt er mit 400 Millionen (minus 100000) zum Bail-in bei; dies ist sein Obolus als Vorleistung für den Hilfskredit der Troika. Von den anderen 400 Millionen Euro wird ihm ein Teil als Anteil an der Bank of Cyprus gutgeschrieben bzw. – in Wahrheit – schlechtgeschrieben. Der ihm zugeschriebene Teil unterliegt strengen Kontrollen und wird scheibchenweise ausbezahlt. Unser neureicher Russe, den wir aus drei Erzählungen über konkrete Fälle kompiliert haben, ärgert sich freilich mächtig über die Granden der EU und des IWF, weiß aber auf der anderen Seite über das Zustandekommen seines Eigentums in den Jelzin-Jahren des Raub- und Plünderungskapitalismus. Er dürfte Zypern erhalten bleiben. Sollten die Zeiten wieder einmal besser werden, vielleicht in 15, 20 Jahren, wenn dereinst sein eben erst geborener Enkelsohn seinen Schulabschluss feiert, dann könnten seine heute wertlosen Anteile an der Bank of Cyprus dem Enkel vielleicht einen schönen Start ins Unternehmerleben sichern. In dem Fall hätte der Nachgeborene weiterhin mit in Zypern ansässigen Russen zu tun: Dem Vernehmen nach sind sie es, die über die Umwandlung von verlorenem Kapital in Anteile am Geldinstitut die Mehrheit an der Bank of Cyprus halten.
Oder sehen wir uns eine mittelständische Familie im Stadtteil Engomi in Nikosia an. Im Vertrauen auf die junge Generation haben Großvater und Großmutter ihr Erspartes dem im Berufsleben stehenden Sohn übergeben, auf dass er das Geld gut anlegen möge. Der hat sich Mitte 2011 von seinem Berater in der Laiki-Bank dazu überreden lassen, die Einlagen auf einem Kapitalsparbuch zu bündeln und auf zwei oder drei Jahre zu binden, damit am Ende der Laufzeit etwas mehr – konkret 0,5 Prozentpunkte mehr – Zinsen das Familienbudget erfreuen. Von den insgesamt 210000 Euro, die auf diese Weise angelegt sind, kann er 110000 vergessen. Die sind sein bzw. der Familie Tribut für die Auszahlung des Troika-Kredits. Im Nachhinein gesehen war es höchst unglücklich, die von den Familienmitgliedern gesparten Euro auf ein Sparbuch zu legen. Hätte er damals drei Sparbücher unter den drei Namen der Familie angelegt, wären die je 70000 Euro vom Troika-Deal nicht angefasst worden. Ähnlich wie der russische Oligarch hat die Familie aus Nikosia die Hälfte ihres Barvermögens verloren.
„Das Bail-in hat jeden getroffen“, meint AKEL-Abgeordneter Bambos Papagiourgiou. Obwohl nur 6 Prozent der Haushalte direkt Geld verloren haben, weil die meisten keine 100000 Euro auf dem Konto oder auf dem Sparbuch hatten, erwischte es doch jeden Einzelnen und jede Einzelne. „Auch ich selbst habe indirekt Geld verloren, und zwar über die Betriebspensionskasse der Universität. Für jeden Universitätsangestellten ergibt sich daraus ein Minus von geschätzten 25 Prozent der Rente.“[9] Die Pensionsfonds sind von den harten Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Ihre Konten wurden über das Bail-in leergeräumt. Allein damit sitzen alle Zyprioten auf die eine oder andere Art mit im sinkenden Boot. Wer sich – aus Gründen des Misstrauens gegenüber den bürokratischen Fonds oder weil er das Geld nötig gebraucht hatte – seine Pension beim Eintritt ins Rentenalter auf einmal ausbezahlen ließ, hatte oft mehr als 100000 Euro auf der hohen Kante – und nach dem 25. März 2013 um genau jene Summer weniger, die darüber lag.
„Der Druck der Troika hat Zypern dazu gezwungen, unsere staatlichen oder halbstaatlichen Betriebe im Elektrizitätswesen, bei der Telekommunikation und den Hafenanlagen zu verkaufen“, so der AKEL-Abgeordneter Papagiourgiou, der damit die Schuld an den geplanten Privatisierungen hauptsächlich der EU und dem IWF zuweist. Solange die kommunistische AKEL in der Regierung war, wehrte sie sich erfolgreich gegen den Ausverkauf und die „Gefahr der Monopolbildung“.
Seit Mitte 2013 flammt der Protest dagegen auch auf der Straße auf. Im Frühling 2014 schalteten kämpferische Arbeiter der Elektrizitätsgewerkschaft im Zweistundentakt die großen Kraftwerke im Süden des Landes ab. „Kein Verkauf des nationalen Besitzstandes“ und „Sie verkaufen die Kuh, um Milch zu kaufen“, so die Losungen der Demonstranten, die einen Sturm auf das Parlament in Nikosia, dem parallel dazu auch der Strom gekappt wurde, versuchten. „Auch ohne Strom und in der Dunkelheit müssen wir unsere Pflicht erfüllen“, gab daraufhin der liberale Abgeordnete Nicolas Papadopoulos gegenüber der deutschen Tagesschau[10] zu Protokoll, nicht ohne den Hinweis, dass ansonsten die Troika die nächste Tranche von 236 Millionen Euro zurückhalten würde. Ein Land im Würgegriff.
Schlagartig hat sich auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert. Wiesen die Statistiken für die Jahre vor 2013 Arbeitslosenraten rund um die 5-Prozent-Marke aus, so schnellte die Zahl bis Frühjahr 2014 auf 20 Prozent hoch. Viele der Menschen, die ihren Lohnarbeitsplatz verloren haben, können zudem ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen. Das zum einen deshalb, weil Teile ihres Vermögens blockiert sind und zum anderen schlicht wegen der ausbleibenden Löhne. Vor allem für Hypothekenkredite stellt dies ein Massenphänomen dar, mit dem auch die Banken alles andere als glücklich sind. Wenn laufende Zinsen nicht bezahlt werden können, stellt üblicher Weise der Hypothekarkreditgeber – also die Bank – den Kredit fällig und übernimmt im Falle der Uneinbringlichkeit die Immobilie. Wenn nun Tausende Hauskredite nicht bedient werden können, fallen ebenso viele bewohnte und teilweise abbezahlte Häuser an die Bank, womit sogleich – der schieren Menge wegen – deren Wert verfällt. Das Problem ist aus vielen Ländern bekannt, zuletzt aus Ungarn oder der Ukraine. In Zypern wird nun darüber diskutiert, den Menschen, die mit ihren Zinszahlungen im Rückstand sind, ein Mietrecht an ihrem Haus zu gewähren. Formal könnte dieses Procedere so ablaufen, dass der Staat in die Rechte des Hypothekarkreditnehmers eintritt und dann der darin wohnenden Familie die Miete vorschreibt. Weil aber das zypriotische Budget ohnedies schon mehr als belastet ist, soll diese Art von Hilfe nur für ausgewählte Fälle gelten. Der politische Streit darüber, wer sich als ein solcher ausgewählter Fall bezeichnen darf, ist voll entbrannt.[11]
BIP-Einbruch folgt erst noch
Welche makroökonomischen und betriebswirtschaftlichen Auswirkungen das Bail-in vom 25. März 2013 auf die Wirtschaftsstruktur und die Unternehmen Zyperns hat, das beschreibt der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Apostolides von der Europäischen Universität in Nikosia: „Die Eurogruppen-Entscheidung vom 25. März hat Zypern in eine tiefe Depression gestürzt.“ Wie tief, das wollen sich seiner Meinung nach vor allem die Verantwortlichen der Europäischen Union nicht eingestehen. „Die Europäische Kommission rechnet uns vor, dass das nominelle BIP für die drei Jahre (nach der Entscheidung, d. A.) kumuliert um 15 Prozent fallen wird, während der IWF schon im ersten Jahr mit einem Einbruch von 12 Prozent rechnet. Das Zentrum für Wirtschaftswissenschaft der University of Cyprus nimmt einen Einbruch von (kumuliert, d. A.) 30 Prozent für vier Jahre als wahrscheinlich an.“[12] Dazu kommt, dass der eigentliche Antrieb für die gesamte behauptete Sanierung des Inselstaats, nämlich die Reduktion der Staatsschulden, mitnichten zum gewünschten Erfolg führt. Die von allen Spezialisten – in unterschiedlicher Höhe – angenommene Rezession garantiert geradezu, dass das Ziel, die Schulden zu reduzieren, verfehlt werden muss. Eine Spirale nach unten hat sich in Gang gesetzt, zusätzlich verschärft durch Bedingungen der Troika, die dem Staat als wirtschaftlichem Akteur die Hände binden. So darf er zum Beispiel kein Geld aufnehmen, um wirtschafts- oder sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen. Was übliche Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF bei weitem übersteigt, ist, dass das Bail-in auch private Unternehmen ihres Handlungsspielraums beraubt hat. „Betriebe, die eine vorsichtige Finanzplanung während der Rezession des Jahres 2008 betrieben haben, d.h. Kosten gesenkt und Eigenkapital gestärkt haben, sehen sich nun plötzlich damit konfrontiert, dass ihre gesamten Eigenmittel über 100000 Euro in wertlose Anteile an einer maroden Bank umfunktioniert worden sind. (…) Die meisten großen Firmen und Pensionsfonds hat es erwischt.“[13]
Anders formuliert: Der mit dem Troika-Diktat herbeigeführte extreme Liquiditätsengpass hat den lokalen Markt zerstört.
Hannes Hofbauer lebt in Wien, ist dort als Verleger aktiv (Promedia) und ist Mitglied der Redaktion von Lunapark21. Hofbauer recherchierte im April auf Zypern. Im Herbst erscheint sein neues Buch Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter.
Anmerkungen:
[1] Cyprus Mail vom 17. März 2013.
[2] Die Presse vom 20. März 2013.
[3] Die Presse vom 26. März 2013.
[4] Gespräch mit Alexander Apostolides am 9. April 2014 in Nikosia.
[5] Gespräch mit Prodomos Prodromou am 14. April 2014 in Nikosia.
[6] Gespräch mit Bambos Papagiourgiou am 9. April 2014.
[7] Central Bank of Cyprus, Market Shares of Banks, Februar 2013.
[8] Alexander Apostolides, Beware of German gifts near their elections: How Cyprus got here and why it is currently more out than in the Eurozone, Nicosia 2013, S. 9.
[9] Gespräch mit Bambos Papagiourgiou am 9. April 2014 in Nikosia.
[10] Die Tagesschau vom 2. April 2014.
[11] Cyprus Mail vom 12. April 2014.
[12] Alexander Apostolides, Beware of German gifts near their elections: How Cyprus got here and why it is currently more out than in the Eurozone, Nicosia 2013, S. 3.
[13] Ebd., S. 8.